21. Jahrgang | Nummer 7 | 26. März 2018

„Wohin geht die NATO?“ – Noch ein paar Fragen

von Wolfgang Schwarz

Im ersten Teil dieses Beitrages zum Strategiepapier „Was bleibt vom Westen? Wohin geht die NATO?“ von Helmut W. Ganser, Wulf Lapins und Detlef Puhl waren die Osterweiterungen der NATO seit Ende der 1990er Jahre als einer der maßgeblichen Faktoren benannt worden, die zur derzeitigen Zerrüttung im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland beigetragen haben.
Dabei war nicht auf die von offizieller russischer Seite wiederholt ins Spiel gebrachte und auch im Westen verbreitete Auffassung Bezug genommen worden, dass die NATO-Hauptmächte damit quasi feste Versprechen gegenüber Gorbatschow im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses gebrochen hätten, weil – so auch der Erkenntnisstand des Autors – derartige Zusicherungen in vertraglich kodifizierter, völkerrechtlich verbindlicher Form nicht gegeben worden sind. Im Jahre 1990 rechneten die politischen Führungen weder auf russischer noch auf westlicher Seite mit einer raschen Auflösung der Organisation des Warschauer Vertrages oder gar mit einem Zerfall der Sowjetunion. Gorbatschow sah daher überhaupt keine Veranlassung, das Thema einer NATO-Erweiterung in Richtung Moskau mit Blick auf osteuropäische Staaten zu thematisieren oder sich auch nur informelle Aussagen des amerikanischen Außenministers Baker, seines deutschen Amtskollegen Genscher oder von Bundeskanzler Kohl, die NATO werde sich keinen Zentimeter nach Osten bewegen, wenigstens schriftlich bestätigen zu lassen. „Die Frage stellte sich gar nicht“, wie Gorbatschow später selbst erklärte.*
All dies ist jüngst von Hannes Adomeit in einem Papier noch einmal zusammengetragen worden: „NATO Osterweiterung: Gab es westliche Garantien?“.
Unabhängig davon ist allerdings der Sachverhalt zu bewerten, dass Moskau, nachdem mit dem jahrzehntelang feindlichen westlichen Militärbündnis auch nach 1990 keine neue gemeinsame Sicherheitsarchitektur in und für Europa zustande zu bringen war und nachdem russische Initiativen in dieser Richtung westlicherseits entweder ignoriert oder direkt abgelehnt worden waren, das etappenweise geografische Vorrücken der NATO (um immerhin insgesamt 1300 Kilometer) als umso sicherheitsrelevanter im Sinne einer potenziellen Bedrohung bewertete, je näher die NATO russischen Grenzen kam, und dass Russland durch die Beitrittsofferten an die Ukraine und Georgien im Jahre 2008 rote Linien überschritten sah.
Wer diese Bedrohungsperzeption nicht als aus russischer Sicht berechtigt zu konzedieren vermag, weil die NATO ja ein „reines Verteidigungsbündnis“ sei (wie im Übrigen nicht nur im Falle Jugoslawiens klar erkennbar war), der wird einen erneuten Paradigmenwechsel im Verhältnis zu Moskau schwerlich einleiten können und provoziert überdies die Vermutung, dass er dies gar nicht wirklich anstrebt. Das gilt nicht minder für jene, die die auch von Adomeit angesprochene Frage, ob „die Ostweiterung sinnvoll war oder nicht“, mit einem undifferenzierten ja und womöglich noch im Sinne von weiter so beantworten.
Ganser, Lapins und Puhl äußern sich zu diesem Komplex unter anderem folgendermaßen: „Für Protagonisten des ‚Pluralen Friedens’ bedeutet der glaubwürdige Verzicht der NATO auf potenzielle Mitgliedschaften der Ukraine und anderer Länder in der Region (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Belarus, Moldawien – W.S.) die Beseitigung des entscheidenden Stolpersteins auf dem Weg zu einer künftigen Sicherheitsregelung mit Russland. Eine grundsätzliche Entscheidung, die Türen geschlossen zu halten, widerspricht jedoch dem westlichen Werteverständnis sowie auch der generellen, in Bukarest gegebenen Beitrittszusage.“ Hier stellen sich unter anderem folgende Fragen:

  • Die Beitrittszusage von Bukarest bezieht sich expressis verbis nur auf die Ukraine und Georgien. Zu welchem Zweck machen die Autoren daraus eine „generelle“?
  • Könnte man diese Beitrittszusage mit Blick auf Artikel 10 des NATO-Vertrages – „Die vertragschließenden Staaten können auf Grund eines einstimmig getroffenen Übereinkommens jeden anderen europäischen Staat, der in der Lage ist, […] zur Sicherheit des nordatlantischen (Hervorhebung – W.S.) Gebietes beizutragen, zum Beitritt zu diesem Vertrage einladen.“ – nicht auch als nicht vertragskonform bewerten?
  • Und gibt es, um ein Wort Michael O’Hanlons, eines sicherheits- und militärpolitischen Experten der Brookings Institution, aufzugreifen nicht auch hierzulande „ein paar neue Ideen, die wir aus eigener Kraft vorschlagen und vorantreiben können“?

