23. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2020

Zweimal Deutschland

von Erhard Crome

Ein 30. Jahrestag hat eine gewisse Besonderheit. Einerseits gibt es noch viele „Zeitzeugen“ oder einstige Akteure, die der staunenden Nachwelt ihre Sicht der Dinge hinterlassen möchten. Andererseits haben mehr oder weniger begabte oder fleißige Forscher an alten Akten, Interviews und bereits vorhandenen Texten gesessen, um daraus neue Texte zu verfertigen. Stefan Bollinger hatte zusammen mit verschiedenen Berliner Vereinen und Partnern eine Konferenz zu „Zweimal Deutschland“ veranstaltet, just am 4. November 2019, dem 30. Jahrestag der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz 1989. Der Schwerpunkt lag auf der „sozialen Politik“, im Grunde in drei Deutschlands: DDR und BRD bis 1990 und des jetzigen Deutschlands seither. Nunmehr liegt der Konferenzband vor. Konferenzpublikationen lohnen oft nicht die Besprechung, weil da zusammengesammelt wird, was ein Zitatenkartell aus akademischen Karrieregründen gerade zu publizieren wünscht, oder weil der Druckkostenzuschuss verbraucht werden muss. Hier ist das anders. Auf der Liste der Autoren finden sich etliche Namen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die etwas zu sagen haben und aus diesem Anlass erhellende Texte beigesteuert haben.

Einleitend wird zu Recht betont, „zweimal Deutschland“ sei eine „Herausforderung“, es sollten „weiße Flecken der gesamtdeutschen Geschichte“ ausgefüllt und „vergessene Ereignisse“ wieder ans Licht gebracht werden. Methodisch-theoretisch wird als großer Mangel der bisherigen Mainstream-Geschichtsdeutung kritisiert (wie bei Niemann), dass die Geschichte der BRD von ihrem Anfang und die der DDR vom Ende her erzählt wird (Stefan Bollinger/Harald Wachowitz und Jürgen Hofmann), nicht zuletzt zu dem Zwecke, die DDR beziehungsweise den „Staatssozialismus aus dem Kontinuum der Geschichte“ herauszulösen (Georg Fülberth). Auch „das aktuelle Anbiedern an die ‚Lebensleistung der Ostdeutschen‘ und das Eingeständnis von ‚Fehlern‘ bei der Transformation“ durch Politiker von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen zielt lediglich darauf, „die ‚falschen‘ Wahlentscheidungen nicht weniger Ostdeutscher für die AfD rückgängig zu machen“ (Bollinger).

In der ersten Abteilung des Bandes geht es um die „Staatsgründungen auf Trümmern“ und im Kalten Krieg. Rolf Badstübner, der Nestor der Geschichtsforschung zur doppelten Staatsgründung, betont, dass die Entwicklungen nach 1945 zunächst auf der Befreiung fußten und nicht auf Zweistaatlichkeit, sondern auf „ein anderes Gesamtdeutschland“ ausgerichtet waren. Dabei leisteten die USA den Hauptbeitrag zur Erarbeitung eines alliierten Deutschland-Konzeptes, woran auch vom Marxismus herkommende Intellektuelle wie Franz L. Neumann, Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse beteiligt waren. Es sollten nicht nur Nazis und Militaristen, sondern auch die Funktionseliten und bestimmte Klassenkräfte in Deutschland, darunter Junker und Großindustrielle ins Visier genommen werden. Dieses „amerikanisch beeinflusste Deutschlandprojekt“ kam sowjetischen Sichtweisen auf den Faschismus nahe, weshalb Stalin kein Problem hatte, sich hier einzupassen. Insofern funktionierte die Vier-Mächte-Verwaltung Deutschlands einigermaßen gut – und besser, als zuvor oft angenommen – von der bedingungslosen Kapitulation bis zur Moskauer Konferenz im Frühjahr 1947. Zum Bruch kam es mit Truman-Doktrin (März 1947), öffentlichen Präventivkriegsdiskussionen und McCarthy-Ära in den USA einerseits und Stalins „brachialer Ostblockpolitik“ mit dem „Kampf gegen Titoismus, Agenten, Kosmopolitismus, Sozialdemokratismus“ andererseits. Im Westen Deutschlands setzten die USA nun „auf das alte, effektive und funktionierende Deutschland mit den erfahrenen, antikommunistisch ‚bewährten‘ Eliten“. Nachdem die Chance 1947 vertan war, folgte die „nichtkompatible Zweistaatlichkeit“.

