21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

Bemerkungen

Im kommenden Jahr

werden die deutschen Militärs und die deutschen Wehrverbände weiter rüsten, und die deutschen Außenpolitiker werden es ableugnen.
Im kommenden Jahr werden sich die deutschen Richter einbilden, ein bestandenes Assessorexamen berechtige sie, den lieben Gott zu spielen und zu ›strafen‹; insbesondere in den kleinen unkontrollierten Provinzgerichten werden die Proletarier auf den Anklagebänken nichts zu lachen haben.
Im kommenden Jahr werden die Gefangenen in den Zuchthäusern, Gefängnissen und Arrestlokalen sinnlos leiden: unter Sexualnot, unter schlecht bezahlten Aufsehern und unter der ›Hausordnung‹ der Direktoren.
Im kommenden Jahr werden die Börsen mit Wertpapieren handeln, ohne dass sich auch nur einer der Spieler darüber Gedanken macht, womit er eigentlich spielt: mit der Arbeitskraft von Proletariern, die mit sechzig Jahren wenigstens wissen, wofür sie das ganze Leben hindurch geschuftet haben: für eine Tuberkulose.
Im kommenden Jahr wird die Allmacht des amoralischen Staats noch höher hinaus wollen als im vergangenen.
Ich erwarte also vom kommenden Jahr nichts Besonderes.

Ignaz Wrobel

Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1929, Nr. 1, S. 3.

Zur inneren Dynamik des Wettrüstens

Die Geschichte hat bewiesen, daß auch ohne Gefährdung der vitalen Interessen des modernen Nationalstaates dieser in einen Krieg verwickelt werden kann. Auch heute ist es theoretisch durchaus möglich, daß zwei Großmächte, selbst wenn sie keine entscheidenden Konflikte miteinander haben, in einen Krieg gegeneinander getrieben werden können – und zwar allein durch die innere Dynamik des Wettrüstens. Man weiß, wie so etwas vor sich geht: Es gibt eine Armee, die motiviert werden muß. Die Armee hat einen Planungsstab. Der Planungsstab muß einen möglichen Kriegsfall konstruieren, damit die zuständigen Stellen und die Streitkräfte wissen, worauf sie sich vorzubereiten haben. Dazu gehört natürlich auch die Vorstellung von einem bestimmten Gegner. Als angenommener Gegner paßt am besten der nächste und mächtigste Nachbar, darum wird er für diese Rolle ausgewählt. Ihm mißt man dann die allerboshaftesten Absichten bei. Rationale Motive für diese Absichten braucht man nicht. Es genügt allein die Tatsache, daß er in militärischer Hinsicht fähig ist, oder für fähig gehalten wird, die entsprechenden Operationen auszuführen. Bei uns wird von militärischer Seite immer wieder beteuert, wir können uns nicht mit den wirklichen Absichten des Gegners befassen, wir können nur mit seinen ‚capabilities‘ – mit seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten – rechnen. Von ihm wird angenommen, daß er gegen uns alles erdenklich Böse zu unternehmen trachtet, dessen er fähig ist, oder wessen wir ihn für fähig halten. Auf diese Weise tritt an die Stelle einer mehr oder weniger rational handelnden Führungsgruppe politischer Gegner ein emotionalisiertes Ungeheuer, das keine anderen Interessen hat und keine anderen Gedanken kennt als seinen fanatischen Zerstörungswillen. Dieser erdachte Gegner wird mit jeder möglichen militärischen, organisatorischen und psychologischen Tugend ausgestattet. Bei ihm klappt alles – bei uns natürlich nicht. Alle seine Waffen sind hochmodern und in makellosem Zustand. Die Moral seiner Truppen läßt nichts zu wünschen übrig, die Disziplin natürlich auch nicht. Bei uns gibt es dafür einen terminus technicus, man nennt dies: ‚The worst-case assumption‘. Es versteht sich von selbst, daß man einem solchen Gegner gegenüber nie stark genug sein kann. Wie man auch rüstet, es ist nie genug. Um dieser Situation wirklich gerecht werden zu können, müßte man das ganze Leben eines Volkes der Kriegssituation angleichen, was – so heißt es – der Gegner selbstverständlich längst getan hat. Genauso geht es natürlich bei dem erdachten Gegner zu. Er geht von derselben Annahme aus, unterliegt denselben Zwängen und spricht und handelt entsprechend. Aus dem Zusammenspiel dieser psychopathischen Reflexe entsteht eine Situation, in der alles möglich ist. Nach politischen Gründen fragt längst niemand mehr. Das Erdachte wird Realität, der Alptraum zur Wirklichkeit. Am Ende scheint es den Menschen – und vor allem den Staatsmännern und Militärs – fast unglaubhaft, daß ein Krieg, auf den man sich so lange und so gründlich vorbereitet hat, nicht stattfinden sollte.

