21. Jahrgang | Nummer 21 | 8. Oktober 2018

Bemerkungen

Spa(h)nnende Zeiten

Zumindest darauf, dass die Mainstreamgazetten uns auf Seite eins in knalligen Lettern und nachfolgend in zahllosen Kommentaren und anderen Redundanzen darüber informieren, wenn die Russen sich mal wieder in irgendeinen westlichen Wahlkampf reingehackt haben, kann man sich ja verlassen. Wenn die Amerikaner allerdings etwas Vergleichbares tun, dann müssen wir schon die Sieben-Zeilen-Meldungen auf Seite acht oder neun lesen. Etwa jüngst, als unser Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Weißen Haus von US-Sicherheitsberater John Bolton empfangen wurde …
Aber hallo!
Ein deutscher Gesundheitsminister im Weißen Haus?
Im Gespräch mit dem Sicherheitsberater?
Kann sich wer an schon mal so eine Konstellation aus jüngerer oder älterer Vergangenheit erinnern?
Hat in diesem Fall aber schon so etwas wie Logik: Spahn als Washingtoner Wunschkandidat für die Merkel-Nachfolge …
Apropos Merkel-Nachfolge: Aus anonymer Quelle ging der Blättchen-Redaktion dieser Tage der Entwurf eines Offenen Briefes zu, an dem der Gesundheitsminister noch feile, um ihn in Kürze der FAZ zur Veröffentlichung zu übergeben. Darinnen folgende Passagen:
Vielleicht ist es nach einem so langen politischen Leben, wie Angela Merkel es geführt hat, wirklich zu viel verlangt, von heute auf morgen alle Ämter niederzulegen, sich völlig aus der Politik zurückzuziehen und den Nachfolgern, den Jüngeren, das Feld schnell ganz zu überlassen. Und deshalb liegt es auch weniger an Angela Merkel als an uns, die wir jetzt in der Partei Verantwortung haben, wie wir die neue Zeit angehen. Wir kommen nicht umhin, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Auch in diesem Jahr haben wir die Wahlen nicht wegen und nicht trotz Angela Merkel gewonnen. Wir haben sie vielmehr wegen unserer Geschlossenheit und unserer Kampagnen gewonnen. Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Angela Merkel sich nie selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen und wird trotzdem immer zu der stehen, die sie ganz nachhaltig geprägt hat – vielleicht später sogar wieder mehr als heute.
Ein solcher Prozess geht nicht ohne Wunden, ohne Verletzungen. Wie wir in der Partei aber damit um­gehen, ob wir dieses scheinbar Undenkbare als Treuebruch verteufeln oder als notwendige, fließende Weiterentwicklung begreifen, das wird über unsere Chancen bei den nächsten Wahlen in den Ländern und im Bund entscheiden. Ausweichen können wir diesem Prozess ohnehin nicht, und Angela Merkel wäre im Übrigen sicher die Erste, die dies verstünde.“
Einem älteren Redakteur kamen die Sätze irgendwie bekannt vor. Und tatsächlich – es handelt sich um nahezu wörtliche Übernahmen aus dem Offenen Brief von Angela Merkel in der FAZ vom 22. Dezember 1999, mit dem sie als damalige CDU-Generalsekretärin zum Aufstand gegen Helmut Kohl blies.
Bisher schien copy and paste den promovierten Akademikern in der Union (von und zu Guttenberg, Schavan, von der Leyen) vorbehalten zu sein. Dieses Bild muss nunmehr korrigiert werden. Solange allerdings die CDU als Alternative zu Merkel nur Spahn oder vergleichbare Windeier (siehe auch unter Antworten in dieser Ausgabe!) anzubieten hat, sollte vielleicht an der Spitze der Partei und im Kanzleramt alles erst mal so bleiben, wie es ist …

Gabriele Muthesius

P.S.: Nur für den Fall, dass auch Jens Spahn oder andere
gegebenenfalls humorfreie Zeitgenossen Kenntnis
von diesem Text erlangen, sei zur präventiven Abwendung
möglicher juristischer Nachspiele vorsichtshalber angemerkt,
dass es sich hier um SATIRE handelt!
Die Redaktion

Der Linksanwalt

Von rechts gibt es schon viel zu viele,
so dachte Anwalt Alfred Thiele.
Ich werd’ es mal mit links probieren –
es wird schon nichts dabei passieren.

Er hängt ein Schild an seine Tür:
ANWALT FÜR LINKE SACHEN – HIER!
Linkshänder sind willkommen,
werden bevorzugt angenommen.

