24. Jahrgang | Nummer 25 | 6. Dezember 2021

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

In Brüssel gilt die Überzeugung,
dass es an Russland sei,
sich um eine Entspannung zu bemühen.

Knut Krohn
Der Tagesspiegel, 01.11.2021

Horst Teltschick war in den 1980er Jahren und speziell in der Anbahnungsphase der deutschen Vereinigung der wichtigste außen- sowie sicherheitspolitische Mitarbeiter und Berater von Helmut Kohl. Während der Verhandlungen über die Bildung der neuen Bundesregierung nach der Wahl vom 26. September 2021 gab er zu Protokoll: „[…] ich sehe niemanden in den jetzigen Koalitionsverhandlungen, der eine Strategie hat, es sei denn, es geht gegen Russland, gegen Putin (Hervorhebung – W.S.)“.

Eine vergleichbare Grundkonstante – gegen Moskau, selbst ohne dezidierte Strategie – könnte in den USA (und anderen führenden NATO-Staaten) auch 1990, also zur Zeit der einvernehmlichen Beendigung der Ost-West-Konfrontation respektive des Kalten Krieges und einer kooperativen Aufbruchseuphorie über die sich auflösenden Systemgrenzen hinweg, die sich 1990 in der Charta von Paris für ein neues Europa niederschlug*, im Hintergrund politikbestimmend wirksam gewesen sein. Eine solche Befürchtung legt zumindest eine detailreich dokumentierte Analyse von Marc Trachtenberg unter dem Titel „The United States and the NATO Non-extension Assurances of 1990“ („Die Nichterweiterungszusicherungen der Vereinigten Staaten und der NATO von 1990“) nahe.**

Wem die Beschäftigung mit dieser Problematik heute, über 30 Jahre später, als alter Hut erscheint, dem hält Trachtenberg entgegen – und der Autor folgt ihm hierin: Die Fragestellung sei es unverändert „wert, untersucht zu werden“, weil sie direkt damit zusammenhänge, „wie die Welt nach dem Kalten Krieg in den Zustand geraten ist, in dem sie sich heute befindet“.

*

George F. Kennan war mit seinem legendären langen Telegramm aus der US-Botschaft in Moskau von 1946 Stichwortgeber und Architekt der ersten antisowjetischen US-Doktrin nach Kriegsende, des sogenannten Containments (auch Truman-Doktrin genannt). Kennan hat die sich zu Beginn der zweiten Hälfte der 1990er Jahre abzeichnenden NATO-Osterweiterungen als „verhängnisvollste[n] Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg“ bewertet.

Das sieht die quasi offizielle westliche Lesart dieser Entwicklung und die ihr folgende allgemeine Rechtfertigungsargumentation natürlich völlig anders; deren Kern wird im Wesentlichen von fünf sich teils widersprechenden Erzählsträngen bestimmt:

  • Zum einen habe es 1990 keine westlichen Versicherungen gegenüber Moskau gegeben, dass künftige NATO-Osterweiterungen ausgeschlossen seien.
  • Soweit westliche Äußerungen, die von Moskau später doch dahingehend interpretiert wurden, erfolgt seien, hätten sie sich lediglich auf das Territorium der DDR und damit den östlichen Teil des künftig vereinigten Deutschlands bezogen.
  • Auch Gorbatschow hätte die damit gegebene Sachlage später anerkannt und den Westen damit gewissermaßen vom Vorwurf gebrochener Versprechen entlastet.
  • Insgesamt sei die Frage einer möglichen künftigen Osterweiterung der NATO im Zuge der Beendigung des Kalten Krieges und der deutschen Vereinigung mangels praktischer Relevanz kein Thema gewesen, das von irgendeiner Seite ventiliert worden wäre.
  • Und wenn überhaupt hätte es 1990 im Übrigen lediglich verbale westliche Äußerungen gegeben und solche wären, da nicht vertraglich fixiert, grundsätzlich ohne jede Verbindlichkeit.