George F. Kennan

George F. Kennan: Russen und Amerikaner: Warum sie sich fürchten, Die Zeit, 01.07.1977, S. 3 (Auszug; die Schreibweise des Originals wurde beibehalten; Überschrift von der Redaktion).

Gediegene Aussichten

Nun wird also doch über die Groko verhandelt. Sollten da irgendwo schon mal knallende Champagner-Korken zu hören sein, dann ganz bestimmt aus dem Lager der deutschen Rüstungsindustrie und ihrer Lobbyisten.
Denn die SPD hatte sich 2013 zwar vorgenommen, in der Großen Koalition eine restriktive Genehmigungspraxis für Rüstungsexporte durchzusetzen, aber das hat – angesichts hinlänglicher Erfahrungen mit guten Vorsätzen der SPD – schon seinerzeit keinem Branchenmanager den Schlaf geraubt. Auch Siegmar Gabriels – erst als Wirtschaftsminister, dann als Außenminister und Vizekanzler an sämtlichen Exportgenehmigungen persönlich beteiligt – mantraartige Wiederholungen der Absicht musste niemand ernster nehmen als sie nicht gemeint waren. Und die Bilanz gibt allen Branchenoptimisten mehr als Recht: Der Gesamtwert der deutschen Rüstungslieferungen ins Ausland lag von 2014 bis 2017 bei 25,1 Milliarden Euro. Das sind 21 Prozent mehr als in den Jahren der schwarz-gelben Koalition von 2010 bis 2013. Da kann sich die Branche doch wahrlich nur auf die Schenkel schlagen und „Auf ein Neues!“ lallen.
Was aber die SPD anbetrifft, bei der man allenfalls noch im letzten Buchstaben so etwas wie erkennbare Substanz ausmachen kann, fühlt man sich einmal mehr erinnert an Viktor Tschernomyrdin, einen der maßgeblichen Akteure im postsowjetischen Russland, der das Debakel der Jelzin-Ära so auf den Punkt brachte: „Man wollte das Beste, aber es kam das Übliche.“