Paragraphen lässt er ruh’n,
bis sie keinem mehr was tun.
Oder er erfindet neue
und macht damit die Richter scheue.

Prozesse werden so gelenkt,
dass niemand wirklich an sie denkt.
Und wer kein Geld hat zum Bezahlien,
der bedient mit Naturalien.

Den Rechtsanwälten zum Verdruss
kommt es, wie es kommen muss;
denn in Kürze wird man seh’n,
wie sie bei Thielen Schlange steh’n.

Und von den Leuten rufen viele:
„Hoch lebe unser Alfred Thiele!“

Renate Hoffmann

Alexandrows im Russischen Haus

Der junge Mann, der vor mir mit großen Schritten die Fassadenschlucht der Friedrichstraße durchmisst, trägt ein korrektes dunkles Jackett. Die helle Hose reicht ihm nur knapp über die Waden, darunter lässt er seine strumpflosen Fesseln sehen. Früher fragte man: Ist bei dir Hochwasser? Scheint aber gerade up to date zu sein. Noch früher nannte man Modenarren „Stutzer“. Das Wort – lese ich – sei aus der Mode gekommen. Ich muss wohl gestehen, dass ich altmodisch bin.
Mein Ziel ist das Russische Haus der Wissenschaft und Kultur. Dessen Mitarbeiter mühen sich mit bescheidenem Erfolg, im hauptstädtischen Kulturbetrieb wahrgenommen zu werden. Auch mit Ausstellungen wie der gerade eröffneten zum 90. Gründungstag des „Zweifach mit dem Rotbannerorden ausgezeichneten Akademischen Gesangs- und Tanzensembles der Russischen Armee namens A.W. Alexandrow“. Hierzulande spricht man – wenn man noch darüber spricht – vom Alexandrow-Ensemble. Die Ausstellungsmacher Claudia Opitz und Sebastian Köpcke haben mit Akribie und Herz Plakate, Noten, Schallplatten, Requisiten, Fotografien, Rezensionen, Prominentenstimmen und etliche Daten aus der 90-jährigen Geschichte der Truppe zusammengetragen, die – ganz altmodisch – noch immer im Soldatenrock auftritt.
Im Oktober 1928 erhielt der ehemalige Kirchenmusiker Alexander Alexandrow den Auftrag, einen Soldatenchor zu formieren – zwecks kultureller Truppenbetreuung. Alexandrow komponierte später übrigens die sowjetische Nationalhymne, die heute die russische ist und deren Melodie (im Unterschied zum Text Sergej Michalkows) nicht zweimal geändert werden musste.
Vor 70 Jahren, im August 1948, begeisterte das Alexandrow-Ensemble mit „Kalinka“ und „Im schönsten Wiesengrunde“ 40.000 Berliner vor der ausgebrannten Ruine des Deutschen Doms auf dem Gendarmenmarkt – das erste kulturelle Großereignis nach dem Krieg in der Stadt. Vor diesem legendären Auftritt war die Truppe, „von frenetischem Beifall begleitet“, durch die Sowjetische Besatzungszone getourt. „Wie eine Orgel handhabt der schneeweiß uniformierte künstlerische Leiter Boris Alexandrow (Sohn des 1946 verstorbenen Gründers – d.A.) seine vielköpfige Sängerschar. Wie eine Menschenorgel mit vielen Registern. Und er versteht darauf zu spielen“, schrieb Der Spiegel damals über ein Konzert in der Berliner Staatsoper, „sämtliche Gänge des 2000-Personen-Theaters standen vollgepresst von durchgebrochenen Kartenlosen.“
Die „Botschafter des Friedens“, bisweilen auch „singende Waffe der Roten Armee“ genannt, wurden auf Tourneen rund um die Welt bejubelt. Zu ihren Fans gehörte selbst Johannes Paul II., der polnische Papst. Nach dem Zerfall der Sowjetunion in Nöte geraten, kam das Ensemble auch mit neuem Repertoire wieder zu Geltung, wurde jedoch 2016 von einer Tragödie erschüttert: 64 Mitglieder fielen dem Absturz einer Militärmaschine über dem Schwarzen Meer zum Opfer. Im Jahr darauf stand ein erneuertes Ensemble auf der Bühne.
Seit dem Besuch im Russischen Haus frage ich mich, wie altmodisch man ist, wenn man sich auch für diese Geschichte interessiert.

