von Ulrich Busch
Mit der Nominierung von Christine Lagarde als Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) haben nicht wenige Politiker, Ökonomen sowie Bürgerinnen und Bürger in den Euro-Staaten die Erwartung verknüpft, dass nun der Zeitpunkt für eine Wende in der Geldpolitik gekommen sei. Insbesondere in Deutschland bestand die Hoffnung, dass die unter Mario Draghi erfolgten Maßnahmen einer ultralockeren Geldpolitik, die unter dem Begriff Quantitative Easing (QE) firmieren, jetzt zurückgeführt werden und sich die EZB wieder auf ihre „eigentliche Aufgabe“, die Einhaltung der Preisniveaustabilität, konzentrieren würde. Inzwischen ist die Amtsübernahme von Frau Lagarde erfolgt. Von einer Korrektur der geldpolitischen Linie ist bisher jedoch keine Rede, eher von deren dezidierter Fortsetzung. Dies wirft die Frage auf: Warum hält die EZB an ihrer Strategie fest, obwohl sie damit doch ganz offensichtlich ihr Mandat überschreitet, zumindest aber extrem dehnt, wenn nicht überdehnt?
Die Antwort hierauf ist nicht einfach und trägt aus heutiger Sicht durchaus hypothetische Züge: Einerseits kann es nicht ausgeschlossen werden, dass die Volkswirtschaften Europas – oder der Welt – derzeit auf eine größere Rezession zusteuern. Damit würde eine Finanzkrise einhergehen, die womöglich zu ähnlichen Verwerfungen führt, wie die letzte Krise. Der EZB wäre in diesem Fall der Vorwurf zu machen, dass ihre lockere Geldpolitik „die Saat für die nächste Finanzkrise gelegt“ habe, wie die Börsenzeitung am 31. Oktober schrieb. Dies ist aber nur ein Aspekt der Problematik. Ein anderer ist darin zu sehen, dass es ganz wesentlich der EZB und der Politik Mario Draghis zu verdanken ist, dass letztlich alle Volkswirtschaften der Euro-Zone das tiefe Tal der Krise verlassen konnten und auch die wirtschaftlich schwächsten, unter ihnen Länder wie Griechenland und Portugal, an der Finanz- und der Staatsschuldenkrise nicht komplett gescheitert sind. Die EZB hat eingegriffen, als die Politik der Staaten politisch kläglich versagt hat. Und sie hat durch ihr couragiertes Eingreifen „den Laden“, das heißt die Euro-Zone, zusammengehalten und den Euro als kollektive Währung gerettet. Dass dies nicht ohne Nebeneffekte und Nachwirkungen abging, versteht sich von selbst. Insbesondere hat die EZB ihr Ziel, die Inflationsrate „unter, aber nahe zwei Prozent“ zu halten, dadurch verfehlt. Dies aber nicht, wie von zahlreichen Kritikern prognostiziert, weil die Inflation höher ausgefallen wäre, sondern umgekehrt, wegen einer zu geringen Inflation: Der durchschnittliche Anstieg des Preisniveaus in der Eurozone betrug während Draghis Amtszeit nur 1,2 statt der gewünschten 1,9 Prozent.
Damit ist ein dritter Aspekt angesprochen: Ist es noch zeitgemäß, die Rolle der EZB auf die Einhaltung einer einzigen Kennziffer, der Preisniveaustabilität, zu reduzieren oder sollte die Zentralbank nicht vielmehr proaktiv auf den Märkten in volkswirtschaftlicher Verantwortung agieren? Die EZB ist mit den Folgen der letzten Krise nur deshalb fertig geworden, weil sie ihr Mandat überschritten und durch den Ankauf von Anleihen im Umfang von 2.650.000.000.000 Euro faktisch eine laut EU-Vertrag (Art. 123) verbotene monetäre Staatsfinanzierung vorgenommen hat. Indem sie nun daran festhält und diese Politik ausdrücklich nicht als Notmaßnahme infolge der Finanzkrise, sondern als neue geldpolitische Normalität betrachtet, vollzieht sie einen Paradigmenwechsel. Dies muss betont werden, denn ein derart grundlegender Wechsel in der Strategie und Arbeitsweise der Zentralbank ist nicht alle paar Jahre zu beobachten, sondern stellt vermutlich ein Jahrhundertereignis dar. Der Übergang von der bisherigen alten zu der nunmehr angestrebten neuen Rolle der Zentralbank erfolgt auch nicht in einem Schritt. Er ist vielmehr ein mehrstufiger Prozess, der sich über viele Jahre hinzieht. Zuletzt war es die US-amerikanische Notenbank, die eine solche Neujustierung ihrer Tätigkeit und damit eine volkswirtschaftliche Aufwertung ihrer Stellung vorgenommen hat. Auch die Bank of England hat inzwischen einen ähnlich gravierenden Wandlungsprozess vollzogen. Nun folgt auch die EZB diesem Beispiel und agiert auf den Finanzmärkten und gegenüber den Staaten als zentraler Akteur mit einer gewachsenen volkswirtschaftlichen Verantwortung. Begonnen hat dieser Prozess einer Neuausrichtung der Geldpolitik bereits unter Jean-Claude Trichet. Unter der Präsidentschaft von Mario Draghi und dem Druck der Umstände im Gefolge der Finanzkrise von 2007/08 aber hat er sich beschleunigt, so dass die EZB heute nicht mehr dieselbe Bank ist wie 1998, als sie ihre Arbeit aufgenommen hat.
