25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Mehr Kalten Krieg wagen! […]
Wer Putin stoppen will, muss ihn vor sich hertreiben.

Nikolaus Blome
Der Spiegel (online), 20.12.2021

 

Seit 2021 finden turnusmäßige Wintermanöver der russischen Streitkräfte in Gebieten unweit der Ukraine statt. Von bis zu 75.000 Mann an Kampfverbänden zuzüglich „100.000 noch einzuberufenden Reservisten“ (Spiegel) war die Rede. Anlass für hiesige Qualitätsmedien, sekundiert von manchen Politikern, ihre antirussische Dauerbeschallung der Öffentlichkeit wieder einmal auf ein Level hochzujazzen, das die Grenze zur Kriegshysterie mindestens touchierte:

– „Joe Biden warnt Wladimir Putin vor Invasion in Ukraine“ (Die Zeit, 4.12.2021).

– „Den Abgrund vor Augen. Droht ein Krieg in der Ukraine?“ (Der Tagesspiegel, 5.12.2021).

– „Falls Russland angreift, sind alle Optionen auf dem Tisch.“ (Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour, 13.12.2021)

Zwar war einzelnen westlichen Experten aufgefallen, dass für einen militärischen Angriff Moskaus gegen Kiew „erst noch ausreichend Munition, Treibstoff und Lebensmittel in die Grenzregion transportiert werden [müssten]“, wie Der Spiegel einen anonymen NATO-Experten zitierte, der hinzufügte: „Das sehen wir bisher nicht.“ Aber das tat dem allgemeinen Tenor keinen Abbruch. Und der Kreml konnte die ihm unterstellten Kriegsabsichten dementieren, so oft er wollte – für sicherheitspolitische Fachleute vom Schlage eines Christoph Heusgen, des ehemaligen deutschen UN-Botschafters und designierten neuen Leiters der Münchner Sicherheitskonferenz, stand fest: Putin sucht „nach einem Anlass, in die Ukraine einzumarschieren“.

Keine Überlegung war den Experten augenscheinlich die Frage wert, ob Anlage und Umfang der russischen Manöver womöglich in irgendeinem Zusammenhang mit einem Sachverhalt standen, über den das russische Außenministerium am 1. Dezember 2021 informiert hatte: Kiew habe zwischenzeitlich bis zu 125.000 Soldaten, etwa die Hälfte der gesamten ukrainischen Streitkräfte, im Donbass zusammengezogen.

Was allerdings das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland generell anbetrifft, so ist einer Einschätzung, wie sie dieser Tage Dmitri Trenin, Leiter der Carnegie-Dependance in Moskau, getroffen hat, schwerlich zu widersprechen: „[…] wir sind einem Krieg näher als je in den vergangenen Jahrzehnten“. Hinzu kommt, wovor Rolf Mützenich, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, kürzlich gewarnt hat: „In einer solchen Situation kann schon eine kleine Irritation der Funke sein, der einen gewaltigen Konflikt auslöst.“

Wie schnell das unter Umständen gehen kann, weiß man spätestens seit August 2008. Da bestand die „kleine Irritation“ darin, dass der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili sich aufgrund mindestens missverständlicher Einflüsterungen seiner US-amerikanischen Berater offenkundig einbildete, Washington würde ihm im Falle eines kriegerischen Konflikts mit Moskau militärisch beistehen. Als er seine Streitkräfte im August jenes Jahres gegen Südossetien in Marsch gesetzt hatte, erwies sich das jedoch als grobe Fehlkalkulation, und er kassierte im sogenannten Kaukasischen Fünftagekrieg eine herbe Niederlage. Bereits 2009 kam eine Untersuchungskommission der EU zu dem Ergebnis, dass Tbilissi den Krieg begonnen hatte. Im Gegensatz zur Faktenlage allerdings firmiert dieser Waffengang im westlichen Narrativ bis heute als russische Aggression. Erst kürzlich hat die in Würzburg erscheinende katholische Tagespost ihre Leser in Angst und Schrecken versetzt: „2008 warf sich Putin beutehungrig in den Krieg gegen Georgien […]“

Insofern ist dies sicherheitspolitisch von erheblicher Bedeutung: Laut Spiegel (und anderen Medien) hat Washington bereits Anfang Dezember 2021 Kiew klar signalisiert, dass die USA im Falle einer militärischen Auseinandersetzung mit Moskau derzeit keine „direkte militärische Antwort“ in Betracht zögen; es gehe Washington, so ein Regierungsvertreter, nicht darum, „sich in einer Position wiederzufinden, in welcher der direkte Einsatz amerikanischer Truppen im Zentrum unserer Überlegungen steht“.