Allerdings wohnte der Existenz von Besatzungszonen, die den jeweiligen Militäradministrationen unterstanden, „per se eine zentrifugale Dynamik inne“. Dennoch hielt die Mehrheit der Deutschen die Zoneneinteilung „zunächst für eine vorübergehende Folge von Faschismus und Krieg“ (Günter Benser). Die deutsche Gesellschaft hatte 1945 in allen Besatzungszonen das gleiche Erbe anzutreten, das sich aus Naziherrschaft und Krieg ergab. Dennoch war die Spaltung Deutschlands nicht nur Ergebnis des Wirkens der Besatzungsmächte, sondern zugleich Resultat der Auseinandersetzungen zwischen politischen und sozialen Kräften in Deutschland, deren Wurzeln bis in die Kaiserzeit und die Anfänge der Weimarer Republik zurückgingen (Hofmann). Peter Ruben hatte dazu bereits Anfang der 1990er Jahre viel präziser geschrieben, dass die beiden deutschen Staaten von 1949 „die staatliche Konstituierung einer der Bürgerkriegsparteien in der Revolution von 1918/19“ waren. „Was sich vierzig Jahre, von 1949 bis 1989, in Deutschland in Entgegensetzung gegenüberstand, waren die Parteien der linken Reichstagsmehrheit von 1917 (SPD, Zentrum, Linksliberale) einerseits und die revolutionären Sozialisten andererseits, die in der Revolution die angenommene Alternative – Nationalversammlung oder Rätemacht – im Widerspruch zueinander entscheiden wollten. Die Phrase ‚Rechtsstaat oder Arbeiter-und-Bauern-Macht‘ ist nur eine andere Benennung des von der Revolution gestellten Problems.“

Der Verlust gesamtstaatlicher und nationaler politischer Strukturen hatte jedoch zur Folge, so weiter Hofmann, dass es die deutschen politischen Kräfte nicht vermochten, „über parteipolitische Schranken hinweg nationale Minimalforderungen zu formulieren und den Anspruch auf eine zentrale deutsche Verwaltung und einen Friedensvertrag gemeinsam geltend zu machen“. Konrad Adenauer war bereits seit 1945 der eigentliche Akteur der Gründung eines Weststaates und damit der deutschen Teilung. Beide deutsche Staaten befanden sich seit Anbeginn „in einer Konkurrenz- und Wettbewerbssituation. Sie verstanden sich zunächst als Provisorien, die zu gegebener Zeit um den konkurrierenden Teilstaat zu ergänzen waren. Jede Seite sah sich als Kernstaat einer erwarteten deutschen Einheit. Daran knüpfte die Bundesrepublik ihren Alleinvertretungsanspruch und die DDR Vorstellungen von einer ‚historischen Mission‘. Beide politischen Orientierungen gingen stets von der Überlegenheit des eigenen Systems aus.“ In diesem ungleichen Wettbewerb kam die DDR immer mehr an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.

Die Einbindung in feindliche Militärblöcke in den 1950er Jahren machte die zwei deutschen Staaten zum wahrscheinlichen Schlachtfeld eines verheerenden dritten Weltkrieges. Das zwang jedoch zu erhöhter gegenseitiger Aufmerksamkeit. Als in den 1980er Jahren eine neue Runde der Raketenrüstung zu einer existenziellen Bedrohung wurde, „sorgten beide deutsche Staaten dafür, dass der Gesprächsfaden zwischen Ost und West nicht abriss, obwohl sie dabei zeitweilig in einen Interessenkonflikt mit ihren Hegemonialmächten gerieten“ (Hofmann).

Dass die DDR „notwendig scheitern“ musste, weil „die materiellen Bedingungen“ einer „nachkapitalistischen Gesellschaft“ weder „vorhanden“ noch „im Prozess ihres Werdens begriffen“ waren, teilt Georg Fülberth seinen staunenden Hörern beziehungsweise Lesern mit. Das begründet er mit dem entsprechenden Zitat aus Marxens „Vorwort“ zur Kritik der Politischen Ökonomie (MEW 13, S. 9). Dabei tut er so, als habe er als erster dieses wichtige Zitat entdeckt. Das kannten natürlich alle, die sich in der DDR mit Marxismus-Leninismus befasst hatten. Nur wurde das von Eugen Vargas Theorie von der „allgemeinen Krise des Kapitalismus“ überwölbt, der als Weltzustand, nicht nur als deutsche Angelegenheit, für die weltweite sozialistische Revolution reif sei. An dieser Stelle ist Fülberths Zitatenklauberei reine Wichtigtuerei. Richtig dagegen ist seine Betonung, dass die Gesellschaftssysteme der BRD und der DDR sich immer stark gegenseitig beeinflusst haben. Auch seine Feststellung sollte Beachtung finden, dass der (west-)deutsche Kapitalismus bereits vor 1990 zum Akkumulationszentrum Westeuropas, nun Europas wurde und die EU von heute alles erfüllt, was im Septemberprogramm von Reichskanzler Bethmann Hollweg 1914 anvisiert wurde. Die „deutsche Hegemonie“ ist jetzt eine weitgehend realisierte Tatsache.

