23. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2020

Unzeitgemäße Betrachtungen

von Erhard Crome

Wenn eine „Kleine Geschichte“ 774 Seiten hat und 1,3 Kilogramm wiegt, was ist dann eine „Große Geschichte“? Jedenfalls ist gerade eine „Kleine Geschichte der SED“ erschienen, die Heinz Niemann verfasst hat. Sie hat das genannte Format. Und sie passt in dieses 30. Jahr nach der deutschen Vereinigung von 1990. Schon deshalb lohnt es, das Buch aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen.

In gewissem Sinne ist es auch eine Art Resümee von drei Jahrzehnten deutscher Geschichtswissenschaft: über 6.500 Bücher hat Niemann gezählt, die seit 1990 über die DDR und die SED erschienen sind, und die überwiegend eher Ausdruck von Geschichtspolitik und Geschichtsideologie sind, denn von ernsthafter Geschichtsforschung. Zu Recht verweist er auf den Partei- und Klassenauftrag, den Klaus Kinkel (FDP), damals Bundesjustizminister, Anfang der 1990er Jahre formuliert hatte: „Dieses System gilt es jetzt zu delegitimieren.“ Da müssten alle zusammenwirken: „Die Historiker haben ihre Aufgabe, die Politiker haben eine, aber eben auch die Justiz.“ (Der Spiegel 33/1991) Dem sind die bundesrepublikanischen Historiker und ihre gesamtdeutschen Zöglinge in den vergangenen Jahrzehnten gehorsamst gefolgt. Da sich in der Gegenwart, so Niemann, auch wegen der ökologischen Frage, aber immer mehr die „Systemfrage“ stellt, „ob der real existierende Spätkapitalismus die ‚selbstverständliche Organisationsform‘ […] für die ganze, weiter wachsende Menschheit“ sein kann, wird die Delegitimierung der SED und der DDR in Deutschland „als Kehrseite der jetzigen herrschenden Systemlegitimierung offenbar immer wichtiger“.

Die Delegitimierungs-Historiker schreiben in aller Regel „die Geschichte der DDR von ihrem schmählichen Ende her“. So erscheint die DDR nicht als ein Staat, der auf die Zerschlagung der Hitler-Diktatur folgte, sondern als „Folge der SED-Diktatur“. Dadurch vermeiden sie die Anerkennung der zentralen historischen Tatsache: „Die DDR war trotz alledem die eine, genauso legitime Alternative nach Faschismus, Völkermord und Krieg wie der bürgerliche Parteienstaat BRD die andere darstellte.“ Die Gräuel-Geschichte des ostdeutschen „Unrechtsstaates“ dient dazu, die DDR aus der „eigentlichen“ deutschen Geschichte nach 1945 auszublenden. Nur als „Fußnote“ oder als „zeitweiliger von den Russen und ihren Gehilfen in der SED erzwungener Abweg von der deutschen Nationalgeschichte“ soll die DDR Erwähnung finden. „Alles in allem soll“, so weiter Niemann, „der DDR ihr historischer Platz als Versuch einer antikapitalistischen Moderne in der (zweifellos ambivalenten) Tradition der Arbeiterbewegung und als radikaler Bruch mit Faschismus und Imperialismus bestritten werden. Darin folgen auch die der Sozialdemokratie nahestehenden Historiker, obwohl die SED die aus dem gemeinsamen Selbstverständnis der zwei Ströme der Arbeiterbewegung stammende sozialistische Programmatik nicht in allen, aber in entscheidenden Teilen realisierte“.

Niemann erzählt die Geschichte vom Anfang her, bis zu ihrem Ende. Es ist die Geschichte „eines anfänglich armen, zerstörten, gegängelten kleinen Landes mit einer in verschiedener Hinsicht belasteten Partei an der Spitze, konfrontiert mit einem Frontstaat und seiner Westberliner Speerspitze vor der Brust, einem Staat, der – vielfältig gefördert – in kurzer Zeit zur mächtigsten Wirtschaftsmacht in Europa und bald auch Militärmacht wurde, mit noch mächtigeren Verbündeten. So konnte sich die im Westen überlebende Elite des deutschen Kapitalismus nach ihrer tiefsten Niederlage mit Geschick und Augenmaß daran machen, drei Ziele zu erreichen: erstens das eigene Herrschaftssystem zu restaurieren und zugleich so zu erneuern, dass die enttäuschten, verunsicherten Massen sich mit ihm aussöhnten und in ihm einrichteten, zweitens sich aus den Restriktionen der Siegermächte und aus der Rolle der reinen Gefolgsmacht zu befreien, und drittens über die gesellschaftliche Herausforderung im Osten des verbliebenen Deutschlands zu triumphieren. Denn dieses dritte Ziel wurde niemals aufgegeben. Der Kalte Krieg war wie die ‚Mauer‘ nichts anderes als der auf die Spitze getriebene, Staat gewordene Klassenkampf, von östlicher Seite zugleich ein dauernder Existenz- und Überlebenskampf, der so viele Verkrampfungen und manche Übertreibungen wie Lächerlichkeiten erklärt.“

