23. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2020

Bemerkungen

Schmeißt die Fachleute raus!

Die Fürstin Lichnowsky war eine bemerkenswerte Schriftstellerin und zutiefst tapfere Frau, die sich mit allem anlegte, was mit aufgeblasenem Ego daherkam. Egal, ob das nun die Nazis oder der eigene Klempner waren. Frucht ihrer Auseinandersetzungen mit letzterer Berufsgruppe – die hier nur als Metapher dienen soll, ich distanziere mich von der Fürstin! – ist das 1924 bei Jahoda & Siegel erschienene Buch „Der Kampf mit dem Fachmann“. Oskar Loerke, als Rezensent oft erbarmungslos, bewertete den Band im Berliner Börsen-Courier als „erregendes Buch“. „Der Kampf mit dem Fachmann ist der Kampf des Menschen mit dem Halbmenschen“, postuliert die Autorin. Und Loerke meint zaghaft: „Der Kampf mit dem Fachmann müßte beginnen.“ Handwerklich war er nicht sonderlich begabt, er musste vorsichtig sein.
In Berlin läuft dieser Kampf derzeit auf Hochtouren. Im politischen Raum sowieso. Hat ein Parlamentarier, aus welchem Zufall auch immer, einmal eine Rede über die Auswirkungen des Autobahnbaus auf den Flug der Honigbienen (Apis mellifera) gehalten, gilt er als imkereipolitischer Sprecher seiner Fraktion oder – das hat mit innerparteilichen Kräfteverhältnissen zu tun – als Sprecher für Fragen von Autobahnbau und Verkehrspolitik. Fortan wird er – vorausgesetzt, er gehört der richtigen Partei an – als Fachmann zu diversen Talk-Runden eingeladen und berühmt. Das Tor zum politischen Aufstieg ist geöffnet. Irgendwann ist er Staatssekretär, für das Flughafenwesen möglicherweise. Man kennt Beispiele.
Aber das war schon immer so. Die Bekämpfung des Fachleuteunwesens hat inzwischen eine neue Qualität erreicht. Jede und jeder kann inzwischen Lehrer werden. Als „Quereinsteiger“ mit einer gewissen fachlehrerähnlichen Ausbildung, hat man nur Lust auf den Job und ist beispielsweise Klempner, eben als „Seiteneinsteiger“. Man könnte natürlich auch Müller werden …
Im Berliner Ortsteil Marzahn steht seit 1994 eine voll funktionsfähige und produzierende Bockwindmühle. Das Teil wiegt 45 Tonnen, die Flügel haben eine 20,5 Meter Spannweite. Der Mühle – sie gehört dem Bezirk – kam im Winter der Müller abhanden. Seit 1. Mai gibt es wieder einen. Der Mann ist gelernter Bootsbauer und Industriekletterer. Bis dato hat er eine solche Mühle nach eigenem Bekunden noch nie von innen gesehen. Als Kind war er einmal in einer Holländermühle. Jetzt ist er Müller.
Im Februar 2020 befreite die Berliner Schulsenatorin Scheeres Rolf Stabel, den Leiter der Ballettschule und Schule für Artistik, von seinen Aufgaben, vor einigen Tagen wurde er fristlos gekündigt. Der Mann ist gestandener Tanzwissenschaftler – vor die Tür gesetzt wurde auch der künstlerische Direktor Gregor Seyffert, international renommierter Tänzer und Choreograph. Aber wie in Marzahn fand sich auch für die Schule in Pankow sehr schnell ein Ersatz: Ein gewisser Dietrich Kruse wurde aus der Pensionierung geholt. Er ist – man stehe still und staune! – Kraftfahrzeugtechniker und Ingenieur. Als solcher hat er ein Buch für Schüler geschrieben: „Automobiltechnik kompakt“. Wenigstens hat er schon einmal eine Schule geleitet. Ein Oberstufenzentrum für Maschinen- und Fertigungstechnik.
Stabel wurde gefeuert, weil er angeblich nicht genügend unterrichtet habe. Was unterrichtet Kruse? In der DDR gaben die Direktoren in solchen Fällen Staatsbürgerkunde. Mechtilde Lichnowskys Saat scheint endlich aufzugehen. Als Kind war ich einmal auf der Kommandobrücke und im Maschinenraum eines Ozeandampfers. Eigentlich könnte ich doch …