hh

Politischer „One-Night-Stand“

Es ist ein bisschen wie bei spektakulären – gewaltfreien! – Raubzügen, wie etwa jenem, bei dem dem Berliner Bode-Museum unlängst eine zentnerschwere Goldmünze per gerissener Tatplanung- und -ausführung „abhanden“ gekommen ist: Verbreitet gestattet man sich beim Erfolg solch durchaus krimineller Akte allenthalben eine klammheimliche Schadenfreude. Nun könnte man mit solcher Süffisanz auch den derzeit laufenden Vorgang in der SPD betrachten, der nach dem jüngsten Parteitag dank der ungebrochenen Widerständigkeit vor allem der Jusos urplötzlich hunderte neue Mitglieder zuwachsen. Die Zielvorgabe dessen ist im Aufruf des NRW-Nachwuchses in klare Worte gefasst: „Zehn Euro (gemeint ist der Mitgliedsbeitrag) gegen die große Koalition“. Das ist im Klartext der Aufruf, für ein, zwei Monate mal fix der Partei beizutreten, um bei deren finaler Mitglieder-Abstimmung über die Groko-Teilnahme der SPD selbige – so die Hoffnung – zu Fall zu bringen. Danach kann man locker austreten und den Verein wieder sich selbst überlassen…
Auf den ersten Blick ist man auch in diesem Fall geneigt, dies vor allem als eine originelle Idee zu etikettieren, die zumal ein wenig Abwechslung in die sonst so festgezurrte Liturgie der Parteipolitik bringt. Zumal ja schon länger die Frage schwelt, ob das Basieren unserer Demokratie auf dem gegebenen Parteien-Konstrukt noch zeitgemäß ist, und das Heute und Morgen nicht andere Formen der politischen Führung eines Gemeinwesens verlangt. Man mag gerade letztere Überlegung für durchaus berechtigt halten, denn auch in Sachen Demokratie sind wir ganz sicher mit der bestehenden Praxis noch nicht am Ende der Geschichte angekommen. Nur – solange eine Gesellschaft vom Wettstreit, inklusive der Kooperation von Parteien abhängt und kein besseres Instrument zur Vertretung des Gemeinwillens als deren utopische Wünsche verfügbar ist, sind Methoden wie die hier zitierte der Jusos nur geeignet, Parteipolitik noch mehr zu diskreditieren, als diese das schon von sich aus zuwege bringt. Die anarchistische Parole „Keine Macht für Niemand“ ist weder erreichbar noch praktikabel. Politische „One-Night-Stands“, wie ein Kommentator die leider etwas pubertäre Juso-Aktion ziemlich zutreffend bezeichnet hat, helfen nur zu atomisieren, was – ob man das bedauert oder nicht – nach wie vor vonnöten ist: Zum Beispiel und nicht zuletzt eine SPD, die nicht zum Karnevalsverein deformiert wird.

Helge Jürgs

Commedia de Zweig

Freundschaft, Geschäfte, Erbschleicherei – das sind meist die Zutaten des Commedia dell´arte. An der in Italien und Frankreich beliebten Komödiengattung des 16. Jahrhunderts hat sich auch Shakespeares Gegenspieler Ben Jonson geübt. Sein Stück „Volpone“ hat kein Geringerer als Stefan Zweig übersetzt und bearbeitet, und als es sich jetzt Regisseur Thomas Schendel für das Berliner Schlosspark Theater vorgenommen hat, gab er ihm den Titel „Mosca und Volpone“, denn Mosca ist der schlitzohrige Diener des wohlhabenden und kränkelnden Kaufmanns Volpone, der das Zeitliche ohne Nachkommen zu segnen droht. Da gibt es so manche falschen Freunde und eigennützig interessierte Damen. Die Fäden hält Mosca in der Hand, eine Paraderolle für den Hausherrn Dieter Hallervorden.
Nach seinem Publikumserfolg in Hauptmanns Drama „Vor Sonnenuntergang“ (Das Blättchen 4/2016) zeigt er sich nun wieder von der komödiantischen Seite, nicht ohne seiner Dienerfigur auch nachdenkenswerte Töne zu geben. Mario Ramos als Volpone ist ein ihm ebenbürtiger Partner. Sehr amüsant wirken auch Regisseur Schendel als Pfandleiher und Jonathan Kutzner, der als dessen Sohn trotz seiner Jugend über eine starke Bühnenpräsenz verfügt und das Zeug zum Publikumsliebling hat. Unübertrefflich ist jedoch Franziska Troegner als Kurtisane Canina, die ihre Figur genau zwischen Dümmlichkeit und Bauernschläue hält und dank der Ausstatterin Daria Kornysheva umwerfend komisch aussieht. Schendel hat der Komödie eine Rahmenhandlung gegeben, so dass man ein Spiel im Spiel erlebt, und Hallervorden als Prinzipal im Stück und im Leben kleine, vielbelachte Anspielungen geben kann.