Detlef D. Pries

90 Jahre Alexandrow-Ensemble. Botschafter des Friedens. Ausstellung Im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur, Friedrichstraße 176-179, 10117 Berlin. Dort noch bis zum 25. Oktober. Eintritt frei.

Fußball 2.0

Zugegeben – auch in jenen Zeiten, in denen Fußball noch ein Sport war – ja, liebe Kinder, das war einmal so! – hat es, ganz und gar in den unteren Ligen, Prügeleien zwischen Anhängern von kickenden Rivalen gegeben, und bedrohliche Beschimpfungen von Schiedsrichtern auch. Das war so, weil es – auch das stimmt, liebe Kinder! – schon immer und überall Idioten gegeben hat. Wie heute auch, nur dass derer a) noch viel mehr geworden sind und b) Gewaltausbrüche mittlerweile zum eigentlichen Sport mutiert sind. Das hat auch zur Folge, dass Wochenende für Wochenende tausende Polizisten nur damit beschäftigt sind, in den Stadien und um sie herum für die Minimierung von Krawall, Sachbeschädigung, Heil-Hitler-Rufen und Körperverletzungen zu sorgen.
Nun scheint auch diese Ära zu Ende zu gehen, und dies aus einem Grund, der umgehend plausibel ist: Die Polizei hat nicht genug Leute, um die Spiele zu bewachen! Gerade erst musste deshalb das Drittliga-Spiel des Halleschen FC gegen Hansa Rostock vorerst abgesagt werden. Die Partie könne nicht ausreichend polizeilich abgesichert werden, teilte das Innenministerium von Sachsen-Anhalt mit. Die vorhandenen Polizeikräfte würden für Demonstrationen in Köthen, Wittenberg und Magdeburg benötigt, erklärte Innenminister Holger Stahlknecht von der CDU.
Die Kicker des HFC müssen so ein weiteres Mal warten, bis genug Polizei verfügbar ist, um spielen zu können, auch gegen den FC Cottbus war eine Neuansetzung aus gleichem Grund schon einmal erforderlich.
Man darf gespannt sein, wie sich das, was einmal ein Sport war, hierzulande und anderswo weiterentwickelt. Vielleicht sollte es fortan nur noch Polizeiklubs geben, die beim Aufeinandertreffen dann mittels ihrer paramilitärischen Mächte die Spiele selbst absichern. Für den Rest des Publikums würde eine mediale Ergebnismitteilung doch ausreichend, oder? Soo viele Fans, die nur noch des Spiels wegen in die Stadien gehen, scheint´s ja nicht mehr zu geben….

HWK

Jakob und die Wanderlore

Wandern und Wandeln – beides bestimmt das neue Stück der Theater-Sitcom „Gutes Wedding – schlechtes Wedding“ (GWSW) im gleich neben der Berliner SPD-Zentrale gelegenen Prime Time Theater. Diesmal zieht es die seit 20 Jahren eher unglücklich verheiratete, in den Prenzlauer Berg zugezogene Lore (herrlich ahnungslos Julia Franzke) auf den Jakobsweg, um ihren Selbstfindungsprozess in Gang zu setzen. Jakob, hilf! Ihre Stimmungsschwankungen kann eine Wanderung jedoch nicht lindern, weil ihr die Kondition fehlt. Sind das die Wechseljahre?
Wie immer bietet GWSW eine Mischung zwischen echten Problemen und ihrer heiteren Auflösung. Nach Ausscheiden der langjährigen Hausautorin scheint sich Schauspieler Philipp Lang erfolgreich zum neuen Stückeschreiber zu mausern. Er spielt auch den problembeladenen Aggro-Andi, den spieleverrückten Nerd Felix (dem diesmal von weiblicher Seite Paroli geboten wird) und hat sich den Hamburger Hauptkommissar Hinnerk Hansen auf den Leib geschrieben. Nach und nach erfindet Lang neue Figuren, die beim Publikum gut ankommen. Wird das auch für Hinnerks Tante gelten? Oliver Tautorat spielt die doppelgesichtige Person noch beängstigender, als es Adele Sandrock gekonnt hätte. Nachdem Griechenland seine Schulden bezahlt hat, darf der griechischstämmige Hausherr auch mal wieder eine pelopponesische Figur auf die Bühne stellen. Die nichtsahnende Oma ist Noemi Dabrowski, die auch die Punkerin Ratte übernommen hat. Das Ganze hat Alexandra Marinescu inszeniert, die in den Filmteilen auch mitspielt.
Zum Wandel gehört auch, dass das Prime Time zu Spielzeitbeginn die Kartenpreise erhöhen musste, aber wenn sich damit der Unterhaltungsfaktor steigert, ist es noch vertretbar!