O’Hanlon selbst hat in der Süddeutschen Zeitung diese Vorstellung unterbreitet: „Es gibt einen Weg, wie man das Risiko eines Nato-Russland-Krieges minimieren könnte, ohne die westlichen Werte zu kompromittieren oder die Interessen eines Alliierten zu opfern. Er beginnt mit der Feststellung, dass die Nato-Erweiterung, ungeachtet ihrer Verdienste in der Vergangenheit, weit genug gegangen ist. Würde Putin seinen Teil dazu beitragen, dann sollten wir eine neue Sicherheitsarchitektur für Osteuropa bauen, in der explizit Nato-Mitgliedschaften der Ukraine und Georgiens ausgeschlossen sind. Putin müsste im Gegenzug nicht nur einverstanden sein, er müsste auch die territorialen Streitigkeiten mit seinen Nachbarn beilegen und seine Angriffe gegen sie einstellen. Er müsste darüber hinaus das Recht dieser Staaten anerkennen, anderen Staatsorganisationen beitreten zu können, darunter eines Tages auch der Europäischen Union.“ Als weitere Kandidaten, denen die NATO unter der Voraussetzung eines entsprechenden Arrangements mit Moskau keine Mitgliedschaften anbieten sollte, bestätigte O’Hanlon in einem Interview Finnland, Schweden, Moldawien, Weißrussland, Armenien, Aserbaidschan, Zypern und Serbien. Dies wäre, so O’Hanlon, „keine Neuauflage der Konferenz von Jalta, hier würde nicht die Aufteilung Europas beschlossen. Denn Bedingung für die neue Politik wäre es, dass die neutralen Staaten Osteuropas jedes souveräne Recht behielten, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln, vor allem in der Wirtschafts- und in der Außenpolitik.“

*

Ausführlich gehen die Autoren nicht zuletzt der Frage „Haben die militärischen Operationen der NATO gegen den international operierenden Terrorismus genutzt?“ nach und kommen zu folgenden Urteilen:

  • Afghanistan: „Rückblickend kann wohl kaum von einem insgesamt erfolgreichen Ein­satz gesprochen werden […]. Die Taliban kontrollieren heute wieder große Teile des Landes.“
  • Libyen: Im Ergebnis „der Luftoperation der NATO zur Unterstützung der Rebellen gegen das Gaddafi-Regime […] versank das Land im Chaos“.

Und sie ergänzen: „Auch die UN-mandatierte Friedensmission […] in Mali steht unter starkem Druck.“
Man könnte zusammenfassend vielleicht John Mearsheimer zitieren: „Wenn Interventionen überhaupt etwas bewirken, dann am ehesten, dass sie schlechte Situationen verschlimmern.“
Die entscheidende Ursache für ihre ernüchternde Bilanz sehen Ganser, Lapins und Puhl darin, dass in allen Fällen erfolgversprechende politisch-strategische Konzepte zur Stabilisierung der betreffenden Länder nach den Militäroperationen entweder gar nicht erarbeitet worden seien (Libyen) oder nicht durchgesetzt werden konnten (Afghanistan), und sie konstatieren: „In der NATO steht eine kritische Aufarbeitung solcher Fehler und Versäumnisse auf der politisch-strategischen Ebene weiter aus. Sie ist mit Blick auf zukünftige NATO-Einsätze aber dringend erforderlich.“
Dieses Diktum ist ebenso zutreffend, wie es leider einen grundsätzlichen Sachverhalt ausblendet: In der NATO sind keinerlei Ansätze zu einer solchen Aufarbeitung erkennbar. Mehr noch – es besteht ganz offensichtlich auch keinerlei Interesse in dieser Richtung. Es ist daher zu befürchten, dass bei zukünftigen Einsätzen weiter so vorgegangen werden wird wie bisher – entweder völlig konzeptionslos wie im Irak und in Libyen oder nach dem Prinzip Versuch und Irrtum wie in Afghanistan. Wie und durch wen, so bleibt zu fragen, sollte die „kritische Aufarbeitung“ in der NATO also in Gang gesetzt werden?
Durch die Bundesregierung? Legt man deren Agieren in den Merkel-Jahren zugrunde, ist das wenig wahrscheinlich, denn von dieser Seite wird bekanntlich jede vergleichbare Auseinandersetzung auch nur mit bisherigen Auslandsmissionen der Bundeswehr peinlich vermieden.
Warum sich in dieser Hinsicht allerdings selbst der Bundestag bisher mehrheitlich wie die drei nämlichen Affen verhalten hat, ist schwer verständlich. Die Bundeswehr als Parlamentsarmee ist jenseits deutscher Grenzen letztlich stets mit Mandat, vulgo im Auftrag des Bundestages im Einsatz – ob nun im Rahmen von NATO-Einsätzen oder von UN-, respektive EU-Missionen. Bisher stets aber auch ohne parlamentarisch klar umrissene militärische und politische Langzeitzielvorgaben. Mandatsverlängerungen durch das Parlament erfolgen ohne substanzielle Zwischenevaluationen, von abschließenden Missionsbewertungen mit abgeleiteten Schlussfolgerungen für künftige Einsätze ganz zu schweigen.
Müsste man dies angesichts der negativen Bilanz auch großer Auslandsmissionen der Bundeswehr nicht dringlich ändern? Und wenn ja, wie? Aus den Bundestagsfraktionen der Volksparteien und selbst der Grünen war in dieser Hinsicht praktisch bisher nur eines zu hören – das Schweigen im Walde …
Ganser, Lapins und Puhl geben zumindest eine Empfehlung, die man nicht dick genug unterstreichen kann: „Wenn mi­litärische Operationen nicht in ein erfolgversprechendes politisches Konzept eingebettet werden können, sollte man davon lassen.“

* – Ignaz Lozo: Poker um die deutsche Einheit. Wurde Russland in der NATO-Frage getäuscht? (Fernsehdokumentation, Erstsendung: 15.07.2015); https://www.youtube.com/watch?v=H98tkAtF26E – Aufruf und Download am 18.01.2018, ab Minute 41:06.

Teil I und II dieses Beitrages wurden in den Blättchen-Ausgaben 5/2018 und 6/2018 publiziert.