Günter Hayn

Nikolai E. Bersarin zum Gedenken

„Bersarin war genauestens über jeden einzelnen von uns informiert. Er empfing die Vertreter aller vier Parteien getrennt, interessierte sich aber wenig für die politischen Entwicklungsmöglichkeiten. Er stellte uns auch keine politischen Fragen, sondern wollte von uns hören, was jetzt geschehen solle, um die schweren Schäden zu beseitigen. Es war in seiner Unterhaltung kaum zu spüren, daß noch vor wenigen Wochen blutige Kämpfe in den Straßen dieser Stadt ausgefochten worden waren, die auch der Roten Armee harte Opfer abverlangt hatten. Bersarin schien nichts wichtiger zu sein, als Berlin wider lebensfähig zu machen. Er nahm seine Aufgabe so ernst und hielt sie für so selbstverständlich, als hätte er sie in seinem eigenen Land durchzuführen.“

Ernst Lemmer, Erinnerungen (1968). Lemmer war 1957 bis 1962
Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, danach leitete er bis 1965
das Ministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte.

„Als es am 11. Juni im Magistrat zu einer Auseinandersetzung über den Religionsunterricht an den Schulen kam, wünschte Bersarin ausdrücklich, die Berliner Kinder zu lehren, „daß es einen Gott gibt“. Der General war ein korrekter und humaner Kommunist […]“.

Heinrich Grüber, Erinnerungen (1968).
Grüber war Propst der Evangelischen Kirche in Berlin.

Am 16. Juni 1945 starb der erste Stadtkommandant nach der Befreiung Berlins infolge eines Motorradunfalls in Berlin-Friedrichsfelde. Bis heute dauern von konservativer Seite Versuche zu seiner Verunglimpfung an. Den Vogel abgeschossen hatte dabei der Berliner CDU-Politiker Günter Toepfer, der 1992 behauptete, dass Bersarin 1940 als Oberkommandierender der „27. Russischen Armee“ die baltischen Republiken überfallen und am 14 Juni 1940 47.000 Letten habe deportieren lassen. Nikolai Bersarin wurde erst am 26. Mai 1941 nach Lettland versetzt. „Audacter calumniare, semper aliquid haeret“ („Verleumde nur dreist, es bleibt immer etwas hängen“), wusste schon Plutarch.

d. Red.

Die Spur des Falken

Im Hofgarten unseres Hauses in Berlin-Wilhelmsruh fand ich einen ziemlich hilflosen Vogel. Schnell war klar, dass es sich um einen jungen Turmfalken handelt, der mit seinen Eltern nebenan im Haus der alten roten Schule wohnt. Der junge Falke hatte wohl seine Flugfähigkeit überschätzt. Ich brachte ihn zur Schule, die heute ein Hort und Mehrgenerationenhaus ist. Die dort spielenden Kinder waren hellauf begeistert. Die Wildvogelstation des Naturschutzbundes Deutschlands (NABU) wurde verständigt, das Tier notdürftig in einem Pappkarton einquartiert sowie lebenswichtig mit frischem Wasser versorgt.

Während meines Aufenthaltes auf dem Schulhof wiederholte sich die Geschichte. Auch der zweite Vogel landete im Hofgarten. Auch dieser konnte gerettet und zur Schule transportiert werden.

