Wolfgang Wippermann in Dankbarkeit
Mitte der 1990er Jahre durfte ich mich fast 20 Jahre nach dem Diplom einem Ergänzungsstudium der Geschichte widmen, um mich anschließend noch einmal dem Ritual einer ergänzenden Staatsprüfung zu unterwerfen. Das war nötig, um unter dem (West-)Berliner Schulrecht Abiturprüfungen abnehmen zu dürfen. Aus verschiedenen Gründen favorisierte ich die Freie Universität in Dahlem. Für das abzulegende Hauptseminar wollte ich nicht in den Dunstkreis Ernst Noltes – und belegte ein ideologiekritisches Seminar zur Geschichte des Nationalismus in Deutschland. Das fand ich spannend – und erlebte dann über zwei Semester eine Totaldemontage bislang auch von mir für sakrosankt gehaltener Geistesgrößen des „progressiven bürgerlichen Erbes der deutschen Nationalkultur“ vom Philosophen Fichte über Ernst Moritz Arndt, natürlich den unsäglichen „Turnvater“ Jahn bis hin zu Rudolf Virchow. Von Arthur Moeller van den Bruck und dem von manchen Linken immer noch hochgehaltenen Hitler-Gegner Ernst Niekisch, über den ich dann selbst arbeitete, ganz zu schweigen. Das Seminar leitete Wolfgang Wippermann. Dass Wippermann Nolte-Schüler war, erfuhr ich erst einige Zeit später. Seine Seminare waren berühmt – und sie waren auch berüchtigt. So mancher Studi verließ am Abend mit gerupftem Hahnenkamm das enge Kabuff in der „Rostlaube“ an der Habelschwerdter Allee. Wenn Wippermann etwas absolut nicht ab konnte, waren es mit Phrasen und Dummschwatz gewürzte Thesen ohne hinreichende wissenschaftliche Fundamentierung.
Mit geradezu stürmischer Begeisterung stürzte er sich selbst in eine Fehde nach der anderen: In der „Goldhagen-Debatte“ um das Jahr 1996 herum – es ging um die These Daniel Goldhagens, dass die Deutschen Hitlers „willige Vollstrecker“ der Shoah gewesen seien – war er das Enfant terrible der bundesdeutschen Historikerzunft. Er ergriff fast als Einziger leidenschaftlich Partei für den damals noch jungen amerikanischen Kollegen. Die Totalitarismus-Doktrin war für ihn eine Art pseudowissenschaftliches Voodoo, das die Ebene des zulässigen historischen Vergleiches mit der politisch gesteuerten Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus vertauscht habe. Er machte das unter anderem am 1997 erschienenen „Schwarzbuch des Kommunismus“ fest. Kommunismus-Fan war der Vollblut-Sozialdemokrat nicht. In diesem Zusammenhang attackierte er heftig den „Forschungsverbund SED-Staat“, dessen tatsächlich zweifelhafte Ergebnisse das Produkt von „Hobbyhistorikern“ und „nekrophilen Antikommunisten“ seien. Der „Forschungsverbund“ ist allerdings an derselben Universität angesiedelt, an der Wippermann seine Professur innehatte … Hier war sein Forschungsschwerpunkt die Ideologiegeschichte und ihre politischen Auswirkungen. Intensiv arbeitete er zu Problemen des Faschismus, des Antisemitismus und des Antiziganismus. Letztlich kreiste sein gesamtes Bemühen um die Freilegung des weitverzweigten Mycels der Menschenverachtung. Wolfgang Wippermann war ein leidenschaftlicher Aufklärer und Humanist. Mit Entsetzen habe ich erfahren, dass er am 3. Januar 2021 kurz vor seinem 76. Geburtstag in Berlin gestorben ist. Er war mein Lehrer. Ich habe ihm viel zu verdanken.