Russland – das hat es seit 2014 wiederholt deutlich gemacht – wird nach den NATO-Osterweiterungen und angesichts historischer Erfahrungen mit ausländischen Interventionen im 20. Jahrhundert nicht akzeptieren, dass auch noch die Ukraine und Georgien zum potenziellen Aufmarschgebiet des Westens vor der eigenen Haustür oder gar ebenfalls Mitglied des Nordatlantikpaktes werden. (Letzteres ist NATO-Beschlusslage seit dem Paktgipfel von April 2008 in Bukarest) Solange USA und NATO nicht bereit sind, dem berechtigten russischen Sicherheitsinteresse auf Rechnung zu tragen, solange der Westen überdies nicht einmal ernsthafte Schritte unternimmt, Kiew wenigstens zur Umsetzung seiner im Minsk-II-Abkommen gegenüber Russland, Frankreich und Deutschland eingegangenen Verpflichtungen zu bewegen, wird es keine nachhaltige Entschärfung des Kriegsherdes in der Ostukraine geben. Die Erwartung mag illusorisch sein, dass die NATO sich jemals, wie von Moskau gefordert, völkerrechtlich verbindlich verpflichtet, prinzipiell niemals mehr neue Mitglieder im Grenzumfeld Russlands aufzunehmen, doch diskutable Lösungsansätze im Hinblick auf die Ukraine sind bereits verschiedentlich unterbreitet worden:

  • „Im Kern sollte die Nato […] auf die pauschale Bekräftigung einer angestrebten Mitgliedschaft von Ukraine und Georgien verzichten. […] Der Verzicht ist kein Appeasement, sondern schlicht realpolitisch im Interesse europäischer Stabilität und angesichts nicht verhinderbarer begrenzter militärischer Eingriffe Russlands gegenüber den genannten beiden Staaten geboten.“ (Rüdiger Lüdeking, deutscher Ex-Botschafter)
    Vergleichbar hat sich auch der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat geäußert – siehe dazu im Beitrag von Erhard Crome in dieser Ausgabe.
  • „Vielleicht sollte die Ukraine sich Finnland zum Vorbild nehmen. Trotz der beiden Kriege mit Russland hat Finnland zwischen den Blöcken des Kalten Kriegs einen Modus Vivendi mit der Sowjetunion gefunden. Und ist eines der erfolgreichsten europäischen Länder geworden.“ (Dmitri Trenin)

Es ist am Westen, von der gebetsmühlenartigen Wiederholung der Zurückweisung russischer Sicherheitsinteressen (Joseph Biden: „Ich akzeptiere niemandes rote Linien.“) abzurücken und endlich einen lösungsorientierten Kurs einzuschlagen.

*

Rolf Mützenich hat jüngst – neben üblichen einseitigen Schuldzuweisungen an die Adresse Moskaus wegen der Krisenzuspitzung um die Ukraine („Die Drohgebärden und Provokationen der russischen Regierung sind inakzeptabel.“) – auch diesen bemerkenswerten Gedanken geäußert: „Reflexartige Empörung hilft uns nicht weiter. […] Das bedeutet, wir sollten […] auch darüber sprechen, wie eine europäische Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands aussehen könnte.“

Ob er sich mal gefragt hat, warum das eigentlich nicht längst geschehen ist? Im November 1990 wurde die Charta von Paris verabschiedet – jenes Dokument, das durch Unterschrift aller KSZE-Staaten das Ende des Kalten Krieges besiegelte und von dem bis heute angenommen werden darf, dass es die Schaffung einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung einleiten sollte. Doch obwohl sich damals die früheren Feinde als neue Freunde quasi freudetrunken in den Armen lagen, wurde anschließend mit Moskau nicht mehr darüber gesprochen. Auch nach 1997 nicht, als man in der NATO-Russland-Grundakte versichert hatte, „einander nicht als Gegner“ zu betrachten.