Gleichwohl war die SED zentrale Bedingung der Existenz und Entwicklung der DDR. Heinz Niemann berichtet über beide aus der Sicht der zentralen Rolle der Partei und über die DDR im Spannungsverhältnis zwischen der inneren Entwicklung des Landes und dem Druck, der seitens der Sowjetunion einerseits und der BRD andererseits auf sie ausgeübt wurde. Dabei finden auch die inneren Auseinandersetzungen innerhalb der SED und ihrer Führung bis in die 1960er Jahre hinein ihren tatsächlichen Hintergrund in der Bestimmung des politischen Kurses um die weitere Entwicklung des Landes. Eine zentrale These ist, dass Walter Ulbricht stets davon ausging, das imperialistische Deutschland werde sich niemals mit der Existenz der DDR abfinden. Insofern stehen im Mittelpunkt der Darstellung von vierzig Jahren DDR die beiden führenden Personen, Walter Ulbricht und Erich Honecker, die jeweils etwa zwanzig Jahre den Kurs des Landes bestimmten. Dabei war die DDR unter Ulbricht – wie Niemann westliche Beobachter zitiert – der „interessanteste Staat in Europa“, weshalb des Autors Empathie auch jetzt Ulbricht gehört, während er Honecker anlastet, dass der Anfang der 1970er Jahre „eingeleitete Wettlauf der Trabant- gegen die Mercedes-Gesellschaft (Bahro)“ nicht zu gewinnen und der „Kurs in Richtung Konsumismus statt Kommunismus“ falsch war.

In diesem Sinne war der VII. Parteitag der SED 1967 „der in mehrfacher Hinsicht bedeutendste der SED-Geschichte. Er schien die Etappe des Ringens mit der stalinistischen Vergangenheit erfolgreich abzuschließen, konnte auf ein stabilisiertes wirtschaftliches und gesellschaftliches Fundament verweisen und zeigte sich fähig, ein in vielfacher Hinsicht wissenschaftlich begründetes Programm für die Herausbildung einer nichtkapitalistischen Gesellschaft mit qualitativ neuen Werten, Normen und Zielen zu beschließen.“ Die Chance, mit neuen Technologien und einem neuen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft aus der Sackgasse im Systemwettbewerb mit dem Westen „progressiv“ herauszukommen, ist durch den Bruch mit dieser Strategie nach 1971 verspielt worden.

Ulbrichts Priorität lag darauf, dass die Länder des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe sich gemeinsam der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ stellen müssten, um im Wettstreit mit dem Westen zu bestehen. Die Breshnew-Führung in der Sowjetunion priorisierte dagegen den Rüstungswettlauf mit dem Westen und „folgte den Forderungen des sowjetischen Militär-Industrie-Komplexes und erhöhte die Rüstungsausgaben auf zwanzig Prozent des Budgets“. In diesem Sinne nutzte sie das auch wirtschaftliche Übergewicht der Sowjetunion, um die Handelsbedingungen für die DDR bereits in den 1960er Jahren zu verschlechtern; die Preise für sowjetische Rohstoffe wurden erhöht, die für Industrieprodukte aus der DDR gedrückt. Hinzu kam, dass sich Breshnew von Ulbrichts Bestreben, sich als aus der Geschichte lernender politischer Führer zu präsentieren, der bereits Lenin erlebt hatte, zunehmend missachtet fühlte. Letzterer sollte aufhören, sein „Modell des Sozialismus“ sowie seine Methoden der Planung und Leitung anzupreisen, das sei „nationale Überheblichkeit“.

