24. Jahrgang | Nummer 8 | 12. April 2021

Bemerkungen

Sputnikschock 2.0

Mehrfach lief ich als achtjähriger Briefmarkensammler zum Postamt meiner Heimatstadt, um zu fragen: „Haben Sie schon die Sputnik-Marken?“ Irgendwann waren sie auch in Mecklenburg eingetroffen und ich konnte sie stolz ins Album stecken, derweil die westliche Welt im „Sputnikschock“ erstarrte. Der Start des ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik 1 am 4. Oktober 1957, in der bedrohlich heißen Zeit des Kalten Krieges, hatte den damaligen Vorsprung der Sowjetunion im Wettrennen in den Weltraum erwiesen. Zudem war die UdSSR mit dem Trägersystem des Sputniks fortan offensichtlich in der Lage, das Territorium der USA mit Interkontinentalraketen zu erreichen.

Ein Ost-West-Wettrennen gab es auch mehr als 60 Jahre später: diesmal um die Entwicklung eines Impfstoffs gegen das neuartige Corona-Virus SARS-CoV-2. Und wieder durchfuhr „diesen unseren Westen“ eine Art Schock, als im August 2020 vermeldet wurde, ein solches Vakzin – genannt Sputnik V – sei am Moskauer Gamaleja-Institut entwickelt und in Russland bereits „registriert“ worden. Es waren mehr als Zweifel, die da geäußert wurden. Zumindest medial wurde ein neuer Kalter Krieg auf dem Schlachtfeld der Impfstoff-Produktion und -Zulassung geführt. Selbst der promovierte Kabarettmediziner Eckart von Hirschhausen, der sich dankenswerterweise hierzulande als Impfproband zur Verfügung gestellt hatte, legte Wert darauf zu betonen, dass er dies im Falle Sputnik V keineswegs getan hätte.

Als Ungarns Regierungschef den russischen Impfstoff für sein Land orderte, wurde das als weiterer Beweis für Viktor Orbans EU-Untauglichkeit gewertet. In der Slowakei musste der Premier ins zweite Glied rücken, weil er „heimlich“ Sputnik V bestellt hatte.

Inzwischen wird das Vakzin in mehr als 50 Staaten eingesetzt. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA prüft seit einem Monat die Möglichkeit einer Notfall-Zulassung für die EU (wie sie alle anderen Covid-Impfstoffe auch nur haben). Und während mancherorts noch immer ein „skandalöses russisches Theater“ (Aktuálně.cz) oder Russlands „aggressive Impfstoffdiplomatie“ (Krytyka Polityczna) beklagt werden, haben sich die Regierungschefs von Mecklenburg-Vorpommern und Bayern vorsorglich schon Millionen Dosen gesichert. Sogar Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sieht sich zu Verhandlungen mit der russischen Seite genötigt, notfalls auch ohne EU-Zustimmung. In der Not und vor der Wahl frisst …, nein, überwindet der Teufel selbst einen Sputnikschock.

Achim Höger

Von Brechern und Fahrern

Was diese Corona-Viren in kurzer Zeit so alles geschafft haben: Luft- und Wasserqualität verbessert, Schulen und Geschäfte geschlossen und unsere Bewegungsfreiheit in nie gedachtem Ausmaß eingeschränkt! Mit diesen Beschränkungen geben sie sich aber längst nicht zufrieden; ihr unersättlicher Machtanspruch richtet sich gar auf einen kulturellen Bereich, in dem sie absolut nichts zu suchen haben: die Sprache! Da haben sie in beängstigender Geschwindigkeit die Wortwahl beschränkt.

Einst wurden beispielsweise Geschäfte, Umsätze, Arbeitsplätze, auch Freuden, Absichten, Hoffnungen verringert, verkürzt, verändert, verkleinert, angepasst … Das ist vorbei. Neuerdings geht es nicht mehr ohne das an sich neutrale Verb „brechen“ in seiner aufgeputschten Form „wegbrechen“. Es mag passieren, was will, irgendwas oder alles bricht weg oder wird bestimmt wegbrechen, jedenfalls in Politik und Medien. Der Unbedarfte denkt dabei zunächst an kalbende Eisberge, die ganze Schiffe versenken, oder an tödliche Lawinen und Schneebretter, die Ortschaften unter sich begraben, aber doch nicht an so Banales wie Umsätze!