Frank Burkhard

GWSW Folge 119 „Das Geheimnis der Wanderlore“, bis 5.11. donnerstags bis montags jeweils 20.15 Uhr im Prime Time Theater am Bahnhof Wedding

Medien-Mosaik

Soll man eine Travestie ernst nehmen? Der Comic gehört dazu, wenn er seine Charaktere in absurde Situationen führt oder Phantasiefiguren agieren. Micky Maus und Donald Duck waren schon im heutigen Berlin unterwegs, Mawil hat augenzwinkernd seine Kindheit in Ostberlin beschrieben. Der neueste Coup heißt „Spirou in Berlin“ (für den Mawil auch konsultiert wurde). Die franko-belgische Serie wurde vor 80 Jahren begonnen und bis heute in etwa ebenso vielen Alben weitergeführt. Dass mit dem Wahlberliner Flix erstmals ein Deutscher ein Spirou-Album verantwortet, ist etwas Besonderes. Der westlich sozialisierte Autor und Zeichner entschied sich, eine Geschichte um Spionage und Entführung zu erzählen, die im geteilten Berlin kurz vorm Mauerfall handelt. Der ehemalige Hotelpage Spirou und sein Freund Fantasio, der rasende Reporter, gehen inkognito nach Berlin/DDR. Flix konterkariert Klischees eher, als dass er sie nutzt (wenn er im Anfangsbild Ostberlin grau in grau zeichnet, aber später auch viel Buntes findet), wobei sein DDR-Bild aus zweiter Hand doch eher einspurig bleibt. Er spielt gelegentlich auch mit historischen Figuren, etwa einem gewissen Rainer, der sehr an den Pfarrer Eppelmann erinnert. Nicht immer kennt Flix Berliner Ausdrücke so ganz genau – ein Essen namens „Kartoffelstampf“ ist mir noch nie begegnet. Dass am Schluss die Mauer fällt, wird eher nebenbei erzählt. So bleibt das Album eine Travestie, die Phantasie und Klischee im althergebrachten Comic-Stil miteinander mischt. Hoffentlich nehmen die Leser ab 10 Jahren nicht allzu viel ernst!
Flix: Spirou in Berlin, Carlsen-Verlag, 60 farbige Seiten, 16,00 Euro.

*

Der Stummfilm – auch mit verrückten Travestien – ist ein Genre, das es im modernen Fernsehen schwer hat. Immerhin bereichert arte sein Nachtprogramm gelegentlich mit Wiederentdeckungen. Einige werden auf DVD herausgebracht, wie nun der 1922 entstandene „Die Gezeichneten“, der in der Lage ist, den Horizont zu erweitern. Ein berühmter dänischer Regisseur hat den Film zu einem jüdischen Thema mit polnischen und russischen Schauspielern in Deutschland gedreht.
Die Geschichte führt im Vorfeld der russischen Revolution von 1905 in eine russische Kleinstadt am Dnepr. Im Mittelpunkt steht das jüdische Mädchen Hanne-Liebe, das auf ein christliches Gymnasium geht. Sie muss es verlassen, als ihr eine Affäre mit einem revolutionären Studenten nachgesagt wird. Letztlich mündet die Handlung in ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung. So frappierend Darsteller wie Galina Pjechowskaja als Hanna-Liebe, Wladimir Gaidarow als ihr Bruder, der spätere Hollywoodregisseur Richard Boleslawski und Hugo Döblin, der ältere Bruder von Alfred Döblin, die Geschichte verkörpern, so erhält der Film seinen eigentlichen Wert durch die Regie des großen Dänen Carl Theodor Dreyer („Die Passion der Jungfrau von Orléans“, 1928) und die Kamera des früh verstorbenen Friedrich Weinmann. Sie schaffen Bilder, die man nicht vergisst, lassen jüdisches traditionelles Leben wiederauferstehen.
Gut ist, dass heutige Komponisten Gelegenheit erhalten, Stummfilme zu begleiten, wenn Originalkompositionen nicht mehr zur Verfügung stehen. Bernd Thewes hält seine Musik dicht zwischen traditionellen und experimentellen Sequenzen.
„Die Gezeichneten“, Regie Carl Theodor Dreyer, arte Edition bei absolutMEDIEN, DVD 14,95 Euro.