verführung auf dem dach
wo dem volk
ein verstand fehlt
steigen verführer
voraus auf das dach
und fordern beglückt
das volk möge
springen …
Vor der Kamera – ein Gaukler
Armin Mueller-Stahl, der von sich selbst mit dem ihm eigenen Understatement wiederholt als von einem Gaukler sprach, muss man Blättchen-Lesern nicht vorstellen. Weder denen aus dem Osten, wo der Mime ab 1973 als Stasi-Aufklärer Werner Bredebusch alias Achim Detjen mit einem kongenialen Ensemble über Jahre hinweg etwas abgeliefert hat, das „drüben“ als Straßenfeger geadelt worden wäre, noch aus dem Westen, wo er nach seinem durch die Biermann-Affäre finalisierten Weggang aus der DDR unter anderem durch zwei Fassbinder-Filme rasch reüssierte. Nur jüngere Blättchen-Leser können mit diesen beiden Künstlerleben, denen sich hernach noch eines in Hollywood und eines im vereinigten Deutschland zugesellten, womöglich nichts anfangen. Die müssten dann einfach mal googeln. Es lohnt sich: Mueller-Stahl ist der deutsche Schauspieler, der sowohl im einzigen DEFA-Spielfilm mitgewirkt hat, der je für den Oscar nominiert wurde (als Bester fremdsprachiger Film: „Jacob, der Lügner“, 1974), und der später für eine australische Produktion auch selbst Anwärter auf diese Trophäe wurde (als Bester Nebendarsteller: „Shine – Der Weg ins Licht“, 1997).
Blättchen-Autor F.-B. Habel hat rechtzeitig, um es dem Jubilar zum 90. Geburtstag quasi mit auf den Gabentisch zu legen, ein Kompendium vorgelegt, dass an sämtliche 155 Kino- und Fernsehfilmrollen Mueller-Stahls sowie auch daran erinnert, was in deren Entstehungsjahren so politisch los war in der größten DDR der Welt und auch anderenorts. Nicht zuletzt finden Mueller-Stahls Theater-, Synchron- und Hörspielrollen sowie seine Auftritte als Zeitzeuge in Dokumentarfilmen und Fernsehessays ebenfalls Erwähnung.
Die Kritik hat Habels Arbeit wohlwollend aufgenommen. So schrieb Günter Agde im nd: „Der Berliner Filmhistoriker Frank-Burkhard Habel stellt das Lebenswerk Mueller-Stahls chronologisch entlang aller Filme vor. Er findet eine ebenso simple wie plausible Methode, Leben und Werk dieses Jahrhundertschauspielers zu ordnen und so zu beschreiben, dass er der überreichen Literatur, die es bisher schon über Mueller-Stahl gibt, durchaus noch eine neue Nuance hinzufügen kann. In seinem Willen nach Vollständigkeit spart Habel auch misslungene, gefloppte Filme nicht aus und solche, die hierzulande weder ins Kino noch ins Fernsehen gelangten.“ Und Andreas Kurtz, Berliner Zeitung, hob hervor: „Gelegentlich wirkten sich Entscheidungen für Rollen auch auf das Privatleben des Schauspielers aus. Frank-Burkhard Habel hat ein besonders deutliches Beispiel dafür gefunden: ‚Mueller-Stahls Einstieg in den USA war die Fernsehserie ‚Amerika‘, die sich in den Kalten Krieg einmischte. Er spielte einen sowjetischen Führer, der die USA unterjocht. Für diese Arbeit kündigte der Schriftsteller Jurek Becker ihm die Freundschaft.‘“
Der Besprecher kann sein Urteil kurz fassen: Das Buch ist höchst faktenreich und sehr unterhaltsam zu lesen; es eignet sich darüber hinaus auch bestens zum Verschenken.
Frank-Burkhard Habel: Armin Mueller-Stahl. Im Herzen Gaukler. Ein Leben vor der Kamera. Verlag Neues Leben, Berlin 2020, 288 Seiten, 20,00 Euro.
Zeit der Fregattvögel
In den tropischen Meereszonen sind die Fregattvögel (Fregatidae) zu Hause. Im Alltag ziemlich hässlich verstehen es die Männchen, sich mittels eines aufblasbaren, dann scharlachroten Kehlsacks zu imponierenden Erscheinungen aufzupusten. Rund um die schnarrende Geräusche ausstoßenden, aufgeplusterten Kandidaten hocken dann die Weibchen und dürfen wählen. Nach der Wahl ist alles wieder vorbei.
Beim Menschen ist das ähnlich. Allenthalben sieht man jetzt aufgeplusterte Exemplare herumschnarren „Ich kann Kanzlerin!“ oder „Wir können Regierender Bürgermeister!“ Wir sind im Wahljahr. Nach der Wahl ist alles wieder vorbei, und wir gucken frustriert wie die Weibchen des Prachtfregattvogels aus dem Nest. Der Erwählte hat sich dann wieder mal vom Acker gemacht. Bis zur nächsten Balz, äh, Wahl natürlich. Es gibt noch eine weitere Gemeinsamkeit: Fregattvögel sind Kleptoparasiten. Sie attackieren andere Vögel und jagen ihnen mit viel Geschrei das Futter ab. Wir werden auch das wieder erleben. Spätestens dann, wenn auf den Marktplätzen wieder der Streit über die Frage hochkocht, wer wem was aus dem Wahlprogramm abgeschrieben hat.
