23. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2020

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Ein gemeinsames Haus Europa
ist […] niemals gebaut worden.

Sergej Lawrow,
Außenminister Russlands

Dass die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland nur noch eine Bewegungsrichtung kennen, nämlich vom jeweils aktuellen Tiefpunkt immer noch einen Schritt weiter nach unten, ist längst ein Allgemeinplatz. Und die Frage, ob oder gar wann und wie, respektive durch wen diese für beide Seiten fatale Tendenz – ein auch ungewollter militärischer Zusammenstoß an der NATO-Ostflanke könnte eine nicht beherrschbare Eskalation auslösen – gestoppt und die vorherrschende Konfrontation wieder in Richtung Kooperation gedreht werden könnte, scheint die hiesigen politischen Eliten nicht wirklich zu interessieren.

Dafür sind klare Schuldzuweisungen nach wie vor rasch bei der Hand: „Mit der Annexion der Krim und militärischen Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine hat Putin alle Brücken abgebrochen“ (Norbert Röttgen, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des Bundestages). Russland habe gezeigt, dass es bereit ist, militärische Gewalt anzuwenden, wenn es dies zur Durchsetzung seiner geopolitischen Interessen […] als notwendig erachtet“, und es „verstieß […] gegen ein Prinzip, das für die Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum von grundlegender Bedeutung ist: die Unverletzlichkeit der nationalen Grenzen“ (Heinrich Bauß, früherer NATO Assistant Secretary General). Gern werden auch der „Krieg gegen Georgien im Jahr 2008“ (Sabine Fischer, Carnegie Moscow Center), Russlands manipulative Eingriffe in die US-Präsidentenwahlen 2016 und zahlreiche weitere Verfehlungen und Verbrechen Moskaus – meist mehr oder weniger direkt dessen Präsidenten Wladimir Putin angelastet – ins Feld geführt, denen allerdings bisher eines gemeinsam war: gerichtsfeste Beweise konnten nicht beigebracht werden. Und dass Russland zur Gewaltanwendung und Grenzveränderung möglicherweise durch die völkerrechtswidrigen NATO-Kriegshandlungen auf dem Balkan und die Abtrennung des Kosovo von Serbien gewissermaßen ermuntert worden sein könnte sowie dass der Krieg 2008 nicht von Moskau, sondern von Tiflis vom Zaun gebrochen wurde, muss in solcher Art „Argumentation“ natürlich unter den Tisch fallen.

Zugleich soll hier allerdings nicht übersehen werden, dass auch in Moskau von jenen Ansatzpunkten einer fundamental neuen, kooperativen Westpolitik, wie sie unter Gorbatschow konzipiert und realisiert worden und die in Putins Grundsatzrede im Deutschen Bundestag (zum Nachlesen hier klicken) im Jahre 2001 immer noch klar erkennbar war, heute nahezu nichts mehr zu spüren ist. Akte wie die „Heimholung“ der Krim oder auch der diplomatische Eiertanz um die US-Vorwürfe bezüglich einer Verletzung des INF-Vertrages durch Russland (siehe Das Blättchen 22/2020) waren unübersehbar gegenteilige Indizien. Und Ausdruck eines tiefgehenden Einstellungswandels der führenden russischen Eliten: „Die wichtigste Veränderung besteht darin, dass Russland und der Westen füreinander nicht mehr so wichtig sind. Europa ist mit sich selbst beschäftigt“, so Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der Zeitschrift Rossija w globalnoi politike. Noch drastischer formuliert es der Leiter des Carnegie Moscow Centers, Dmitri Trenin: „Russland erwartet nichts mehr von Europa und fühlt sich deshalb auch nicht verpflichtet, auf Europas Standpunkte oder Interessen Rücksicht zu nehmen.“

Doch wer den Ausgangspunkt des Abwärtstrends in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland 2008 (Georgienkrieg) oder gar 2014 (Krim) ansetzt, der verschließt die Augen davor, dass weder 2008 noch 2014 Start-, sondern vielmehr bereits Kulminationspunkte einer Negativentwicklung waren, die sehr viel früher begonnen hatte.

Mit der Charta von Paris vom 21. November 1990 waren die Systemkonfrontation und der Kalte Krieg quasi offiziell ad acta gelegt worden. Damit war zugleich die Grundlage für die Errichtung einer neuen Sicherheitsarchitektur von Vancouver bis Wladiwostok gelegt worden, die aus den vorherigen Feinden Verbündete machten und zugleich so etwas wie Gorbatschows Gemeinsames Haus Europa mit einer festen Wohnung auch für die Sowjetunion errichten sollte. Das war jedenfalls die Intention der damaligen sowjetischen Führung hinter deren entscheidendem Beitrag zur Beendigung des Wettrüstens durch den INF-Vertrag (1987), den KSE-Vertrag (1990) und das START-I-Abkommen (1991) sowie zur deutschen Vereinigung mit dem dafür maßgeblichen 2+4-Vertrag (1990), inklusive Moskaus Zustimmung zum Verbleib Deutschlands in der NATO. In dieser Intention konnte sich die UdSSR durch die einheitliche und völlig problemlos vonstattengehende Zustimmung des Westens zur Charta von Paris durchaus bestätigt fühlen.