Das ganze Ausmaß des jetzt vollzogenen Wechsels in der Geldpolitik, der die monetäre Staatsfinanzierung, ebenso aber auch die Nullzinspolitik und Negativzinsen auf Guthaben, möglich gemacht hat und wodurch die EZB für die 19 Staaten der Euro-Zone zum Kredit- und Geldgeber letzter Instanz („lender of last resort“) geworden ist, erschließt sich erst, wenn man die zuvor stattgefundenen geldpolitischen Umbrüche und Zäsuren mitbetrachtet. Gemeint sind insbesondere die Einführung des Goldstandards durch den Peel‘schen Bankakt 1844 in England, die Modifizierung desselben im Abkommen von Bretton Woods 1944 und dessen endgültige Aufhebung durch die Aufkündigung der Einlösungspflicht von US-Dollar in Gold 1971, womit der bis dato für alle Währungen bestandene Goldgehalt obsolet geworden ist. Da diese paradigmatischen Änderungen bis heute politisch und theoretisch nicht vollständig verarbeitet worden sind, fällt es vielen Menschen schwer, die jetzigen Neuerungen richtig einzuordnen. Ein Beispiel dafür bietet Peter-Joachim Hering im Blättchen 23/2019.
Tatsache ist, dass sich mit jeder Zäsur nicht nur die Geldpolitik radikal verändert hat, sondern auch das Geld selbst. 1844 war Geld identisch mit Gold, und alle Banknoten, Papierzettel, Scheidemünzen et cetera waren nur Gold-Substitute. 1944 wurde die Bindung des Geldes an das Gold durch den Gold-Devisen-Standard erheblich modifiziert, aber noch nicht definitiv aufgehoben. Für alles umlaufende Geld galt ein Goldgehalt und die Zentralbanken hatten die Möglichkeit, nationale Währungen über den US-Dollar gegen Gold zu tauschen. 1971 aber war es damit vorbei, mit der Gold-Dollar-Konvertibilität ebenso wie mit dem Goldgehalt der Währungen. Dieser wurde bald darauf, für die D-Mark wie für die meisten Währungen der Welt 1996, offiziell aufgehoben. De facto war er das schon seit 1971. Seitdem ist das Geld nicht mehr an Gold gebunden, und seine Emission, sein Umlauf, sein Wert und Preis, seine Stabilität und so weiter entwickeln sich unabhängig davon.
Aber, so wie es in der Politik die sogenannten „Alt-68er“ gibt, die ungeachtet seither stattgefundener Entwicklungsprozesse an ihren althergebrachten Ansichten festhalten, so gibt es in der Geldtheorie die „Alt-44er“. Diese beharren unbeirrt aller Paradigmenwechsel und Zäsuren in der Geldpolitik auf den Grundsätzen von 1844, insbesondere auf dem Diktum, wonach „Geld von Natur Gold“ ist – und alles andere „falsch“. So aber lässt sich heute weder das Verhältnis von Zentral-, Geschäfts- und Nichtbanken begreifen noch die Geldschöpfung via Kredit aus „dem Nichts“. Und folglich auch nicht der Paradigmenwechsel, der sich gegenwärtig in der Geldpolitik der EZB vollzieht und der bei „Alt-44ern“ und anderen Dogmatikern auf Unverständnis und Kritik stößt. Vielleicht gelingt es Christine Lagarde, die Vorzüge ihrer Geldpolitik überzeugender zu vermitteln, als dies ihrem Vorgänger vergönnt war. In ihrer ganzen Tragweite verstehen wird man die Neuausrichtung der Geldpolitik aber nur, wenn man sich von den paradigmatischen Schranken alter und überholter Theorien frei macht.
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