Die jungen Falken wurden am Abend des gleichen Tages von einem Mitarbeiter des NABU in die elterliche Wohnung zurückgesetzt, die sich auf dem Dachboden des Hauses befindet und ausschließlich vom NABU betreut wird. Die beiden Delinquenten waren so mit einer polizeilichen Verwarnung und Belehrung zum falschen Flugverhalten davongekommen. Laut NABU handelte es sich um einen „Flugunfall“ ohne Personen- und Sachschaden.

Harald Bröer

Im freien Fall

Fast sah es so aus, als gäbe es ihn doch – den Vorzeige-Ossi mit Bilderbuchkarriere bis ganz nach oben; trotz Herkunft aus „einfachen“ Verhältnissen: Philipp Amthor, 27-jährig, Shootingstar der CDU mit Pennäler-Outfit.

Als Sohn einer alleinerziehenden Mutter aus dem Kaff Torgelow fast an der polnischen Grenze, Erstes juristisches Staatsexamen mit Prädikat und seit 2017 zweitjüngster Bundestagsabgeordneter stand er kurz vor dem entscheidenden Karrieresprung – für den nächsten Parteitag der CDU von Meck-Pomm (im August?) kandidiert er als (bisher noch) Einziger für den Vorsitz der Landespartei.
Doch dann dieses: „Der Shootingstar wankt“ (tagesschau.de am 16. Juni).

Was war geschehen?

Im Herbst 2018, wie jetzt ruchbar wurde, hatte Amthor in einem Brief an den Bundeswirtschaftsminister um politische Unterstützung für die amerikanische Firma Augustus Intelligence geworben. Zu deren prominenten weiteren Lobbyisten zählen unter anderem Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und Ex-Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen. Letzterer ist jetzt vor den Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Anschlag auf dem Berliner Breitscheid-Platz zitiert, dem Amthor bisher angehörte.

Aber bohrende, gar kritische Fragen an einen Geschäftspartner?

Oder eben keine solchen!

Ein Geschmäckle so oder so, weshalb Amthor vorsichtshalber den Dienst im Ausschuss quittierte.
Schlimmer jedoch: Für seine Dienste hatte er von Augustus Intelligence einen Direktorenposten und Aktienoptionen erhalten. Zugleich hatte die Verbindung Amthor den Zugang zur „Welt der Macht und des Reichtums“ geöffnet, „Luxusreisen nach Korsika, Privatjets, Clubnächte mit Champagner und Austern“ inklusive, wie die Berliner Zeitung nicht ohne Süffisanz vermerkte. Amthors Geschäftsreisen jedenfalls nimmt gerade die Bundestagsverwaltung unter die Lupe. Und dann sind da ja auch noch die 1000 bis 3500 Euro monatlich von der US-Kanzlei White & Case …

Damit ist der unschöne Verdacht der Käuflichkeit in der Welt.

Amthors nachgeschobenem Eingeständnis – „Es war ein Fehler.“ – gebricht es überdies vollständig an der ihm sonst eigenen Vollmundigkeit. („Es gibt eine in einem festen Kanon zu beschreibende deutsche Leitkultur.“) Hätte er doch wenigstens Boulay de la Meurthe zitiert! „C’est pire qu’un crime, c’est une faute.“ („Es ist schlimmer als ein Verbrechen, es ist ein Fehler.“)

Man darf gespannt sein, wie sich die Causa Amthor weiter entwickelt. Im Hinblick auf Amthors Kandidatur für den CDU-Landesvorsitz von Meck-Pomm hat die Partei inzwischen schon mal die Reißleine gezogen. Die Linke spricht gar von Amthor-Gate und fordert, dass der Ertappte auch sein Bundestagsmandat niederlegt. Käme es dazu, hätte der vielleicht zumindest Aussicht auf einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde – in der Rubrik schnellstes Karriereende ever.

Alfons Markuske

Spielen, einfach wieder spielen!