Noch’n Corona-Storno
Eigentlich wollte Blättchen-Leser Hans-Jürgen Laufer seit dem 19. Januar 2021 wieder einmal (siehe auch die Bemerkungen im Blättchen 3/2018) „Komische Bilder“, wie er seine Fotomontagen dieses Mal nannte, der Öffentlichkeit präsentieren. Das Plakat für die Ausstellung in der Stadtbibliothek in Mühlheim an der Ruhr war bereits fertig. Doch dann machte der allgemeine Lockdown auch ihm einen fetten Strich durch die Rechnung. Allerdings gibt es dank Digitalisierung zumindest ein Album zur Exposition, das man downloaden und in aller Ruhe betrachten kann.
Blätter aktuell
Was man besitzt und beruflich verdient, ist auch moralisch verdient. So lautet die herrschende westlich-kapitalistische Ethik. Der Philosoph Michael Sandel zeigt auf, wie Erfolg zu einem Ausdruck der Tugendhaftigkeit gemacht wird. Und dass das Gleiche auch in der Politik gilt: Welche Nation reich und mächtig ist, muss auch gut sein – und dazu auserwählt, zu führen.
Konzerne wie Google, Amazon oder Facebook haben in den vergangenen zwanzig Jahren die zentralen Infrastrukturen unserer digitalen Gesellschaft in Besitz genommen. Dagegen hat der europäische Gesetzgeber, nach Jahrzehnten des Wegsehens, nun endlich eine spezielle Verordnung auf den Weg gebracht: das Digital Service Package. Aus Sicht der Politikwissenschaftler Dominik Piétron und Philipp Staab könnte die Verordnung tatsächlich die langersehnte Kehrtwende einleiten – auch wenn sie derzeit noch etliche Leerstellen und Unstimmigkeiten aufweist.
Seit Beginn der Coronapandemie gewinnt das Homeoffice an Bedeutung – nicht nur als Instrument zur Eindämmung des Infektionsgeschehens. Vielmehr ist es zum Synonym guter Arbeit im postindustriellen Kapitalismus avanciert. Dabei birgt das Homeoffice erhebliche Schattenseiten, warnt IG-Metall-Vorstand und Blätter-Mitherausgeber Hans-Jürgen Urban. Um das Arbeiten von zu Hause im Sinne der Beschäftigten zu gestalten, gelte es, den Rationalisierungsdruck der Kapitalseite wirksam zu kontern.
Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Ägypten: Die immunisierte Diktatur“, „Westsahara: Trumps letztes Opfer?“ und „Souverän, aber abhängig: London nach dem Brexit“.
Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Februar 2021, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.
WeltTrends aktuell
Unter Präsident Putin ist Russland wieder auf die Weltbühne zurückgekehrt, wurde wieder zur handelnden Großmacht. Auch wenn es der eine oder andere westliche Politiker als „Regionalmacht“ apostrophiert oder mit Sanktionen in die Knie zwingen möchte. Auf die damit verbundenen Probleme verweist im Thema Dmitri Trenin vom Moskauer Carnegie Center. Weitere russische Experten diskutieren Moskaus Außenpolitik, insbesondere im Hinblick auf Deutschland, China, die USA und Iran.
Angesichts der oftmals einseitigen Behandlung „russischer Themen“ in vielen deutschen Medien möchte WeltTrends damit zu einer intensiveren Diskussion über die russische Außenpolitik und zu einem besseren Verständnis dieses Landes beitragen.
Im WeltBlick wird die Rolle des im Januar in Kraft getretenen Verbotsvertrages für Kernwaffen unter die Lupe genommenen, während sich weitere Beiträge mit der Korruption in der Ukraine und den Auswirkungen der heftigen Frauenproteste in Polen befassen.
Ludger Vollmer, Mitbegründer der GRÜNEN wirft in einem Gastkommentar einen kritischen Blick auf das neue Grundsatzprogramm seiner Partei.
In der Analyse beschäftigt sich Klaus Larres (University of North Carolina) mit den schwierigen deutsch-amerikanischen Beziehungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Im Kommentar beleuchtet Wolfgang Schwarz (Das Blättchen) die Problematik „Raketenabwehr versus strategische Stabilität“.
WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 172 (Februar) 2021 (Schwerpunktthema: „Zurück! Russland auf der Weltbühne“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.
