25. Jahrgang | Nummer 5 | 28. Februar 2022

Moskaus gordischer Knoten

von Wolfgang Schwarz

Wer einen Krieg beginnt,
sollte niemals glauben,
er könne dessen Entartung
und Konsequenzen kontrollieren.

Paul Kennedy

Als Moskau den USA und der NATO am 15. Dezember 2021 Vertragsentwürfe mit sicherheitspolitischen Forderungen (siehe Blättchen 4/2022) unterbreitet hat, mit deren Annahme es nicht im Ernst rechnen konnte, und dies mit dem ultimativen Verlangen verband, darüber nicht zu verhandeln, sondern die Dokumente gefälligst zu unterzeichnen, mag mancher sich gefragt haben: Und wenn das nicht klappt, was ist dann Putins Plan B?

Die implizite Ablehnung der russischen Forderungen durch USA und NATO erfolgte mit der Übergabe von deren schriftlichen Antworten an Moskau Ende Januar.

Und über „Putins Plan B“ muss seit dem Abend des 21. Februar 2022 nicht mehr gerätselt werden: Russland hat die von der Ukraine abtrünnigen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk völkerrechtlich anerkannt, mit ihnen im gleichen Atemzug Freundschafts- und Hilfsabkommen abgeschlossen, und der russische Präsident konnte ab sofort reguläre russische Streitkräfte anweisen, in beide Gebiete als „Friedenstruppen“ einzurücken.

Wer jetzt überdies annimmt, dass es gar keines Planes B bedurfte, weil das aktuelle russische Vorgehen Plan A war, für den die Ablehnung der Forderungen vom 15. Dezember 2021 nur das Vorspiel zu liefern hatte, der dürfte ziemlich richtig liegen. Vorgeführt werden sollte lediglich nochmals, dass der Westen nicht bereit ist, berechtigten russischen Sicherheitsinteressen Rechnung zu tragen. Darüber hinaus dürfte sich Moskau in den vergangenen Wochen in dieser Annahme mehrfach bestätigt gesehen haben – nicht zuletzt durch die diplomatischen Intermezzi des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz in Moskau, bei denen zwar stundenlang miteinander geredet wurde, jedoch ohne dass sich für Moskau Veranlassung zu der Erwartung ergeben hätte, die beiden Teilnehmer am sogenannten Normandie-Format könnten nun doch noch beginnen, auf Kiew ernsthaft Druck dahingehend auszuüben, seinen Verpflichtungen aus dem Minsk-II-Abkommen endlich nachzukommen und dem mit diesem Abkommen intendierten Friedensprozess in der Ostukraine Leben einzuhauchen. Andere westliche Akteure wie US-Präsident Joe Biden oder die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ganz zu schweigen, hatten überhaupt nur noch Drohungen an die Adresse Moskaus auf Lager.

Nun hat Russland also die georgische Option gewählt, die der russische Sicherheitsexperte Dmitri Trenin in der vorangegangenen Ausgabe dieses Magazins als akute Gefahr ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Allerdings war Trenins Blick dabei nur auf den Ausbruch des russisch-georgischen Krieges vom August 2008 gerichtet. Seinerzeit hatte der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili das Geraune seiner US-amerikanischen Berater offensichtlich missdeutet und in der Erwartung, die USA würden im Falle des Falles militärisch zu Hilfe eilen, seine Armee in Marsch gesetzt, um die abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien zurückzugewinnen. Moskau vereitelte dies bekanntlich mit überlegenen Truppen, und die USA blieben fern. Danach sprach Moskau die völkerrechtliche Anerkennung beider Gebiete als unabhängige Staaten aus und stationierte dort dauerhaft militärische Kräfte. Seither ruht der Konflikt, und der von der NATO am 3. April 2008 auf ihrem Gipfel in Bukarest gefasste Beschluss, Georgien (und die Ukraine) würde Mitglied des Paktes werden, ist auf unabsehbare Zeit Makulatur.

Recht hatte Trenin mit seiner Meinung trotzdem, denn nachdem die USA, die NATO und gesondert auch einzelne Paktstaaten in den vergangenen Wochen wiederholt erklärt hatten, im Falle eines militärischen Einmarsches Russlands die Ukraine nicht mit westlichen Streitkräften unterstützen zu wollen, war mit einem massiven militärischen Vorgehen Kiews gegen Donezk und Luhansk vor der Hand nicht mehr zu rechnen. Das hätte der Diplomatie Zeit verschaffen können, die Russland durch sein aktuelles völkerrechtswidriges Vorgehen zu nutzen jetzt ausgeschlagen hat.