„In den letzten Monaten war keine Oper möglich: weder Proben, noch Aufführungen vor Publikum. […] Und damit fehlte uns etwas ganz Elementares und zutiefst Menschliches: das Spiel in allen seinen Varianten.“ So beschreibt Neil Barry Moss, Spielleiter an der Deutschen Oper Berlin, die zutiefst frustrierende Situation, der sich die Künstler nicht nur aber eben auch der Opernbühnen ausgesetzt sahen. Auf eine pfiffige Weise durchbrach am 12. Juni das Ensemble seines Hauses das auferlegte Schweigen. An jenem Tage sollte Richard Wagners „Das Rheingold“ in der Neuinszenierung von Stefan Herheim als Auftakt zu einem neuen „Ring“ über die Bühne gehen. Da es im Großen Haus nicht möglich war, ging man auf gut Hölderlinsche Weise ins Offene. Es gab am 12. Juni das „Rheingold“, aber open air auf dem Parkdeck des Hauses. Das erwies sich zu aller Erstaunen – GMD Donald Runnicles räumte es ein – als akustisches Raumwunder. Natürlich nicht mit dem großen Orchester, „Rheingold“ verlangt unter normalen Umständen einen mit 80 bis 85 Positionen besetzten Orchesterapparat. Runnicles musste mit 22 Musikern auskommen. Und Wunder über Wunder: es funktioniert! Natürlich hat das mit den Künstlern zu tun, deren Musizier- und Spielfreude am Premierenabend das Betongeviert so dominierte, dass wohl kaum jemand im Publikum in den 110 Minuten den Großen Saal vermisste. Spielfreude – Moss richtete eine „halbszenische Spielfassung“ ein –: genannt seien nur Thomas Blondelle, dessen Loge den Abend bestimmte und der streckenweise den Götterchef Wotan (Derek Welton) als einigermaßen überflüssig am Rande stehen ließ. Und so klar und überzeugend wie in dieser Inszenierung sind auch die Rheintöchter selten zu hören: Elena Tsallagova (Woglinde), Irene Roberts (Wellgunde), Karis Tucker (Flosshilde). Musikalisch funktioniert das Ganze aber nur, das sei hier eingeräumt, weil die Deutsche Oper auf eine reduzierte Fassung des „Rings“ zurückgreifen konnte, die Jonathan Dove und Graham Vick 1990 für die Birmingham Opera Company erstellten. Wagner-Puristen werden die Nase rümpfen, im „Rheingold“ wurde zum Beispiel der Superschmied Mime komplett gestrichen. Aber das Ergebnis spricht für sich und überzeugte offenbar den größten Teil des Premierenpublikums, das in Sachen Wagner im Haus an der Bismarckstraße extrem empfindlich ist – und den Rezensenten sowieso.

Aber die wichtigste Nachricht des Abends lautete: „Wir sind wieder da – und wir spielen …“

W. Brauer

Frankenberger – 5! Setzen!

Muss man beim Außenpolitik-Chef der Frankfurter Allgemeinen eigentlich historische Sachkenntnis voraussetzen dürfen? Im Falle von Klaus-Dieter Frankenberger offenbar nicht. Zu den massiven Attacken der USA, die Fertigstellung und Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 und damit eine weitere Steigerung russischer Erdgaslieferungen nach Deutschland und Zentraleuropa zu verhindern vermerkte Frankenberger dieser Tage mit erkennbarer Empathie für das Agieren Washingtons, „dass die Amerikaner selbstverständlich ihre Sicht der Dinge vortragen (Russland werde sich aus dem Gas-Deal die Mittel für seine militärischen Aktionen beschaffen)“ und versah seinen Vortrag für alle, die es trotz Lektüre der FAZ immer noch nicht begriffen haben, mit dem Imperativ, dass man „europäische Energiesicherheit […] nicht wirklich von Sicherheit generell trennen [kann], bei der die Europäer […] nicht ohne Amerika auskommt [sic! – S.]“.