Was sich anschließend tatsächlich vollzog, hat Michael Staack, Professor an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg und beschäftigt mit Fragen der internationalen Politik, kürzlich folgendermaßen zusammengefasst: Es war „letztlich so, dass die Allianz der US-Administration mit Bundeskanzler Kohl und mit den Rahmenbedingungen der immer schwächer werdenden Sowjetunion diese Vorstellungen (über ein neues gesamteuropäisches Sicherheitssystem – W.S.) an den Rand gedrückt hat“. Zu den Ursachen konstatierte Staack: Eine neue Sicherheitsarchitektur habe „den amerikanischen Interessen nicht“ entsprochen. „Für die USA war essenziell für ihre Zustimmung zur deutschen Einheit, dass die Bundesrepublik Deutschland […] Mitglied der Europäischen Gemeinschaft und der NATO bleiben würde. Das geht hinaus über den Deutschlandvertrag aus dem Jahre 1955, in dem nur vorgesehen ist, dass ein vereintes Deutschland der europäischen Gemeinschaft angehören soll. Das heißt also, die USA wollten das Maximum. Sie wollten ein vereintes Deutschland in der NATO. Und deshalb hatten sie kein Interesse – und das haben sie zu jedem Zeitpunkt auch gezeigt – die Vorstellungen für ein wirklich neues gesamteuropäisches Sicherheitssystem auf der Basis der KSZE zu unterstützen und zu fördern.“

Was Staacks Bezug auf Kohl anbetrifft, so sei daran erinnert, dass in den 1990er Jahren, in denen der deutsche Einheitskanzler eine Männerfreundschaft mit Saunagängen zum damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin pflegte, auch von der Bundesrepublik keinerlei Initiativen ausgingen, ein neues gesamteuropäisches Sicherheitssystem aufzubauen. Stattdessen ließ Kohl seinen CDU-Parteifreund und Bundesverteidigungsminister Volker Rühe, einen Oberstudienrat mit Lehrbefähigung in den Fächern Deutsch und Englisch, als aktiven Vorturner der ersten NATO-Osterweiterung – Polen, Tschechien und Ungarn wurde der Beitritt 1997 angeboten, 1999 erfolgte der Vollzug – agieren. Rühe hatte diese Idee 1993 lanciert und wurde, so der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Dieter Naumann, „zum Motor der NATO-Erweiterung“, der auch dann nicht ins Stottern kam, als die damalige US-Administration unter William Clinton immerhin warnte: „Warum sollen wir jetzt eine neue Trennlinie durch Europa ziehen, halt nur ein wenig weiter östlich? Warum sollten wir jetzt etwas tun, das die bestmögliche Zukunft Europas verbauen könnte?“

Unser leider viel zu früh verstorbenen Freund und Kollege Oftried Nassauer hat diese Vorgänge bereits 1997 unter der Fragestellung „Ein Fahrplan in die Krise?“ ausführlich analysiert (zum Nachlesen hier klicken). Michael Straack hält dazu heute fest: „Wenn wir uns die Zeitzeugenberichte angucken, so haben wir ein ziemlich einhelliges Urteil, auch aus deutscher Sicht, dass die Nicht-Erweiterung der NATO nach Osten eine ungeschriebene Geschäftsgrundlage der deutschen Vereinigung war.“ Allerdings mit einem schwerwiegenden Geburtsfehler: „Ungeschriebene Absichtserklärungen sind gut, verbindlich sind sie in keiner Weise.“

