von Ulrich Busch
Vor zwanzig Jahren hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Arbeit aufgenommen. Sechs Monate später, am 1. Januar 1999, wurde der Euro als gemeinsame europäische Währung eingeführt, zunächst als Buchgeld, drei Jahre später auch als Bargeld. Diese Maßnahmen waren wichtige Schritte auf dem Wege zu einem vereinigten Europa. Und sie waren ein großer Erfolg. Trotzdem steht die EZB seit Jahren im Kreuzfeuer heftiger Kritik. Vor allem in Deutschland und in den deutschen Medien. Insbesondere erscheint hier vielen die Niedrigzinspolitik als ein gewagtes Experiment ohne hinreichende theoretische Fundierung und mit ungewissem Ausgang. Weitaus weniger dagegen werden die Gründe für die ungewöhnlichen Maßnahmen der EZB im Rahmen ihrer Geldpolitik diskutiert und werden die Ursachen für das Eingreifen der EZB im finanzpolitischen Versagen der Staaten und der Europäischen Union ausgemacht.
Überhaupt werden in den Medien Geld- und Finanzpolitik ständig miteinander verwechselt, falsch verortet und in ihren Wirkungen vermischt. So entstand schließlich ein unzutreffendes Bild von der tatsächlichen Lage, worin die EZB als Sündenbock und Verursacherin anormaler Zustände auf den Finanzmärkten erscheint, die Finanzpolitik der Staaten aber, da den nationalen Interessen Rechnung tragend, als angemessen bewertet wird. Und auch die Europäische Kommission, die weder die europäische Währungs- und Wirtschaftsunion spürbar vorangebracht hat noch wirksame Maßnahmen auf dem Gebiet der Steuervermeidung und der Steuerkriminalität getroffen hat, ganz zu schweigen von einer gemeinsamen Investitionspolitik, bleibt außerhalb der Kritik. Der EZB aber wird vorgeworfen, sie betreibe Wirtschaftspolitik, statt sich auf die Geldpolitik zu beschränken.
Tatsächlich hat die EZB aber nur auf die Unfähigkeit und Untätigkeit der Politik reagiert, wurde ihr Eingreifen in die Wirtschaftspolitik als eine Art Notmaßnahme erforderlich, weil andere Institutionen, nationale wie internationale, schlichtweg versagt haben. Interessanterweise ist dies nicht ohne Folgen geblieben, nicht zuletzt für die EZB selbst. So trat sie einst mit dem Ziel an, die Geldversorgung der Wirtschaft in der Eurozone zu sichern und dabei das Preisniveau mittelfristig „stabil“ zu halten. Als Maßstab dafür wurde eine Inflationsrate von „unter 2 Prozent“ beziehungsweise von „unter, aber nahe 2 Prozent“ definiert. Die seit 1999 in der Eurozone zu verzeichnende Inflationsrate lag im Durchschnitt bei 1,7 Prozent, was angesichts der Verwerfungen in der Weltwirtschaft ein sehr gutes Ergebnis ist. Die Deutsche Bundesbank wies zu ihrer Zeit weit größere Zielverfehlungen auf, obwohl sie in einem deutlich überschaubareren Rahmen agiert hat.
Die EZB hat während ihrer historisch kurzen Existenz aber noch weit mehr geleistet, als das Preisniveau stabil zu halten. Ihr ist es auch zu verdanken, dass die Volkswirtschaften der Eurozone infolge der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 nicht kollabiert sind, sondern sich allmählich wieder erholt haben und inzwischen größtenteils sogar wieder wachsen. Das ist jedoch differenziert zu bewerten und gilt keineswegs für alle Länder gleichermaßen. Dass dabei die südlichen Länder Europas deutlich schlechter abschneiden als die nördlichen, hat vielfältige Ursachen, ist aber kaum der EZB anzulasten.
Ganz im Gegenteil: Italien zum Beispiel, das gegenwärtig politisch und wirtschaftlich vor fast unlösbaren Problemen steht, zählte im letzten Jahrzehnt ganz klar zu den Hauptprofiteuren der Geldpolitik. Dass die Schwierigkeiten im Zeitverlauf trotzdem nicht kleiner, sondern größer geworden sind, ist eine Folge nationaler Politik und nicht Schuld der EZB. Es gilt auch zu beachten, dass die verfehlte Strategie der Spar- und Austeritätspolitik, zum Beispiel gegenüber Griechenland, aber auch gegenüber anderen Staaten, nicht so sehr der Geldpolitik angelastet werden darf, sondern vielmehr dem Diktat der Europäischen Kommission, den jeweiligen Staaten und deren nicht nachhaltiger Finanzpolitik. Der Flurschaden, der da angerichtet worden ist, macht sich zwar in den Geldbeziehungen und monetären Bilanzen bemerkbar, hat dort aber nicht seine Ursache. Die geldpolitischen Maßnahmen der EZB, die Politik des billigen Geldes etwa und die unbegrenzten Ankäufe von Staatsanleihen, haben Staaten wie Griechenland, Italien und Portugal bei der Bewältigung ihrer Finanzprobleme beträchtlich geholfen. Dass sie es teilweise trotzdem nicht geschafft haben, aus der Misere herauszukommen, geht auf Kosten der Politik dieser Staaten und der EU, nicht aber zu Lasten der EZB.
Die Bank jedoch hat im Zuge der Krisenprävention und -bewältigung ihr Mandat gewaltig ausgedehnt und teilweise überschritten. Schließlich hat sie dadurch als Institution einen Wandel durchlaufen, der sie heute als etwas anderes erscheinen lässt als bei ihrer Gründung 1998. Sah es anfangs so aus, als würde die EZB lediglich die Tradition der Deutschen Bundesbank auf europäischer Ebene fortsetzen, so wird nun deutlich, dass sie sich unter Mario Draghi inzwischen eher zu einer Fed 2.0, einer Kopie der US-amerikanischen Notenbank, gemausert hat. Verwundert konstatierte der ehemalige Chefvolkswirt der EZB, Jürgen Stark, daher: „Mit der Ausnahme, dass die EZB nach wie vor ihren Sitz in Frankfurt hat, ist an deutscher Prägung nichts mehr erkennbar.“ – Auch das ist womöglich ein Resultat ihrer Erfolgsgeschichte. Ebenso wie ihre zunehmende Politisierung. Die EZB hat sich in den Stürmen der Zeit zu einer modernen Zentralbank von globaler Relevanz entwickelt. Und nur so kann sie auch künftig als ein Instrument der europäischen Einigung fungieren.
Schlagwörter: Europäische Zentralbank, EZB, Finanzpolitik, Geldpolitik, Mario Draghi, Ulrich Busch