Unter Heranziehung von Quellen aus den Jahren des Geschehens widerspricht Trachtenberg allen fünf Erzählsträngen mit Nachdruck. Hier nur eine Auswahl:

Erstens – Der damalige deutsche Außenminister Genscher hielt im Januar 1990 eine Rede an der Evangelischen Akademie in Tutzing, in der er erklärte, dass es, „was auch immer mit dem Warschauer Pakt geschieht, eine Ausweitung des NATO-Gebiets nach Osten, das heißt näher an die Grenzen der Sowjetunion, […] nicht geben [wird].“

Zweitens – US-Außenminister James Baker hatte dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow im Februar 1990 versichert, dass es, wenn das vereinigte Deutschland Teil der NATO bliebe, „keine Ausdehnung” des Zuständigkeitsbereiches der NATO geben werde – „keinen Zentimeter [no inch] nach Osten“. Baker selbst spielte diese Zusage 1997 dahingehend herunter, dass er „niemals die Absicht hatte, den Beitritt neuer NATO-Mitglieder auszuschließen“ und dass „der Vorschlag hinsichtlich des NATO-Zuständigkeitsbereiches sich nur auf das Gebiet des früheren Ostdeutschlands“ bezogen habe. Fakt bleibt hingegen, dass es nach einem Treffen Bakers mit Genscher im Februar 1990 einen gemeinsamen Auftritt vor der Presse gegeben hatte, bei dem Genscher – von Baker unwidersprochen – ausführte: „Wir [Baker und er – W.S.] waren uns einig, dass keine Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet nach Osten auszudehnen. Das gilt im Übrigen nicht nur für das Gebiet der DDR […], sondern das gilt generell.“

Drittens – Gorbatschow hat tatsächlich wiederholt – etwa 2015, wie auch in diesem Magazin berichtet worden ist (siehe Ausgabe 7/2018) – zur NATO-Osterweiterung im Kontext des Jahres 1990 erklärt: „Die Frage stellte sich gar nicht.“ Doch er hat sich zur gleichen Frage auch diametral entgegengesetzt geäußert, wie Trachtenberg hervorhebt. Gorbatschow 2008: Die Amerikaner hätten „versprochen, dass die NATO nach dem Kalten Krieg nicht über die Grenzen Deutschlands hinausgehen würde, aber jetzt ist die Hälfte Mittel- und Osteuropas Mitglied, was ist also aus ihren Versprechen geworden? Dies zeigt, dass man ihnen [den USA – W.S.] nicht trauen kann.“ Trachtenberg hat seinen ganz eigenen Erklärungsansatz für Gorbatschows widersprüchliche Aussagen, auf den hier jedoch nicht eingegangen werden muss. Als Kronzeuge taugt der Ex-Sowjetführer in diesem Punkte jedenfalls nicht.

Viertens – Schon als die Auflösung des Warschauer Vertrages noch gar nicht offiziell zur Debatte stand, wurde die Frage einer möglichen künftigen NATO-Mitgliedschaft von einigen seiner Mitgliedstaaten sehr wohl ventiliert, wie Trachtenberg belegt: „Der Gedanke wurde von führenden osteuropäischen Politikern bei Treffen mit dem stellvertretenden [US-]Außenminister Lawrence Eagleburger Ende Februar 1990 […] zur Sprache gebracht […].“ Nur wenige Tage nach der Baker-Zusage gegenüber Gorbatschow. Einer der Wortführer war der damalige ungarische Außenminister Gyula Horn. Das war auch in Moskau bekannt, wie Bundeskanzler Kohl im Mai 1990 gegenüber US-Präsident George Bush thematisierte.