Wer nach möglichen Ursachen für diese „Unterlassungen“ gräbt, stößt früher oder später darauf, dass offenbar bereits 1992 in Washington wieder ein ganz anderer Trend im Aufwind begriffen war – noch zu Zeiten jener Bush-Regierung, während der die Charta von Paris zustande gekommen war. Am 8. März jenes Jahres berichtete die New York Times über eine Verteidigungsplanungsrichtlinie („Defense Planning Guidance“), die unter der Ägide des damaligen Pentagon-Unterstaatssekretärs Paul Wolfowitz erstellt worden war: „In dem als Verschlusssache eingestuften Dokument wird für eine Welt plädiert, die von einer Supermacht beherrscht wird, deren Position durch konstruktives Verhalten und ausreichende militärische Macht aufrechterhalten werden kann, um jede Nation oder Gruppe von Nationen davon abzuhalten, die amerikanische Vormachtstellung in Frage zu stellen.“ Dieses, so der New York Times-Bericht, „Konzept der wohlwollenden Beherrschung“ erteile einer Strategie des kollektiven Internationalismus (inklusive gemeinsamer Streitschlichtung und Konfliktprävention) „die bisher deutlichste Absage“. Klingt wie eine Regieanweisung für Washingtons Unilateralismus in den folgenden Jahrzehnten bis hin zum vorläufigen Kulminationspunkt in Gestalt der Außen- und (Un-)Sicherheitspolitik eines Donald Trump.

Doch zurück zu Mützenichs „europäischer Sicherheitsordnung“. Die Verwendung dieser Begriffskombination erscheint in Zeiten, in denen der neue Kalte Krieg das Potenzial hat, den alten zu toppen, nachgerade exotisch oder besser gesagt – höchst wirklichkeitsfremd. Gegenwärtig wäre es schon ein substanzieller Fortschritt im West-Ost-Verhältnis, wenn man überhaupt mal wieder gemeinsam sicherheitspolitische (kleine) Brötchen backte. Dazu hat das European Leadership Network bereits im Dezember 2020 Empfehlungen einer Gruppe von US-amerikanischen, russischen und westeuropäischen Experten „zur Verringerung der militärischen Risiken zwischen der NATO und Russland“ (zum Download hier klicken) publiziert, die ein Potpourri sinnvoller Anknüpfungspunkte offerieren:

  • Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Russland und der NATO, einschließlich direkter Kontakte zwischen den militärischen Befehlshabern und Experten Russlands und der NATO-Mitgliedstaaten
  • Aufstellung gemeinsamer Regeln, die das Risiko unbeabsichtigter Zwischenfälle zu Lande, in der Luft und auf See verringern
  • Stärkung der Stabilität durch Erhöhung der Transparenz, Vermeidung gefährlicher militärischer Aktivitäten und Einrichtung spezieller Kommunikationskanäle, die eine Eskalation bei möglichen Zwischenfällen verhindern
  • Nutzung (und möglicherweise Ergänzung) der NATO-Russland-Grundakte 1997, um Zurückhaltung, Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen zu stärken
  • Beschränkungen für Einsätze konventioneller Streitkräfte der NATO und Russlands in Europa
  • Aufnahme von Konsultationen zwischen Russland und den USA zu Mittelstreckenraketen und zur Raketenabwehr, um ein neues nukleares Wettrüsten in Europa zu verhindern
  • Aufrechterhaltung des Vertrags über den Offenen Himmel

Wenn unsere nassforsche Außenministerin von all dem noch nichts wissen sollte, wäre ihr das schwerlich vorzuwerfen. Schließlich ist sie erst seit wenigen Tagen im Amt und ihre Herkunft „vom Völkerrecht“ ist bekanntlich keine besonders tiefgehende. Ihre ersten ministeriellen Auftritte allerdings („Das russische Handeln ist mit einem klaren Preisschild gekennzeichnet […]“) geben wenig Anlass zu entspannungspolitischem Optimismus. Aber vielleicht hilft ihr ja Rolf Mützenich vermittels seines Parteigenossen Olaf Scholz auf die Sprünge. Stichwort – Richtlinienkompetenz.