Frank Burkhard

Nächste Vorstellungen: 13.–17. Februar 20 Uhr, 18.2. um 18 Uhr.

Ich und mein Spleen

Da gibt es beispielsweise diejenigen, die die Angewohnheit haben, Wäschestücke immer ihrer Größe nach geordnet an die Leine zu hängen, oder die bei der Verwendung der Wäscheklammern peinlich genau darauf achten, dass sie in einer ganz bestimmten farblichen Reihenfolge arrangiert sind. Andere haben das zwanghafte Verlangen, alles und jedes zu zählen – von den Fliesen im Badezimmer bis hin zu den Schritten von der Garage zum nächsten Supermarkt. Und wieder andere haben das Bedürfnis, alle möglichen Dinge in ihrer unmittelbaren Umgebung streng symmetrisch auszurichten.
Nach landläufiger Auffassung sind sie etwas, das im günstigsten Fall nicht den geringsten Schaden anrichtet, im ungünstigsten Fall hingegen das Alltagsleben in erheblichem Maße belasten und stören kann. Gemeint sind die Spleens, Macken, Schrullen oder Marotten, die sich jeder Mensch früher oder später zulegt – seien es etliche davon, seien es bloß einige wenige.
Die Sozialpsychologin und Wissenschaftsjournalistin Fanny Jiménez hält diese gängigen Annahmen für fundamental falsch. In ihren Augen läuft man, wenn man den einen oder anderen Spleen hat, zwar Gefahr, damit anderen gewaltig auf die Nerven zu fallen. Aber umso größer sei der Nutzen solcher vermeintlich irrationaler Eigenheiten für einen selbst. Spleens würden nämlich dazu dienen, in einer Welt, die sich ständig verändert, die oft unberechenbar und unkontrollierbar erscheint und deswegen Ängste, Verunsicherung und Nervosität auslöst, der Psyche emotionalen Halt zu geben, zu beruhigen oder zu trösten und zu verhindern, dass man sich in heiklen Situationen überfordert oder ohnmächtig fühlt. Aber nicht genug damit. Etliche Marotten sind laut Jiménez nichts anderes als ritualisierte Vorsichtsmaßnahmen, die tatsächlich dazu geeignet sind, vor einer ganzen Reihe von Gefahren zu schützen.
Im Übrigen konstatiert Jiménez, dass Singles die besten Chancen haben, sich jede Menge Marotten zuzulegen. Denn wenn man längere Zeit allein lebt, benötigt man sie dringend, weil man auf sich selbst zurückgeworfen ist Außerdem wird man sich in einer solchen Lage seiner Marotten kaum bewusst, und man kann sie ungehemmt ausleben.
Fanny Jiménez hat für die Welt am Sonntag ein Jahr lang Woche für Woche die äußerst beliebte Kolumne „Bin ich noch normal, wenn …? geschrieben. Auf diesen Beiträgen fußt dieses Buch. Fanny Jiménez ist es gelungen, einem wenig beachteten menschlich-allzumenschlichen Phänomen wissenschaftlich auf den Grund zu kommen. Eine überaus aufschlussreiche und unterhaltsame Lektüre.

Frank Ufen

Fanny Jiménez: Ich und mein Spleen. Was wir tun, wenn wir alleine sind. C. H. Beck, München 2017, 171 Seiten, 11,95 Euro.