Dies wiederum nutzten Erich Honecker und seine post-stalinistische Gruppe im Politbüro, um im Zusammenwirken mit Breshnew Ulbricht 1971 abzulösen. Letzterer hatte Honecker eigentlich als „seinen Mann“ aufgebaut und entgegen dem Wunsch von Ministerpräsident Otto Grotewohl, diesen ganz aus der Parteiführung zu entfernen, die Hand über ihn gehalten. 1956 kam Politbüro-Kandidat Honecker von der Parteischule in Moskau zurück. Im Politbüro musste über seinen künftigen Verantwortungsbereich beschlossen werden. „Von der Wirtschaft, der Innen- oder Außenpolitik verstand er nichts. Zur Wissenschaft und Kultur hatte er keinerlei Zugang. Für die Leitung der Parteiorganisation war er zu jung […]. So blieb neben dem unwichtigen Bereich des Sports und der Jugend nur der Bereich ‚Sicherheit‘“. Mit dieser geistigen und kulturellen Ausstattung verblieb Honecker in der Parteiführung, davon dann 18 Jahre als „erster Mann“.

Niemann resümiert, in der Honecker-Ära hätte es im Sinne der „Offenheit der Geschichte“ zwei Weggabelungen gegeben: „Die erste 1970/71, als es um die versachlichte und qualifizierte Fortführung der Politik des VII. Parteitages hätte gehen müssen, die zweite 1986 mit Gorbatschows Reformansatz. Durch einen kooperativen Anschluss an diese Gesellschaftsstrategie hätte es die Option zur Gestaltung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in den Farben der DDR geben können, indem an Ulbrichts NÖS [Neues Ökonomisches System] der sechziger Jahre angeknüpft worden wäre. Diese Chancen wurden von Honecker nicht erkannt bzw. verworfen. Die marxistische Gesellschaftstheorie als unverzichtbare Grundlage einer erfolgreichen Politik war von ihm nie begriffen worden.“

Den Beweis dafür, dass die DDR und der osteuropäische Realsozialismus an einem Mangel an Theorie zugrunde gegangen seien, und nicht an den „wirklichen Verhältnissen“, bleibt der Autor allerdings schuldig. Am Ende präsentiert er jedoch ein aufschlussreiches Zitat zu Anfang und Ende der Honecker-Zeit. Politbüromitglied Alfred Neumann sagte am 17. Oktober 1989: „Als Honecker an die Spitze kam, waren die Staatsfinanzen in Ordnung, es gab eine handlungsfähige Regierung und eine intakte Partei, die zu kämpfen bereit war.“ 1989 waren all diese Potenziale aufgebraucht.

In seiner Vorbemerkung schreibt Niemann, scheinbar uneitel, Lotte Ulbricht, die einflussreiche Gattin, hätte einst geprüft, ob er nicht ein passabler Partner für ihre Tochter Beate hätte sein können. Es ergab sich nicht. Man wird aber das Gefühl nicht los, er wäre vielleicht doch gerne der Schwiegersohn gewesen.

Eine sorgsame Durchsicht des Buches auf Orthographie und Grammatik hätte der besseren Lesbarbeit gut getan. Auch hätte ein gütiger Lektor, der die langen Passagen direkter und indirekter Rede aus Referaten von Walter Ulbricht und anderen etwas gestrafft und das Buch dadurch um 250 Seiten und 300 Gramm erleichtert hätte, merklich zum leichteren Verständnis beigetragen. Niemann betont, dass er einerseits für die „Leser der älteren (‚geschulten‘) Generation“ geschrieben habe und andererseits für die jüngere Generation, weil die „Fridays-for-Future-Demonstranten […] Kenntnisse ‚about the past‘ für eine tragfähige Bestimmung ihrer Zukunft“ bräuchten. Für die „älteren geschulten Leser“ sind die langen Ulbricht-Zitate wahrscheinlich eine biographische Rückversicherung, für die „Fridays for Future“-Jugend eher keine Einladung zum „barrierefreien“ Lesen. Junge Leute wollen stets selbst entscheiden, was sie lesen; das ist nicht unbedingt das, was die Alten ihnen antragen wollen. Ungeachtet dessen ist es sehr hilfreich, dass Texte über die Erfahrungen mit dem realsozialistischen „Frühsozialismus“, die nicht aus der Küche der ideologischen Delegitimierer stammen, für die Nachgeborenen nachlesbar sind. In diesem Sinne ist das Buch als „unzeitgemäße Betrachtung“ guten Gewissens und dringend weiterzuempfehlen.

Heinz Niemann: Kleine Geschichte der SED. Ein Lesebuch, Verlag am Park, Berlin 2020, 774 Seiten, 30,00 Euro.