Die Sozialpolitik als „Schauplatz der Systemauseinandersetzung“ erscheint in zweierlei Bedeutung: als Sozialpolitik im engeren Sinne (unmittelbare Lebensbedürfnisse) und weiten Sinne (Gesellschaftpolitik). In der zweiten Abteilung des Buches geht es um Sozialpolitik in der DDR. Bereits mit dem „Neuen Ökonomischen System“ (NÖS) Walter Ulbrichts war die Vorstellung verbunden, dass eine aktive Sozialpolitik für die weitere Wirtschaftsentwicklung unverzichtbar war. Ulbricht koppelte allerdings die Leistungen an die wirtschaftliche Entwicklung. Erich Honecker „und seine reformunfreundliche Fraktion“ stellten sich jedoch gegen Ulbrichts hochgesteckte Wirtschaftsziele. Die sozialpolitischen Leistungen der Honecker-Zeit waren durch die wirtschaftliche Leistungskraft der DDR nicht gedeckt (Bollinger, Klaus Steinitz). Lutz Brangsch betont das Interessen-Problem im Sozialismus: wirtschaftliche Entwicklung entspricht auch unter sozialistischen Bedingungen nicht von selbst den Interessen, Bedürfnissen und Bedarfen der Bürger.

Thema der dritten Abteilung ist die „soziale Marktwirtschaft“ der BRD. Das Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ war schon vor 1945 nicht als Angebot eines Klassenkompromisses, sondern als „ein Konzept zur Restauration der Kapitalmacht in Deutschland nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg“ entwickelt worden. Voraussetzung des „Siegeszuges“ der „sozialen Marktwirtschaft“ war die Restauration des Kapitalismus im Westen „in der Folge der Niederlage der politischen und gewerkschaftlichen Linken in der Auseinandersetzung um die Nachkriegsordnung“. „Mit dem Anschluss der neuen Bundesländer an den Geltungsbereich des Grundgesetzes hatten die Geschlagenen von 1945 im westdeutschen Machtblock (nach 40 Jahren) ihr wichtigstes Ziel erreicht: das ‚Roll Back‘ des Sozialismus auf deutschem Boden. Jetzt konnte die Kontinentalmacht Deutschland in Europa, das inzwischen in der Europäischen Union (EU) vereint war, vor allem aber als ‚Exportweltmeister‘ eine Führungsrolle ausüben“ (Frank Deppe).

„Schwächen und Leistungen der DDR im Vergleich“ sind Gegenstand der Texte in der vierten Abteilung. Jörg Roesler, der sich wahrscheinlich am intensivsten mit dem Übergang der DDR in das bundesdeutsche Wirtschaftsgefüge befasst hat, macht geltend, dass die westdeutsch geprägte Interpretation der DDR-Geschichte monokausal davon ausgeht, es gäbe nur einen entscheidenden Grund für das Zurückbleiben der DDR, nämlich die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und die sozialistische Planwirtschaft. Tatsächlich betrug der Ausgangswert des BIP pro Einwohner in der DDR 1950 39 Prozent des bundesdeutschen Niveaus, 1989 dagegen 55 Prozent. Die bundesdeutsche Geschichtsschreibung nimmt jedoch das Jahr 1991 zum Ausgangspunkt, da waren es 33 Prozent, also weniger als 1950 – da war aber schon seit zwei Jahren nicht mehr Erich Honecker, sondern Helmut Kohl verantwortlich. Weitere Texte in diesem Kapitel behandeln Themen, wie Umwelt und Frauen, Viola Schubert-Lehnhardt schreibt über Ansprüche und Grenzen eines nicht gewinnorientierten Gesundheitswesens, Gerd Dietrich über „Reichtum und Verschwendung“ von freier Zeit. Siegfried Prokop kommt zurück auf das Problem, dass die DDR spätestens ab 1979 auf Kosten der Substanz lebte. Christa Luft gibt einen „Erlebnis- und Erfahrungsbericht“, wie sie als Wirtschaftsministerin der Modrow-Regierung 1989/90 versuchte, noch etwas zu retten.