Skeptische Weltsicht

„Montagen in der Manie der Surrealisten“ nennt der seit 1993 in Mühlheim ansässige Hans-Jürgen Laufer seine Kunst.
Bereits vor dem Eintritt in den Ruhestand beschäftigte sich Laufer, von Hause aus Ingenieur und früher unter anderem im Kraftwerksbau tätig, in seiner Freizeit mit Fotografie und Fotomontagetechnik. Er experimentierte mit digitaler Bildbearbeitung. Seine Werkzeuge sind Software wie Photoshop und Datenbanken. Daneben ist die Beschäftigung mit Geschichte, Philosophie, Naturwissenschaft und Technik wesentlich für ihn.
In seinen Montagen nimmt er stilistische und handwerkliche Anleihen vor allem in den 1920er Jahren auf, seine Themen jedoch sind durchweg heutig.
Laufer möchte mit seinen Werken den Betrachter neugierig machen und anregen, selbst über die Welt und ihre Zusammenhänge nachzudenken.
Kurz gesagt: der Künstler will – Zeitzeichen senden.

am

„Zeitzeichen“. Montagen von Hans-Jürgen Laufer (Ausstellung) – noch bis 22. Februar 2018; Stadtbibliothek im Medienhaus (3. Etage), Synagogenplatz 3, 45468 Mühlheim an der Ruhr; Mo–Fr: 10.00–18.30 Uhr, Sa: 10.00–14.00. Zum Album hier klicken!

Ein wütender Wirbel aus dem hohen Norden

Während die zum Jahreswechsel getätigten Vorsätze langsam dahinschmelzen („same procedure as every year…“), bietet der musikalische Bereich immerhin die Chance, sich mit neuen Interpreten und neuen Tönen zu beschäftigen.
Das Musiklabel Nordic Notes ist immer wieder erfolgreich bei der Suche nach musikalischen Schätzen aus dem hohen Norden. Sicherlich kein Fall für die Rubrik „Kuschelpop“ ist die Sängerin Maija Kauhanen. Sie ist Leadsängerin der finnischen Popband Malmö und hat nun ihr erstes Soloalbum veröffentlicht: „Raivopyörä“ (übersetzt heißt dies etwa: wütender Wirbel).
Die Finnin ist nicht nur Sängerin und Komponistin, sondern auch eine versierte Multiinstrumentalistin. Die veritable One-Woman-Band kombiniert eine kraftvolle, ausdrucksstarke Stimme mit einer Kantele, einem finnisches Zupfinstrument mit fünf Saiten. Unterlegt sind die Lieder mit modernen Beats und wilden Rhythmen, so dass sich eher ruhige Klanglandschaften und sehr aufregende Grooves abwechseln.
Einige der Songs beschäftigen sich mit Frauenschicksalen und erzählen Geschichten von häuslicher Gewalt und der Verheiratung minderjähriger Mädchen. Doch neben Anklagen finden auch Trost und Hoffnung Eingang in ihre Lieder.
Sehr symbolhaft ist das Albumcover, auf dem die Künstlerin in den üppigen Faltenwurf eines schwarzen Kleides gehüllt ist: einerseits die verschiedenen Schichten des Lebens, andererseits das Verbergen oder Vorzeigen des Körpers, je nach der Bewegung der Trägerin.
Produziert wurde dieses Album interessanterweise von dem walisischen Musiker Colin Bass, der in der legendären Progressive Rock-Band „Camel“ mitspielt.

Thomas Rüger

Maija Kauhanen: „Raivopyörä”, Nordic Notes 2017, circa 16 Euro.