Vom zweifelhaften Deutsch mal abgesehen: Gegen die Anbahnung damals noch westdeutscher Bartergeschäfte mit der UdSSR – Pipelineröhren gegen Erdgas – agierte Washington bereits seit Ende der 1950er und setzte nach der Kuba-Krise von 1962 ein NATO-Embargo durch, so dass deutsche Firmen bereits unterzeichnete Verträge brechen mussten. Doch mit der ab 1969 unter Bundeskanzler Willy Brandt einsetzenden neuen Ostpolitik kam Bewegung in die Sache. Das erste großdimensionierte Erdgas-Röhren-Geschäft wurde 1970 abgeschlossen: Es vereinbarte die Lieferung von drei Milliarden Kubikmetern Erdgas jährlich über 20 Jahre. Im Gegenzug bauten Mannesmann und Thyssen eine 2000 Kilometer lange Pipeline. Russisches Gas erreicht die Bundesrepublik seit 1973. Und immer hat Russland zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk geliefert. Auch als der Kalte Krieg mit der Raketenkrise ab 1979 nochmals einen Siedepunkt erreichte. Damals stänkerte US-Präsident Carter nachdrücklich gegen diese westdeutsch-sowjetischen Geschäftsbeziehungen und Kanzler Helmut Schmidt beschied ihn kurz und bündig: „Wer Handel miteinander treibt, schießt nicht aufeinander.“

Um in der Diktion Frankenbergers zu bleiben: Weil Bonn die Dinge voneinander trennte, war in der Endkonsequenz beidem gedient – sowohl der „europäische[n] Energiesicherheit“ als auch der „Sicherheit generell“.

Wer uns heute das Gegenteil weiß machen will, hat entweder bloß keine Ahnung oder führt vorsätzlich in die Irre.

Sarcasticus

Die Nachtigall

von Renate Hoffmann

In der Morgendämmerstunde,
tiefe Stille in der Runde.
Kein Vogelruf, kein Flackerlicht,
nirgendwo ein Nachtgesicht.
Kein Lüftchen weht, kein Hündchen bellt,
sogar der Traum ist abgestellt.
Nur der Mond schaut hin wieder
auf die kleine Erde nieder.

Plötzlich mitten in der Stadt,
die nur noch wenig Bäume hat,
tönt schmachtend eine Melodei
schluchzt und säuselt, schwingt sich frei
zu einem jubelnden Gesang,
der schwebt die ganze Straße lang.
Und flötet, lockt und säuselt leise
in sehr vergnügter C-Dur-Weise.

Nun folgt ein Triller, ziemlich heiter,
dann geht’s mit Varianten weiter.

Der Himmel lichtet sich inzwischen,
die Spatzen lärmen in den Büschen.
Herr Naumann macht sein Fenster auf,
denn er wartet schon darauf,
dass sie wieder für ihn singt
und es durch die Lüfte klingt,
wie ein fröhlicher Choral.
Und das Ganze noch einmal.

Herr Naumann ist nun hochbeglückt,
denn was ihn gestern noch bedrückt,
es ist vorbei, wie weggeblasen.
Er denkt für sich, gewissermaßen:
Mag kommen, was da kommen mag,
das wird heut ein besond’rer Tag.

Altbekanntes neu gesehen

Das Franz-Radziwill-Haus in Dangast am niedersächsischen Jadebusen gehört zu den Künstlerhäusern, die den Besucher auf geradezu magische Weise in ihren Bann nehmen. Das mag damit zu tun haben, dass Radziwill – hier vergleichbar mit dem Kollegen Niemeyer-Holstein in Koserow auf Usedom – sein Atelier-Haus weniger als Museum seiner selbst inszenierte, sondern immer als Ort betrachtete, an dem das Persönlichste und die Kunst zu einem Amalgam verschmelzen, auf dessen Basis die großen Bilder überhaupt erst möglich werden. Es hat einen sehr eigenen Reiz, seine Arbeiten am Ort ihres Entstehens zu sehen. Dankenswerterweise präsentiert das Radziwill-Haus in jährlichem Wechsel eine kleine, aber feine Auswahl aus dem umfangreichen Werk des Malers. Aktuell werden unter dem Titel „Lichtspiele“ 21 Gemälde aus den Jahren 1923 bis 1971 gezeigt. Maren Buschmann beschreibt eine Gemeinsamkeit dieser thematisch und maltechnisch durchaus unterschiedlichen Bilder: „Seine Bildräume erscheinen, als werde das Geschehen von einer fremden Lichtquelle beleuchtet. So schafft der Künstler eine bisweilen unheimliche Stimmung, die das Dargestellte trotz realistischer Formensprache subtil in Frage stellt.“