Fünftens – Was schließlich das westliche Beharren auf der Unverbindlichkeit lediglich mündlicher Absprachen zwischen führenden Politikern im Jahre 1990 anbetrifft, so verweist Trachtenberg darauf, dass, sollte dieses Prinzip zutreffend sein, ein erheblicher Teil der modernen internationalen zwischenstaatlichen Beziehungen nie hätte stattfinden können. Trachtenbergs prominentestes Beispiel: die Kuba-Krise von 1962, die von den am Rande eines nuklearen Schlagabtausches stehenden Kontrahenten beigelegt wurde, ohne dass auch nur ein einziges Wort der dazu zwischen Kennedy und Chruschtschow getroffenen Vereinbarung schriftlich fixiert und unterzeichnet worden wäre.

Trachtenberg fasst zusammen: „In einem Informationsbuch des [US-amerikanischen – W.S.] Nationalen Sicherheitsarchivs, das sich mit diesem Thema befasst, ist die Rede von einer ‚Kaskade von Versprechen bezüglich der sowjetischen Sicherheit, die Gorbatschow und anderen sowjetischen Amtsträgern von westlichen Führern während des gesamten Prozesses der deutschen Wiedervereinigung 1990 und bis ins Jahr 1991 gegeben wurden‘, und in der Tat wurden den Sowjets viele […] Zusicherungen gemacht, dass der Westen bestrebt sei, sie mit Respekt zu behandeln, kooperative Beziehungen zu ihnen aufzubauen und nichts zu tun, was ihre Interessen beeinträchtigen würde.“

*

Offen bleiben einige Fragen, die Trachtenberg im Rahmen des von ihm gewählten Themas nicht stellt:

  • Warum haben die USA (und andere führende NATO-Mächte) nach 1990 nicht praktisch verfolgt, was in der Charta von Paris angelegt worden ist und was auf ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem unter Einschluss Russlands (und von Wladiwostok bis Vancouver, wie die Formel einmal lautete) hätte hinauslaufen können?
  • Warum sind die USA schon wenige Wochen nach ihren Zusagen vom Frühjahr 1990 wieder in die gewohnten machtpolitischen Verhaltensmuster zurückgefallen? (Trachtenberg: Die „US-Führung erkannte, dass die Sowjetunion zu schwach geworden war, um sie daran zu hindern, zu tun, was sie wollte.“)
  • Waren diese Muster nicht vielmehr auch während des (kurzen) „Fensters der Zusagen“ an Moskau wirksam geblieben? (Bush im späten Februar 1990 gegenüber Kohl: „Wir werden das Spiel gewinnen, aber wir müssen clever dabei sein.“)?
  • Ist speziell die US-Politik also nicht schon immer vor allem so grundiert gewesen, wie es George Friedman, Chef des Thinktanks STRATFOR, 2015 vor dem Chicago Council on Global Affairs resümiert hat: „Das primäre Interesse der USA, wofür wir seit einem Jahrhundert die Kriege führen – Erster und Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg – waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Weil sie vereint die einzige Macht sind, die uns bedrohen kann, und unser Interesse war es immer sicherzustellen, dass das nicht eintritt.“?

Und schließlich die Schlüsselfragen:

  • Ist die Idee eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems unter Einschluss Russland womöglich allein schon deshalb eine Illusion, weil sie einem grundlegenden Interesse der USA ebenso widerspricht wie tradierten Verhaltensmustern der US-Herrschaftselite?
  • Last but not least: Unter welchen Bedingungen ist dieser Elite überhaupt zu trauen?

* – In der Charta hieß es unter anderem: „Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, daß sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden.“ Die Teilnehmerstaaten wollten darüber hinaus „eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“

** – Der Autor ist Research Professor of Political Science an der University of California, Los Angeles (UCLA). Eine komprimierte Fassung seines Beitrages ist in der vom MIT herausgegebenen Politikzeitschrift International Security, Ausgabe Winter 2020/21, S. 162-203, erschienen. Alle nachfolgenden Zitate, soweit nicht anders ausgewiesen, entstammen dieser Fassung.

Zur Langfassung des Beitrages, die der Redaktion von der UCLA wie auch vom Verfasser selbst freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde, hier klicken.