Dass davon die westlich dominierte europäische Sicherheitsarchitektur, wie sie durch die mittlerweile fünf NATO-Osterweiterungen, unter Ausgrenzung Russlands, aber längst bis in dessen unmittelbares Vorfeld seit den 1990er Jahren errichtet worden ist, negativ tangiert würde, darf bezweifelt werden. Das Gegenteil wird der Fall sein. Und wenn etwa in Finnland oder Schweden die Kräfte Auftrieb gewinnen, die sich am liebsten ganz unter den „Schutzschirm“ der NATO begäben, spätestens dann wird auch keine georgische Option mehr zur Verfügung stehen. Ganz davon abgesehen, dass die jetzige Entwicklung Wasser auf die Mühlen all jener Kräfte im Westen ist, die Russland auf Dauer in der Rolle des Feindes sehen und aus Europa ausgegliedert halten wollen beziehungsweise grundsätzlich die Meinung vertreten, eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands sei bestenfalls eine hirnlose Illusion.

Sollte der russische Präsident, dem ein gewisser Machismo in früheren Jahren nicht gänzlich fremd gewesen zu sein schien, sich jetzt wie Alexander der Große nach dem Zerhauen des Gordischen Knotens fühlen, dann dürfte er schief gewickelt sein. Denn wenn der Russland-USA-NATO-EU-Ukraine-Konflikt nicht bisher schon ein solcher Knoten war, dann ist er es jetzt ganz bestimmt.

Im Übrigen mag Russland die gegenwärtige Zuspitzung der Lage zwar als reaktiv im Hinblick auf jahrzehntelange Zurücksetzung durch den Westen empfinden, es hat sie gleichwohl selbst losgetreten. Und dass Putin dies noch dazu als einen geeigneten Moment empfand, die von keinem Experten, nirgendwo, bezweifelte Einsatzbereitschaft der ballistischen Kernwaffeneinsatzmittel Russlands durch entsprechende Teststarts praktisch unter Beweis zu stellen, ist Krisenmanagement nach Art von Hasardeuren und erinnert fatal an das bekannte Bonmot, dass man auch Selbstmord aus Angst vor dem Tode begehen kann.

Sollte die jetzige Zuspitzung des Konfliktes weiter eskalieren, bis hin zu einem Großkrieg mit der Gefahr, nuklear zu werden, dann braucht sich anschließend wahrscheinlich niemand mehr solche oder ähnliche Gedanken zu machen. Und dann wäre das Ende des Kalten Krieges 1989/90 – grausamer Zynismus der Geschichte – keine welthistorische Zäsur gewesen, sondern nur das, was man im Drama das retardierende Moment nennt. Die Entwicklung scheint sich zum Guten zu drehen, nur damit die nachfolgende Katastrophe mit umso größerer Wucht niederfahren kann.

*

In seinem Morning Briefing vom 22. Februar 2022 vermerkte Gabor Steingart, Ex-Chefredakteur sowie -Herausgeber des Handelsblattes und inzwischen selbstständiger Nachrichten-Unternehmer: „Die Spirale der Aggression beschleunigt sich. Alle Beteiligten verhalten sich unvernünftig, aber rollengerecht. Ein Feuerwerk der Gewalt und der Empörung wurde […] gezündet. Die Vernunft scheint auf irgendeiner Sanktionsliste zu stehen. Für sie ist im Moment kein Durchkommen.“

Und doch hatte Steingart eine Stimme der Vernunft parat – Horst Teltschik, Kohls außen- und sicherheitspolitischen Chefberater aus der Endzeit des Kalten Krieges: „Der Westen sollte jetzt dringend Verhandlungen über die Abrüstung und die Rüstungskontrolle führen. Und dann würde ich wieder folgenden Punkt auf die Tagesordnung setzen: eine gesamteuropäische Freihandelszone.“

Steingarts Kommentar: „Einer wie Horst Teltschik zieht nicht in den Propagandakrieg, sondern hört zu, wägt ab und benennt Alternativen – Alternativen zum Krieg.“

Allerdings hat die Stimme der Vernunft bekanntermaßen immer nur so lange eine Chance, wie die Waffen noch schweigen. Auch diese Erfahrung hat der russische Präsident mit dem Beginn der militärischen „Sonderoperation“ gegen die Ukraine in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 leider in den Wind geschlagen.

Das hat, soviel kann jetzt schon gesagt werden, den Predigern von noch mehr Konfrontation und Aufrüstung im Westen gewaltigen Auftrieb beschert.

Sollte der Krieg rasch beendet werden können, wird eine Eiszeit im Verhältnis zu Russland folgen. Sollte der militärische Konflikt sich jedoch hinziehen, eventuell mit einem Guerillakrieg ähnlich jenem nach dem sowjetischen Überfall auf Afghanistan, dann könnte sich daraus noch sehr viel mehr entwickeln …

Abgeschlossen am 26. Februar 2022, 10:30 Uhr.