Natürlich ist die zauberhafte Exposition der Franz-Radziwill-Gesellschaft nicht zu vergleichen mit der Wucht der 125 Bilder, die das Landesmuseum Oldenburg anlässlich des 125. Geburtstages des Malers zeigt. Aber wer in diesem Sommer im Nordwesten des Landes auf Kunstexpedition ist, sollte sich unbedingt die Zeit für einen Abstecher nach Dangast nehmen.

Lichtspiele, Franz-Radziwill-Haus Dangast, Sielstr. 3, 26316 Dangast, Mi–Fr 15–18 Uhr, Sa, So und Feiertage 11–18 Uhr – es empfiehlt sich eine telefonische Anmeldung (04451-2777), bis 10. Januar 2021; Franz Radziwill. 125 Werke zum 125. Geburtstag, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg. Oldenburger Schloss, Schlossplatz 1, 26122 Oldenburg, Di–So 10–18 Uhr, bis 23. August 2020.

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Eine Schatzkammer des Nordens hat ihre Tore wieder geöffnet, die Kunsthalle Bremen – und überrascht mit einer neuen Präsentation der Dauerausstellung unter dem etwas spröden Titel „Remix 2020. Die Sammlung neu sehen“. Das Haus zeigt Bekanntes, weniger Bekanntes und jahrzehntelang in den Depots verborgen Gewesenes in einer vollkommen neuen Hängung. Aber was heißt hier „Hängung“ – die Räume des Hauses erfahren eine grundlegend neue Konzipierung. Natürlich folgt man im Wesentlichen einer chronologischen Grundstruktur, allerdings ergänzt durch Themenräume: Glauben und Krieg, Welthandel und Kolonialismus, Natur und Globalisierung. Nicht zuletzt sind das auch zutiefst „bremische Fragen“. Die Kunst seit 1945 erfährt eine deutliche Aufwertung. Zu sehen sind zum Beispiel raumfüllende Installationen von Ilya Kabakov und Otto Piene sowie Werke von Martin Honert, Mary Reid Kelley und Patrick Kelley sowie Korpys/Löffler. Dazu kommen Dauerleihgaben von Robert Longo, Katharina Sieverding und Kehinde Wiley. Gewöhnungsbedürftig und sicher diskussionswürdig ist die Anordnung der Skulpturenauswahl in der Großen Galerie: Hier entschied man „nach dem Kriterium der Größe“, wie das Haus mitteilte. Aber sehenswert ist das allemal. Streiten kann man sich hinterher.

Kunsthalle Bremen, Am Wall 207, 28195 Bremen, Di–So 10–17 Uhr, jeden letzten Dienstag im Monat 10–21 Uhr.

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Und wenn Berliner Kunstfreunden der Weg in den Norden zu weit ist – ein Ausflug nach Biesdorf geht immer, da reichen S- oder U-Bahn. Schloss Biesdorf zeigt seit kurzem „Ronald Paris: Bilder vom Sein – Arbeiten aus sechs Jahrzehnten“. Ich weiß nicht, weshalb Kunstwissenschaftler gerne zu solch pathetischer Titelei greifen. Abschrecken lassen sollte man sich davon nicht. Die Kuratorin der Ausstellung, Gerlinde Förster, hat einen beeindruckenden Querschnitt durch das Werk des Künstlers zusammengestellt. Wer die expressive Wucht seiner Auseinandersetzungen mit antiken Stoffen kennt, wird die zeichnerischen Arbeiten voller Erstaunen zur Kenntnis nehmen. Seine Porträts sind Zeugnisse einer tiefen Auslotung der Persönlichkeit der Dargestellten. Das hat und wird nicht immer jedem gefallen. Wir sind beeindruckt. Eine Entdeckung!