Noch „brecherischer“ sind Banken und Börsen, bei denen möglicherweise auch einiges wegbricht, zumindest aber „einbricht“, wobei der Laie nicht weiß, welche Ver-Brecher an diesen Einbrüchen beteiligt sind. Sei‘s drum, in der Pandemie bricht eben so manches weg, nicht zuletzt die angemessene Wortwahl.

Die Modesprachvor- und -nachbeter in Presse, Funk und Fernsehen, aber vor allem in der Politik, haben zu Viruszeiten noch weitere Verben zu ihren Favoriten erkoren, etwa das an sich harmlose Verb „fahren“. Es ist faszinierend und bestürzend zugleich, zu welchen Funktionen ein Virus dieses unschuldige Verb verführen kann und wie nach Lust und Laune mit diesem „fahren“ umgegangen wird!

Schon immer war es ja eine vielseitig dienstbare Vokabel, man konnte hin- und her-, vor- und nachfahren, auch ab- und losfahren, schlimmstenfalls mit jemandem böse verfahren oder ihn gar überfahren. Jesus konnte einst auffahren und Orpheus in die Unterwelt hinabfahren. In Corona-Zeiten aber kann man ganz ohne Motor Maßnahmen rauf- und runterfahren. Heute werden die Eindämmungsmaßahmen runtergefahren, morgen, weil nicht erfolgreich, wieder hochgefahren, des Fahrens ist kein Ende. Wir werden zum fahrenden Volk, in diesem Fall aber nicht selbst fahrend, weil wir fast nirgendwo mehr hinfahren dürfen, bis die Ansteckungsgefahren so weit runtergefahren sind, dass wieder auf die sogenannte Normalität zugefahren werden darf. Sind die Corona-Infektionen aber wieder gefährlich hochgefahren, kommt es zu einem schärferen Lockdown, wobei selbst der einfache Lockdown schon höchst unsympathisch ist – wie der Begriff als solcher.

Wie fast allen Anglizismen aus der Digitalsprache verdankt Lockdown seine extreme Popularität einem missverstandenen Transfer. „to lock down“ heißt ja nichts anderes als „abschließen“, aber dieser vertrackte neudeutsche Lockdown lässt sich offensichtlich gerade nicht abschließen. Dieses virenverwöhnte Ungeheuer ist so lästig wie langlebig und bricht weder ein noch weg, wie intensiv mit ihm auch verfahren wird. Also: Gute Fahrt!

Jürgen Brauerhoch

Der Frühling naht

von Bernhard Spring

Der Schnee ist längst noch nicht verschwunden,
da gurrt es auch schon von den Bäumen.
Der Duft von milden Abendstunden
verweht sich leis in allen Räumen.

Und gelbe Winterlinge säumen
den Weg zum Garten, frisch erwacht,
wo Knospen vom Erblühen träumen.
Der Frühling naht mit seiner Pracht.

Und in der Wiese drehen Bienen
beständig kreisend ihre Runden,
wobei die Amseln zwischen ihnen
das grünende Gesträuch erkunden.

Auf Liegen, wohlig warm beschienen,
wird eine kurze Rast verbracht.
Es steht in neu belebten Mienen:
Der Frühling naht mit aller Macht.

Blätter aktuell

Das gesamte Leben auf der Erde befindet sich in einer Überlebenskrise. Zentrale Ursache dafür ist ein technokratisches Weltbild, das die Natur zu einer beherrschbaren Ressource in der Hand des Menschen degradiert hat. Der Publizist und Buchautor Fabian Scheidler analysiert die Ursachen dieser Entwicklung. Die zeitgleich mit der Entstehung des Kapitalismus heraufbeschworene rationalistische Trennung, ja Entfremdung des Menschen von sich selbst wurde zum Ausgangspunkt der planetarischen Krise.

Vor gut zehn Jahren sorgte die These des Politikwissenschaftlers Colin Crouch für Furore, dass die westlich-liberalen Staaten nur noch im postdemokratischen Leerlauf funktionieren. Nun untersucht Crouch das Verhältnis von Kapitalismus und Korruption. Sein Befund: Korruption erfolgt systemisch, durch Eliten aus Wirtschaft und Politik, die sich an Regeln zu halten behaupten, die in der postdemokratischen Realität längst ausgehöhlt sind.