Das Schweigen der Lemminge

Was für ein Zynismus: Beileibe nicht nur, aber eben auch in Berlin müssen Obdachlose im Winter auf der Straße übernachten und ernten außer bei empathischen Helfern bestenfalls ein wenig Bedauern der Öffentlichkeit, besondere Aufmerksamkeit außerhalb der alljährlichen Mitleidsroutine jedenfalls nicht.
Ganz anders bei einigen Hundert jungen Menschen, denen der Herr irgendwie wohl ins Gehirn gekotet haben muss, da die sich mehrere Tage und nächtelang bei Winterkälte vor eine Schuhhandlung setzen, um dort ein paar der limitierten Turnschuhe mit eingenähtem BVG-Jahresticket zu erwerben; für lediglich 180 Euro, wie man fairerweise hinzufügen muss. Und wo man auch die üppige Publicitybegleitung verfolgt, die diese Realposse hat, nirgendwo ein Journalist, der die Protagonisten mal befragt, ob sie sich darüber im Klaren sind, welch erbarmungswürdig fleischgewordene Beispiele sie dafür sind, wie der allobwaltende Konsumismus sie zu dessen willfährigen Lemmingen abgerichtet hat. Wobei – die jungen Menschen würden das vermutlich ebenso wenig verstehen wie all jene Schnäppchenjäger, die ganzjährig und witterungsunabhängig den Veitstanz um das Goldene Kalb vollführen
Es ist zum Speien, aber die Turnschuhposse ist ja lediglich ein Beispiel von vielen. Psychologische Konditionierung dieser Art vollzieht sich schließlich alle Nase lang auch anderweitig, wenn irgendwelche Mobiltelefone mit irgendeiner kleinen Neuerung auf den Markt geworfen werden, oder Spielkonsolen, oder „Produkte im Angebot“ oder Schlussverkäufe aller Art, oder …
Vor allem junge Menschen – die der Manipulation von Industrie und Werbung zeit ihres ganzen Lebens ausgesetzt sind, scheinen längst jenen Pawlowschen Reflex verinnerlicht zu haben, bei dem die Gabe von Futter immer mit einem Glockenton verbunden wurde und nach mehreren Wiederholungen schon allein auf den Glockenton hin ein Speichelfluss des Hundes zu beobachten war. Ein Glückwunsch den Manipulatoren. Überzeugender können Siege kaum ausfallen. Und solange das Abrichten von Menschen noch kein Straftatbestand ist – und in der Marktwirtschaft wohl auch nie werden wird – müssen diese sich außer um das verdient üppige Stück vom Profitkuchen der Werbewirtschaft keine Sorgen machen.

Helge Jürgs

Zur Dialektik von Tätern und Opfern

Seit 17 Jahren hat der Berliner Senat den Stundenlohn für studentische Hilfskräfte an den drei Universitäten der Stadt nicht mehr erhöht. Der liegt bei 10,98 Euro, und die Beschäftigten, die ja nur stundenweise „in Lohn und Brot“ sind, können damit auf keinen grünen Zweig kommen.
Vor 17 Jahren, 2001, waren die Mieten billig und ein ÖPNV-Jahresticket für Studenten kostete 109 Euro. Letzteres steht heute knapp vor der 200-Euro-Grenze, und Zimmer unter 400 Euro sind praktisch nicht mehr zu haben. Angesichts dieser Entwicklung kann man die Lohnzurückhaltung des Senats nur als das bezeichnen, was sie ist: eine bodenlose Sauerei. Auf früheren Zivilisationsstufen wäre Teeren und Federn als die Mindeststrafe für die Verantwortlichen wahrscheinlich nicht als unangemessen betrachtet worden.
Andererseits – Täter und Opfer gehören immer zusammen, und wer sich dergleichen 17 Jahre bieten lässt, weil er nicht begriffen hat, dass durch Arbeit verdientes Geld im Kapitalismus tendenziell immer so niedrig wie nur irgend möglich gehalten wird, der verdient es womöglich gar nicht besser.
Jetzt streiken die Betroffenen.
Wurde auch Zeit!