Auch Norbert Röttgen ist im Übrigen nicht gänzlich frei von kognitiv klaren Momenten: „Ja, auch der Westen hat in der Vergangenheit im Umgang mit Russland Fehler gemacht. Nach Ende des Kalten Krieges hat man geglaubt, alles läuft nach westlichen Spielregeln. Dabei hat Putin sich anfangs sehr bemüht. Denken Sie an seine Rede im Deutschen Bundestag im Jahr 2001. Aber er hat immer wieder feststellen müssen, dass er bei allem Bemühen nach den westlichen Spielregeln immer der Klassenletzte geblieben ist.“ Damit liefert Röttgen nicht zuletzt die Antwort darauf, warum „2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz […] der Ton (Putins – W.S.) dann schon ein ganz anderer“ war. Da hatte man in Moskau nämlich begriffen, dass, wie es Lukjanow heute formuliert, der „Dialog des Westens mit Russland […] im Grunde weder Vereinbarungen noch Kooperationen zum Ziel [hat]“ und dass man sich etwa mit dem parallel zur Vorbereitung der ersten NATO-Osterweiterung 1997 vereinbarten NATO-Russland-Rat hatte einen Bären (oder sollte man besser sagen: einen zahnlosen Tiger?) aufbinden lassen – ein Gremium, in dem zu keinem Zeitpunkt Sicherheitsfragen von essentiellem Interesse für Russland zur Diskussion, geschweige denn zur Entscheidung gestellt werden konnten oder auch nur sollten. Die dortige Tagesordnung kann zum Beispiel bei Bedarf immer von solchen NATO-Staaten wie den baltischen und Polen bestimmt werden, auf deren außenpolitischer Agenda die Verbesserung der Beziehungen zu Russland praktisch nicht vorkommt. Letzteres offenbar in völliger Verkennung des Sachverhaltes, dass im Falle eines militärischen Zusammenstoßes an der NATO-Ostflanke diese Staaten vermutlich bereits zu den Verlierern gehören würden, bevor die westliche Allianz ihr gewaltiges Militärpotenzial überhaupt in die Waagschale werfen könnte – eine Gegebenheit, die durch eine besonders forsche antirussische Attitüde zwar zementiert, nicht jedoch aus der Welt geschafft werden kann. (Als weiteres Beispiel für Lukjanows Befund – „weder Vereinbarungen noch Kooperationen zum Ziel“ – kann auf das Spiel mit gezinkten Karten verwiesen werden, das die USA und die NATO jahrelang in Sachen Raketenabwehr mit Moskau getrieben haben; siehe ausführlicher Das Blättchen 21/2011.)

Trotz Putins mahnender Worte in München 2007 wurde auf dem NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 (mit deutscher Zustimmung; das Land wurde seit 2005 von Kanzlerin Merkel geführt) beschlossen: „Die NATO begrüßt die euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine und Georgiens nach einer Mitgliedschaft in der NATO. Wir haben heute vereinbart, dass diese Länder Mitglieder der NATO werden.“ (Putin war übrigens geladener Gast des Bukarester Gipfels.) Diese Entscheidung hätte, gälte ein Kriterium, wie es Rühe Mitte der 1990er Jahre formuliert hatte („Beitreten können nur Staaten, die keine ungelösten Konflikte in die Allianz einbringen […].“), bezüglich Georgien angesichts der Auseinandersetzungen um Südossetien und Abchasien nie getroffen werden dürfen. Sie wurde allerdings auch nach Georgiens Eröffnung von Kriegshandlungen gegen Russland im August 2008 (und Tiflis’ Niederlage im sogenannten Kaukasischen Fünftagekrieg) nicht widerrufen. Die Mitgliedschaftsofferte gilt vielmehr bis heute.

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Wer also bei der Suche nach den Ursachen für den heutigen miserablen Zustand der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland mit einseitigen Schuldzuweisungen operiert oder im historischen Rückblick zu kurz greift, der ist womöglich an einer Besserung der aktuellen Lage nicht interessiert.

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Nostalgische Rückbesinnung auf das Duo Brandt/Bahr und dessen Neue Ostpolitik, von der auch der Autor nicht gänzlich frei zu sein bekennen muss, helfen leider auch nicht weiter. Beide waren ausgemachte Kalte Krieger im Westberlin der 1950er Jahre. So wurde Bahr, wie er später erzählte, als er als RIAS-Chefredakteur am 17. Juni 1953 die Unruhen in der DDR mit den Mitteln des Radios anheizte, vom amerikanischen Direktor des Senders zurückgepfiffen, weil der US-Hochkommissar interveniert hatte: Ob der RIAS etwa den dritten Weltkrieg beginnen wolle. Doch waren beide, Brandt und Bahr, zugleich intellektuell und politisch solche Ausnahmeerscheinungen, dass ihnen nach einem Jahrzehnt ergebnisloser antagonistischer Auseinandersetzungen mit Moskau – mit dem Mauerbau vom August 1961 und der Kuba-Krise vom Oktober 1962 als vorläufige Höhepunkte – die Erkenntnis zuwuchs, dass in der Grundrichtung des Verhältnisses zur Sowjetunion eine Kehrtwende erforderlich war: von Konfrontation zu Kooperation. Was Egon Bahr in seiner mit Willy Brandt abgestimmten Tutzinger Rede von 1963 zur Formel vom „Wandel durch Annäherung“ komprimierte (zum Nachlesen hier klicken).

Und diesen Ansatz begannen Brandt und Bahr ausgerechnet ab 1969 in die Tat umzusetzen, als der Kalte Krieg wegen der Niederschlagung des Prager Frühlings durch Moskau und seine Koalition der Willigen (nur Rumänien verweigerte die Gefolgschaft komplett, wenn auch nicht aus Sympathie für realsozialistische Reformbemühungen; die DDR schickte zumindest keine Truppen ins Nachbarland) gerade wieder einmal besonders frostig war. Eine wohl singuläre historische Tat …

Bis auf Weiteres wird der Gordische Knoten im Verhältnis des Westens zu Russland also ungelöst bleiben.