22. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2019

Irren Ökonomen?

von Peter-Joachim Hering

Auf Abwegen hat sich Klaus Müller nicht befunden, als er sein Buch „Auf Abwegen. Von der Kunst der Ökonomen, sich selbst zu täuschen“ schrieb. Darin analysiert er phänomenal die Wirren, Widersprüche und Paradoxien vieler Wirtschaftswissenschaftler und stellt dabei die Dialektik von Wesen und Erscheinung, Allgemeinen und Besonderem, Teil und Ganzem, Element und System, Form und Inhalt und vieler weiterer vermeintlicher Widersprüche sowie gleichzeitig deren Einheit dar. Seine Betrachtungen sind frappierend und zugleich einleuchtend. Der Leser wird dabei auf den richtigen Weg, auf den der ökonomischen Lehre von Marx, geführt.
Gemeint ist die „authentische“ Marx’sche Lehre und nicht das, was manche daraus machten. Insbesondere bei den Grundkategorien Ware, Wert und Arbeit kritisiert Müller die allgemein vorherrschende Wirtschaftslehre und auch die Vertreter der „Neuen Marx-Lektüre“. Gleiches gilt für Preis, Geld und Profit.
Auch die Rolle der Zentralbank wird kritisch beschrieben. Hierbei gibt ihm das aktuelle Geschehen Recht: Die Zentralbank sanktioniert, was ohnehin geschieht. Die lockere Geldpolitik mit Anleihekäufen hat die Geldmenge nicht besonders steigen lassen und die Inflation ist niedriger als gewollt. (Warum soll die überhaupt bei nahe zwei Prozent liegen?).
Ich habe das Buch als Praktiker mit einer leichten Neigung zu theoretischen Betrachtungen gelesen. Dabei wurde ich an Ereignisse erinnert, welche die Aussagen im Buch voll unterstreichen. So ist mir eine „Durchschnittslüge“ schon des Öfteren begegnet. Beispielsweise wurden Buslinien eingestellt, weil das Fahrgastaufkommen im Durchschnitt zu gering war. Wenn aber die Busse im Berufsverkehr gut gefüllt waren, muss man sich schon fragen, ob der Durchschnitt die Situation richtig abbildet.
Müller schildert nicht zuletzt, wie beim Sparen der Einzelne glaubt, reicher zu werden, es in der Gesamtsicht hingegen ganz anders aussehen kann. Das erinnerte mich an die Entwicklung der Sparguthaben in der DDR. Sie betrugen laut amtlicher Statistik 1950 1275 Millionen DDR-Mark und wuchsen bis 1988 auf 151.590 Millionen. Die Sparrate stieg ständig. Dies auch deshalb, weil ein adäquates Konsumgüterangebot fehlte. Es wurde zwangsweise gespart und dadurch zu einem Problem für den Staat.
Bemerkenswert dabei ist, dass in Berlin die Sparguthaben je Einwohner niedriger als in vielen Bezirken waren, obwohl in Berlin mehr verdient wurde. Der Sparüberhang war geringer, da das Konsumgüterangebot besser war.
Aus einer Gesamtsicht von Berlin und den Bezirken muss also ein einfacher Durchschnitt genau betrachtet werden. Aber egal wie der aussieht: Manche verfügten trotzdem über viel Geld (waren also reich) und konnten dafür aber nicht die gewünschten Güter kaufen.
Für den Staat in der Gesamtheit war der vermeintliche Reichtum der Einzelnen zum Problem geworden. Deshalb ist die Entwicklung der Sparguthaben in der DDR auch ein Beweis für die fehlende Stabilität der DDR-Mark, welche im Buch gleichfalls beschrieben wird.
Amüsiert habe ich mich bei der Aufzählung von Synonymen und bei den Bedeutungsänderungen von Begriffen. Ich habe in meiner Hobby-Werkstatt auch noch Engländer und Franzosen, die aber in den Baumärkten als Rollgabelschlüssel angeboten werden. In meiner Kindheit wohnten wir neben einem Scherenschleifer. Bauern brachten zu ihm unter anderem Mähbalken zum Schärfen. Eines Tages ließ ein Bauer anfragen, ob er „mal kurz“ einen Läufer einstellen kann. Den wolle er kaufen, müsse aber noch andere Wege in der Stadt erledigen. Unser Scherenschleifer bejahte und holte vom Nachbarn ein Schweinegatter. Darin konnte er den Läufer sicher aufbewahren. Der Bauer kam dann aber nicht mit einem jungen Schwein, sondern mit einem langen schmalen Teppich über der Schulter an.
Aus solchen Beispielen folgert Müller, dass Begriffe eine Geschichte haben. Begriffe dürfen nicht zu weit und nicht zu eng definiert werden. „Kapital ist Geld“ etwa ist zu eng definiert, denn der Kapitalbegriff umschließt neben dem Geldkapital auch das Sachkapital und die Arbeitskräfte (variables Kapital).
Es ist also schwierig, die Probleme auf den richtigen Begriff zu bringen. Deshalb resultieren nach Müller Meinungsverschiedenheiten unter Ökonomen oft auch aus unterschiedlichen Begriffsbestimmungen.
Das Buch von Klaus Müller gehört in die erste Reihe der aktuellen wirtschaftswissenschaftlichen Literatur. Es ist nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich und stilistisch einwandfrei. Jeder, auch der sich mit der Materie bisher nicht besonders stark beschäftigt hat, kann den Ausführungen folgen oder erhält zumindest Anregungen für zusätzliche Lektüre.
Wer sich nicht auf (ökonomischen) Abwegen befinden will, der sollte das Buch lesen.

Klaus Müller: Auf Abwegen. Von der Kunst der Ökonomen, sich selbst zu täuschen, PapyRossa Verlag, 335 Seiten, 24,00 Euro.

Peter-Joachim Hering, 1943 geboren, studierte Geld und Kredit an der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst; danach Tätigkeiten in verschiedenen Banken der DDR; nach der Wende unter anderem Abteilungsdirektor in der Deutschen Bank. Der Autor lebt in Pöhl/Vogtlandkreis.