Sarcasticus

Hefe Dummheit

Dem deutsch-jüdisch und dann amerikanischen Psychiater Fritz Perls kommt das Verdienst zu, den eigentlichen, wenn auch nicht mit einem Personennamen versehenen Autor jenes berühmten Zitates ausfindig gemacht zu haben, das in der Regel Albert Einstein zugeschrieben wird. Demzufolge sei es „ein großer Astronom“ gewesen, der festgestellt habe: „Zwei Dinge sind, soweit wir wissen, unendlich – das Weltall und die menschliche Dummheit.“ Mal abgesehen davon, dass Perls diese Erkenntnis dann mit dem Hinweis darauf ergänzt hat, dass Einstein die Begrenztheit des Weltall ja bewiesen habe, ist bislang die Aussage über die allobwaltende Dummheit der /unter den Menschen über jeden Zweifel erhaben. Die USA – surprise, surprise – liefern dazu ein weiteres, zugegeben kleines aber doch aussagefähiges Beispiel. Aus manipulierter Abneigung gegen den Beigeschmack von behandeltem Trinkwasser und Sorge über dadurch vielleicht entstehende Gesundheitsrisiken folgen immer mehr Westküstler dem dortigen Hype, ungefiltertes, sogenanntes „Rohes Wasser“, zu kaufen – für nicht weniger als bis zu 30 Euro pro Zehn-Liter-Gallone. Dass das „Rohe Wasser“ dank der ausgebliebenen Filtrierung und Keimbehandlung gefährlicher sein dürfte als das Nass aus der Leitung, findet in den Kopf derer keinen Eingang, die jenen Profitmachern aufsitzen, die sich der Angst als Hefe für den großen Reibach bedienen.
Dass dies nicht nur in der Geschäftswelt sondern auch in der jedweder Politik eine probate Methode ist, sei hier nur angemerkt.

Hella Jülich

Die Müll-Ecke

Der durch keinerlei Semantik-Fesseln zu bremsende Metaphern-Schmied Hans-Dieter Schütt hat in neues deutschland wieder einmal zugeschlagen. „Dichter“, verkündete er anlässlich der x-ten Heiner-Müller-Auswahl, „sind freilich nicht zuständig fürs Lebbare, sondern fürs Unmögliche, das die Hirn- und Herzkammern sprengt.“ Hier scheint mir endlich eine schlüssige Erklärung für die Zunahme von Infarkten und Hirn-Aneurismen in der Hauptstadtregion vorzuliegen. Die Literaturwarte verzeichnen ein wieder steigendes Interesse an Lyrik. Bürger, hütet Eure Gesundheit, meidet Gedichte!
Abgrundtief Mysteriöses weiß hingegen die Berliner Zeitung zu berichten. Am 20. Januar soll der französische Star-Koch Paul Bocuse gestorben sein, behaupteten jedenfalls die Agenturen. „Schon länger an Parkinson erkrankt, verbrachte Bocuse die letzten Stunden von seinem Tod in seinem Geburtshaus bei Lyon“, teilte uns Axel Veiel mit. Wo Bocuse sich derzeit aufhält, vergass er uns leider mitzuteilen. Vielleicht steht der Meister wieder am eigenen, sehr irdischen „feu sacre“, dem „heiligen Feuer“, wie eine Bocuse-Biographie betitelt ist… Na dann: bon appétit!