Unter dem Titel „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ wird derzeit bundesweit ein Festjahr begangen. Die zahlreichen feierlichen Reden und Veranstaltungen suggerieren dabei eine stete Kontinuität des jüdisch-deutschen Zusammenlebens, die es so nicht gab, kritisiert der Soziologe Y. Michal Bodemann. Vor allem die Shoah markiert einen tiefen Bruch, der nach dem Zweiten Weltkrieg zwar staatlicherseits gekittet wurde, auf der gesellschaftlichen Ebene aber weiterhin besteht.

Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Politikwechsel nicht in Sicht: Das Versagen der Linkspartei“, „Radikal verwässert: Das neue Lieferkettengesetz“ und „Sicherheit durch Aufrüstung?“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, April 2021, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

WeltTrends aktuell

Während Deutschland und die Welt mit der Corona-Pandemie und ihren Folgen ringen, meldete die Bundesregierung kürzlich der NATO Militärausgaben in Höhe von 53 Milliarden Euro für das laufende Jahr. Weltweit wurden 2019 nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI 1917 Milliarden US-Dollar für militärische Zwecke ausgegeben, wovon allein die Hälfte auf das transatlantische Bündnis entfiel, dagegen 65 Milliarden auf Russland. Das Thema beschäftigt sich mit den Dimensionen dieses Rüstungswahnsinns sowie den Auswirkungen auf Wirtschaft, Umwelt und Klima. Botschafter a.D. Hellmut Hoffmann setzt sich kritisch mit dem NATO-Ziel der Steigerung der Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts auseinander.

Die geopolitischen Folgen des Zweiten Karabachkrieges analysiert Leonardo Salvador im WeltBlick.

Russische Außenpolitik wird hierzulande recht eingleisig besprochen, selten werden aber Stimmen von dort gehört. Deshalb gaben die WeltTrends im Februar-Heft russischen Experten das Wort, was auf große Resonanz stieß. Die Debatte zu „Russland in der Weltpolitik“ wird deshalb in diesem Heft mit Beiträgen von Alexander Rahr und Hans-Heinrich Nolte aufgenommen.

Im Gastkommentar stellt MdB Matthias Höhn, sicherheitspolitischer Sprecher der Linksfraktion, die Frage nach einer Außenpolitik „auf der Höhe der Zeit“. Seine Antworten für eine zeitgemäße linke Außen- und Sicherheitspolitik haben bereits rege Diskussionen ausgelöst.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 174 (April) 2021 (Schwerpunktthema: „Aufrüstung und die Folgen?“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„Lange Zeit war es undenkbar, dass die Europäische Union über einen Militärhaushalt, geschweige denn gleich mehrere, verfügen könnte. Allein schon aufgrund der lange vorherrschenden Auslegung der EU-Verträge wurde dies schlichtweg für illegal gehalten“, schreiben Özlem Alev Demirel und Jürgen Wagner und konstatieren einen grundlegenden Wandel: „In den letzten Jahren gewann aber eine neue Interpretation an Boden, die sich schließlich auch im ersten Haushaltsvorschlag der Kommission für das EU-Budget 2021-2027 niederschlug. Ausgelobt wurden darin eigene Budgetlinien für ‚Militärische Mobilität‘, für einen ‚Europäischen Verteidigungsfonds‘ sowie für militärisch relevante Weltraumprogramme.“

Özlem Alev Demirel / Jürgen Wagner: Schritte über den Rubikon, neues-deutschland.de, 22.03.2021. Zum Volltext hier klicken.