Aus anderen Quellen
„Wer die Frage“, so Susan Neiman, Philosophin, Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam und eine der Protagonistinnen der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“, „‚absurd‘ findet, ob Arendts Kritik der israelischen Politik ihr heute angelastet würde, hat wohl vergessen, wie lange sie unter dem Streit über ihren Text ‚Eichmann in Jerusalem‘ zu leiden hatte. Darin hat sie unter anderem die israelischen Ehegesetze – die bis heute verhindern, dass Juden und Nichtjuden im Land heiraten dürfen – mit den Nürnberger Gesetzen verglichen. Ich finde diesen Vergleich deplatziert. Doch in dem heutigen Klima könnte dieser durchaus reichen, Arendt die Verharmlosung jener Nazis, vor denen sie fliehen musste, vorzuwerfen.“
Susan Neiman: Antisemitismus-Debatte: Wer darf für Juden sprechen?, berliner-zeitung.de, 05.01.2021. Zum Volltext hier klicken.
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In einem Offenen Brief an die Kulturstaatsministerin dieser Republik, Monika Grütters (CDU), beschreibt Julischka Eichel ausführlich die existenzielle, weil letztlich ausweglose Krise, in die ihresgleichen – freischaffende Schauspieler – durch den Corona-Lockdown geraten sind: „[…] selbst Behörden und Verwaltungen, die es wissen müssten, haben […] nur gefährliches Halbwissen oder wissen gar nichts – entscheiden aber, ob wir unterstützt werden oder nicht. Das größte Aber ist allerdings: Meine/die Theater verhalten sich nicht öffentlich zu uns Gästen. Im ersten Lockdown gab es mehrere Theater, die nur teilweise die ausgefallenen Vorstellungen zahlen wollten. Genutzt haben ihnen die Gastverträge, die unmöglich sind, die Paragraphen enthalten, die arbeitsrechtlich nicht haltbar, aber gängige Arbeitspraxis sind. Da kein Schauspieler klagt, denn alle fürchten Repressalien und Nachteile, bleibt alles beim alten.“
Julischka Eichel: Wir sind nicht gerettet!, nachtkritik.de, Januar 2021. Zum Volltext hier klicken.
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„Es steht im Kleingedruckten einer 74-seitigen Fachpublikation, die vom Robert Koch-Institut (RKI) am 8. Januar veröffentlicht wurde“, beginnt Paul Schreyer: „Die Wirksamkeit des Biontech-Impfstoffs ist in der Altersgruppe über 75 Jahre ‚nicht mehr statistisch signifikant‘ schätzbar. Aussagen über die Wirksamkeit seien daher ‚mit hoher Unsicherheit behaftet‘, die Evidenzqualität für eine Wirksamkeit bei alten Menschen ‚gering‘. Man darf fragen: Warum empfiehlt das RKI dann die Impfung?“
Paul Schreyer: RKI räumt ein: Geringe Evidenz für eine Wirksamkeit der Impfung bei alten Menschen, multipolar-magazin.de, 19.01.2021. Zum Volltext hier klicken.
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„Die Westsahara“, erkäutert Nadjat Hamdi, Vertreterin der Frente Polisario in Deutschland, „steht seit den 1960er Jahren auf der UN-Liste der noch nicht entkolonialisierten Länder. Marokko und Mauretanien haben beide einen Anspruch auf die Westsahara erhoben, doch der Internationale Gerichtshof hat am 16. Oktober 1975 in einem Gutachten klargemacht, dass keines der beiden Länder einen Souveränitätsanspruch über die Westsahara begründen konnte. Im zweiten Teil dieses Gutachtens wurde der UN empfohlen, ein Selbstbestimmungsreferendum in der Westsahara zu organisieren, was jedoch weder Marokko noch Mauretanien davon abhielt, in die Westsahara einzumarschieren.“
Jakob Reimann: „Alle verhalten sich wie Räuber.“ Westsahara – die letzte Kolonie Afrikas, nachdenkseiten.de, 14. 01.2021. Zum Volltext hier klicken.
Schlagwörter: Antisemitismus, Armin Mueller-Stahl, Biontech, Blätter für deutsche und internationale Politik, Clemens Fischer, F.-B. Habel, Fotomontage, Frente Polisario, Günter Hayn, Hans-Jürgen Laufer, Impfstoff, Impfung, Juden, RKI, Russland, Susan Neiman, Wahljahr, WeltTrends, Westsahara, Wolfgang Brauer, Wolfgang Wippermann, Wolfram Eschenbach