Günter Hayn

Aus anderen Quellen

Nun wird also doch über eine Groko verhandelt. Nur 56 Prozent der Delegierten auf dem SPD-Sonderparteitag in Bonn waren dafür. Gespaltener kann eine Partei gar nicht sein. Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart beantwortet die Frage, ob die Entscheidung der Mehrheit richtig war, denn auch so: „Die kurze Antwort lautet: Ja. Wir brauchen schließlich eine stabile Regierung. Die ausführlichere Antwort allerdings lautet: Nein. Denn die Stabilität wird mit dem Verzicht auf Erneuerung erkauft. Gegenwart gegen Zukunft, das ist das Tauschgeschäft, auf das sich die Delegierten […] eingelassen haben.“
Gabor Steingart im Handelsblatt Morning Briefing, 22.01.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Seit den Golden Globes sehen viele plötzlich die Erlösung am Horizont: Oprah Winfrey als mögliche Nachfolgerin Trumps im Weißen Haus“, konstatiert Theo Sommer. Der macht aus seinem Herzen keine Mördergrube und urteilt ohne Wenn und Aber: „Sie wäre die Falsche fürs Amt.“
Theo Sommer: Kein Spielplatz für Promis, Zeit Online, 16.01.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Auf die Frage, ob Trump sich tatsächlich zur Wiederwahl stellen wird, meint der amerikanische Politologe Jeremy D. Mayer: „Ich glaube eher nicht. Er hat keinen Spaß an dem Job als Präsident. Meiner Meinung nach wartet er auf den richtigen Moment, an dem er zurücktreten kann. Das muss ein Moment des Erfolges für ihn sein. Er wird vielleicht sagen: Ich habe eine 300 Meilen lange Mauer an der Grenze zu Mexiko gebaut. Danke, das war’s. Oder seine Gesundheit wird nicht mitmachen. Er ist 71 Jahre alt, macht keinen Sport und ernährt sich wie ein ungehemmter Teenager. Man möchte als übergewichtiger Mann mit diesem Lifestyle nicht zum Kardiologen gehen müssen. Und selbst, wenn er es bis zu den Vorwahlen schafft, dann wird er herausgefordert werden. Man kann heute nicht sagen, wie gefährlich ihm das werden kann.“
Kordula Doerfler / Damir Fras: „Trump wartet auf den richtigen Moment, an dem er zurücktreten kann“, Berliner Zeitung (online), 13.01.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Selten sorgen Sicherheitsprobleme von Computern für so viel Aufsehen wie im Fall von ‚Meltdown‘ (Kernschmelze) und ‚Spectre‘ (Gespenst)“, beginnt Thiemo Heeg seinen Bericht und fährt fort: „Als die Lücken im Design von Computerchips vergangene Woche öffentlich wurden, war die Aufregung rund um den Globus groß. Die Tatsache, dass fast jeder Computer und jedes Smartphone angreifbar ist, dass das vielleicht schon seit Jahrzehnten passiert und dass mögliche Angriffe letztlich nicht mehr nachvollziehbar sind – dieser gravierende Umfang und diese anhaltende Unsicherheit machten die Geschichte zum GAU für die IT-Industrie und letztlich für Milliarden von Nutzern.
Thiemo Heeg: Größte Sicherheitslücke aller Zeiten, Faz.Net, 07.01.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Dass die USA bereits seit dem späten 19. Jahrhundert in Mittelamerika gern so agieren, als wäre es ihr Hinterhof, ist hinlänglich bekannt. Honduras bildet da keine Ausnahme. „Wann genau in Honduras die Bezeichnung ‚Prokonsul‘ für den US-Botschafter aufgetaucht ist“, schreibt Alexander Main, „weiß niemand mehr. Anfang der 1980er Jahre war sie bereits verbreitet, als US-Diplomaten in Tegucigalpa den heiklen Übergang von der honduranischen Militärdiktatur in eine militarisierte, eingeschränkte Demokratie begleiteten – oder eher: lenkten.“ Der Autor schlägt den Bogen bis in die unmittelbare Gegenwart.
Alexander Main: Die USA machen ihren Einfluss geltend – zugunsten des amtierenden Präsidenten, Le Monde diplomatique, 11.01.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Gönnerhafte Manager“, so Christoph Schäfer, „werben fürs Großraumbüro mit schillernden Versprechen. Sie preisen die neuen Räumlichkeiten als ein Paradies der Kommunikation, der Zusammenarbeit und von ‚new work‘ allgemein. Alles Quatsch! Der Grund dafür, dass Großraumbüros auf dem Vormarsch sind, ist furchtbar simpel: Diejenigen, die sich für ihre Einführung entscheiden, müssen anschließend nicht darin sitzen. Hätten die Entscheider in den hohen Stockwerken ein paar Wochen in einem Großraum gesessen, würden sie das nächste Mal vor allem Einzel- oder Zweierbüros planen.“
Christoph Schäfer: Zur Hölle mit dem Großraumbüro, Faz.Net, 08.01.2018. Zum Volltext hier klicken.