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Um geschichtlichen Abläufen – wie etwa den NATO-Osterweiterungen – und ihren Folgen auf den Grund zu gehen, kann bisweilen auch ein Blick in ältere Analysen hilfreich sein. So zitierte 2015 Andrew Cockburn George F. Kennan. Der war unter den intellektuellen Hebammen des Kalten Krieges im Westen – speziell mit seinem sogenannten Langen Telegramm aus Moskau vom 22. Februar 1946 und der darin entwickelten Eindämmungsstrategie (containment) gegenüber der UdSSR – eine der maßgeblichsten. Doch 1997, im Lichte seiner jahrzehntelangen Erfahrungen in den internationalen Beziehungen, hatte Kennan gewarnt: „Die Nato auszuweiten wäre der schicksalsschwerste Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg. Man kann erwarten, dass eine derartige Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit entflammen wird; dass sie die Entwicklung der russischen Demokratie negativ beeinflusst; dass sie in den Ost-West-Beziehungen die Atmosphäre des Kalten Krieges zurückbringen wird und dass sie die russische Außenpolitik in Richtungen drängt, die uns ganz und gar nicht gefallen werden.“

Andrew Cockburn: Game on: Ost gegen West, blaetter.de, Februar 2015. Zum Volltext hier klicken.

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„Heinrich Mann, geboren am 27. März 1871, als ältestes von fünf Kindern eines Lübecker Senators“, so Klaus Bellin in seiner Laudation zum 150. Geburtstag des Dichters, „war ein Literat, der sich anfangs, als junger Mann, in nichts vom intellektuellen Gros seiner Generation unterschied, die auf Bismarck und Wilhelm II. setzte, der sogar ein antisemitisches Blatt redigiert hatte, bald aber merkte, dass er sich verirrt hatte. Aus dem Jüngling, der sogar am Krieg nichts Anstößiges fand, wurde der erbitterte Kritiker einer verhängnisvollen Politik […].“
Und Gunnar Decker vermerkt: „In der DDR wurde Heinrich Mann […] so etwas wie ein Klassiker. Man bemühte sich, das Brüderpaar Thomas und Heinrich Mann in die Analogie zum geistigen Bund zwischen Goethe und Schiller zu stellen. ‚Der Untertan‘ war in der DDR Pflichtlektüre, was ihn uns als Schüler eher entfremdete. Wolfgang Staudtes großartige Verfilmung mit Werner Peters als Diederich Heßling von 1951 war in der Bundesrepublik bis 1957 verboten, dann wurde eine gekürzte Fassung freigegeben, allerdings mit dem Vorspruch versehen, dass es sich bei dem hier geschilderten Fall um ein ‚Einzelbeispiel‘ handele. Erst ab 1971 wurde die ungekürzte Fassung dieser bissigen Satire auf das Preußentum in der Bundesrepublik gezeigt.“
Weiteres Interessantes zu Heinrich Mann präsentiert eine Filmdokumentation von Norbert Busè.

Klaus Bellin: „Ich tat, was ich konnte“, neues-deutschland.de, 25.03.2021. Zum Volltext hier klicken.

Gunnar Decker: Ein Citoyen des Geistes, neues-deutschland.de, 26.03.2021. Zum Volltext hier klicken.

Norbert Busè: Heinrich Mann – Der unbekannte Rebell, zdf.de, verfügbar bis 27.03.2022. Zum Video hier klicken.

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Es gibt ja immer noch Leute, die behaupten, der Kapitalismus sei ein Schweinesystem, und die Praktiken gewisser Konzerne leiten ihnen ein ums andere Mal Wasser auf die Mühlen. Damit hat sich Hannes Breustedt am Beispiel von Amazon befasst. Er berichtet unter anderem von „Dienstanweisungen einer für Amazon tätigen Lieferfirma […], in denen Fahrer dazu aufgerufen wurden, ‚Urinflaschen‘ nach Schichtende aus ihren Vans zu entsorgen“. Zu deren Benutzung käme es, weil die Fahrer „aufgrund der enormen Arbeitsbelastung mitunter keine Zeit finden, auf die Toilette zu gehen“. Damit korrespondiert, dass „Krisengewinner Amazon seinen Profit 2020 um 84 Prozent und seinen Aktienkurs um 82 Prozent gesteigert“ habe und dass das „Privatvermögen von Jeff Bezos […] im Corona-Jahr um 67,9 Milliarden Dollar gewachsen“ sei – mithin um „das 38-fache der gesamten Gefahrenzulagen, die Amazon seinen Beschäftigten in der Pandemie gezahlt habe“.

Hannes Breustedt: Show-down in Alabama: Bekommt Amazon seine erste US-Gewerkschaft?, heise.de, 29.03.2021. Zum Volltext hier klicken.