In der fünften Abteilung geht es um die „neuen Konflikte“ nach dem Fall des Realsozialismus. Daniela Dahn schreibt unter der Überschrift: „Zerschlagene Hoffnungen“: „Wir hatten eine Gesellschaft, in der, nach meinem Empfinden, im Großen und Ganzen auch notgedrungen Besitz weniger wichtig war als Beisammensein. Am Ende war man sogar beisammen, um den Machtapparat demokratischer Kontrolle zu unterwerfen. Einfache Bürger wie ich konnten den in Untersuchungshaft sitzenden Sicherheitschef (Erich Mielke) vernehmen. Polizeipräsidenten wurden auf Forderung der Basis ebenso abgesetzt wie Generalsekretäre. Mit etwas mehr Zeit hätte womöglich der Beweis erbracht werden können: Es wäre einfacher gewesen, mit Hand an der Macht und Volkseigentum im Rücken eine humane Gesellschaft zu schaffen, als mit der festgezurrten Fußangel von Eigennutz, Konkurrenz und Wachstum.“ Michael Thomas meint, die „postneoliberale Phase“, über die seit Jahren diskutiert wird, zeige sich nicht als demokratische Öffnung in Richtung „klima- und umweltsensibler Trend“, sondern als rechtsnationaler Trend hin zum „Illiberalismus“. Reiner Zilkenat, inzwischen verstorbener Mitorganisator der Konferenz und Mitherausgeber des Bandes, merkt an, dass „die politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse“ im gegenwärtigen Deutschland „sich auf absehbare Zeit nicht zugunsten der linken Kräfte zu entwickeln scheinen“. Yana Milev betont daher: „Die liberale Demokratie ist nicht frei. Sie begründet ihre Freiheit auf dem Aktien- und Kapitalrecht, auf dem Vorrecht der privatwirtschaftlichen Märkte und auf der Restitution privatautonomer Vermögensansprüche. Sie wird seit 1949 mit dem Deck-Begriff ‚soziale Marktwirtschaft‘ gehandelt. Dieses Vorrecht der liberalen Demokratie schließt Menschenrechte und Grundrechte aus […]. Die ‚deutsche Einheit‘ muss […] als eine Siegerpose des Rechtsstaates BRD über den ‚Unrechtsstaat DDR‘ gewertet werden.“

Den Entwicklungen von 1989/90 lag eine folgenschwere Illusion zugrunde: „die DDR-Bürger sahen ihre soziale Sicherheit nicht in Gefahr, sie war gesicherter Besitzstand und würde – so die Erwartung – auch mit der BRD-Sozialpolitik kompatibel sein“. Das hieß: „Wenn schon harte DM, wenn schon kapitalistische Marktwirtschaft, wenn schon bundesdeutsche Demokratie, dann unter Beibehaltung der sozialen Sicherheit, der Geborgenheit, den solidarischen Arbeits- und Lebensbedingungen, wie sie es […] vier Jahrzehnte lang erlebt hatten.“ Mit der neoliberalen Wende im nunmehr sich globalisierenden Weltkapitalismus konnten sie nicht rechnen (Stefan Bollinger).

Dieser Band drückt in gewissem Sinne den heutigen Stand der linken, alternativen Zeitgeschichtsforschung und Gesellschaftsanalyse zur deutschen Zweistaatlichkeit und zum Ende der DDR aus. Es ist wichtig, dass diese Texte über die Erfahrungen mit dem realsozialistischen „Frühsozialismus“ für die Nachgeborenen nachlesbar sind. Auch wenn es dem nicht-akademischen Leser zuweilen schwerfallen mag, solchen Sammelband in allen Facetten zur Kenntnis zu nehmen, sind diesem Buch viele aufmerksame Leser zu wünschen.

Stefan Bollinger und Reiner Zilkenat (Hrsg.): Zweimal Deutschland. Soziale Politik in zwei deutschen Staaten – Herausforderungen, Gemeinsamkeiten, getrennte Wege, edition bodoni, Buskow bei Neuruppin 2020, 521 Seiten, 22,00 Euro.