Schloss Biesdorf, Alt-Biesdorf 55, 12683 Berlin, täglich von 10–18 Uhr, Freitag 12–21 Uhr; dienstags geschlossen; bis 14. August 2020.

WB

Aus anderen Quellen

„Wir sehen […] nicht, wie 70 Millionen Kinder in den Entwicklungsländern unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten – auch für unsere Konsumgüter“, erklärt Entwicklungsminister Gerd Müller. Und: „Das ist moderne Sklaverei! Kein Automobilwerk in Deutschland könnte ohne Rohstoffe aus dem Kongo oder Sambia produzieren, wo in vielen illegalen Minen Kinder schuften. Und es geht ja weiter: Unsere Kleidung wird in Bangladesch oder in Äthiopien produziert. Die Näherinnen arbeiten 14 Stunden am Tag für einen Hungerlohn von 25 Cent pro Stunde. Unser Wohlstand gründet sich erheblich auch auf der Ausbeutung der Menschen und der Ressourcen in Entwicklungsländern.“ Immerhin – der Mann ist CSU!

Tanja Brandes: Entwicklungsminister: Millionen Kinder werden ausgebeutet, berliner-zeitung.de, 21.05.2020. Zum Volltext hier klicken.

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„Der Erfolg der AfD im Osten“, stellt Michael Bittner fest, „wäre nicht denkbar ohne eine ganze Riege von Intellektuellen und Künstlern, die dem Rechtsruck bildungsbürgerlichen Ausdruck verleihen. Wer sich einen Überblick über die Szene verschaffen will, muss nur einen Blick in das Programm werfen, mit dem in Dresden das Kulturhaus Loschwitz seine Besucher beglückt. […] Unter den Gästen findet man den sächsischen CDU-Kommunistenfresser Arnold Vaatz, die ehemaligen ‚Bürgerrechtlerinnen‘ Vera Lengsfeld und Angelika Barbe, den Psychiater und sich als ‚gesellschaftskritisch‘ verstehenden Bestsellerautor Hans-Joachim Maaz, die prominenten Schriftsteller Uwe Tellkamp und Monika Maron sowie den Feuilletonisten Sebastian Henning, der als Gesprächspartner für Björn Höckes Bekenntnisbuch ‚Nie zweimal in denselben Fluss‘ fungierte.“

Michael Bittner: Die Volksgemeinschaft lässt grüßen, neues-deutschland.de, 13.05.2020. Zum Volltext hier klicken.

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Der amerikanische Regisseur Spike Lee meinte dieser Tage, so wie es eine Zeit vor und eine nach Christus gegeben habe, so werde auch Corona eine derartige Zäsur markieren. Für ein Virus denn doch vielleicht etwas viel der Ehre. Aber manchen Alltagsgegenstand könnte es nach Lage der Dinge gleichwohl hart treffen. Über einen möglichen Kandidaten hat sich Silke Wichert – es gebe „niemanden, der/die es so klug schafft, Mode und gesellschaftliche Debatten zu verweben“, meint die Süddeutsche Zeitung – ausführlich Gedanken gemacht. Im Zentrum dabei die vom amerikanischen Magazin Harper’s Bazaar aufgeworfene bange Frage: „Werden wir jemals wieder BH tragen?“

Silke Wichert: Warum Corona das Ende des BHs einleiten könnte, sz-magazin.sueddeutsche.de, 10.06.2020. Zum Volltext hier klicken.