bebe

„Einfach durchstreichen und weg …“

Gerade in Zeiten von „Fake News“ und „Hate Speech“ ist es gang und gebe, den Menschen ein X für ein U vorzumachen.
Insofern ist es auf den ersten Blick irritierend bis befremdlich, wenn der schwedische Musiker Christian Kjellvander sein neuntes Album „WILD HXMANS“ betitelt.
Der Buchstabe X wird nicht nur in der deutschen Sprache eher selten eingesetzt. Doch wir nutzen ein „X“ auch, um etwa bei Wahlen unsere Stimme abzugeben. Umgekehrt wird ein „X“ ebenfalls benutzt, um ein falsches Wort oder eine fehlerhafte Passage zu eliminieren.
Auf diese Tatsache spielt Christian Kjellvander an, wenn er sagt: „Einfach durchstreichen und weg – wenn Leute versuchen, dieses Prinzip auf andere Menschen anzuwenden, haben wir ein Problem.“
Die sieben Lieder des neuen Albums pendeln zwischen Abschied und Aufbruch. Die Melodien verschmelzen Folk, Blues und Americana. Musikalische Anklänge finden sich zu Neil Young und Leonard Cohen, zu den Walkabouts oder Calexico.
Textlich greift er die aktuellen Zeitläufte, aber auch eigene Erlebnisse und Erfahrungen auf. So lässt er im Lied „Strangers in Northeim“ das Neue und Ungezähmte in eine perfekt organisierte Kleinstadt einbrechen. Christian Kjellvanders gefühlvolle, ausdrucksstarke Stimme verstärkt den soghaften Effekt seiner Musik. „Faux Guernica“ basiert auf einem Roadtrip ins Baskenland mit seinem jüngsten Sohn. Das Lied „Curtain Maker“ ist inspiriert von einem Zusammentreffen mit einer syrischen Frau in Verona.
Christian Kjellvander setzt der global zunehmenden gesellschaftlichen Ausgrenzung und Abschottung den Erfahrungsschatz persönlicher Begegnungen entgegen. Für ihn beinhaltet menschliches Handeln auch die Bereitschaft, auf Fremde(s) zuzugehen.
Seine Kernbotschaft fasst er im Lied „The thing is“ folgendermaßen zusammen:

„We’re all born with a weight
We get lighter for every day
Come on now, spread the love
Until we finally drift away.“

Thomas Rüger

Christian Kjellvander: WILD HXMANS, Tapete Records Oktober 2018, 16,00 Euro.

Horrorklänge für geschockte Hörer

Wenn man am letzten Oktobertag wieder mit böse geschminkten Gesichtern, Horroranzügen und blutigen Händen eine Feier besucht oder seine Kinder von Haus zu Haus jagt, um Süßigkeiten einzusammeln, dann sollte man nicht vergessen, dass dies Halloween heißt und einstmals von den irischen Auswanderern in die USA mitgenommen wurde. Nun wird es auch wieder in Europa begangen. Leider ist es speziell hier in Deutschland zum Kommerz abgestiegen, denn jeder Einkaufsmarkt präsentiert auf großen Flächen Masken, Umhänge, Skelette in allen möglichen Größen und doof gestaltete Kürbisse.
Bei uns zu Hause kommen kaum noch Kinder an die Haustüre, und wenn, dann stehen die Eltern etwas abseits und beobachten, dass man die kleinen Bälger auch ordentlich mit Süßigkeiten versorgt und sie nicht erschreckt. In der Nachbarschaft organisiert allerdings ein Ehepaar eine ziemlich geniale Halloween-Party mit Filmausschnitten von Gruselstreifen, Kürbisspeisen, tanzenden Monstern im Wohnzimmer, ausgeschmücktem Innenhof und „blutigen“ Getränken aus allen Hähnen. Für die Musik sorgt ein DJ, der sich bisher nicht die Mühe machte Gruselsongs oder Lieder über Tod und Teufel aus den Tiefen der Musikwelt zu organisieren.
Damit ist nun Schluss, denn ich kann ihm den neuen Sampler „The Shadow Knows“ überreichen, der mit Recht die Unterzeile trägt: „34 Scary Tales From The Vaults Of Horror“. Horrormusik, was es nicht alles gibt, herrlich. Bear Family ist sowieso ein seltener Fall von Plattenfirma, denn sie überraschen die Musikbegeisterten regelmäßig mit Veröffentlichungen von vergessenen Musikern, verschollenen Langspielplatten oder eben Songzusammenstellungen zu seltenen Themen. So veröffentlichte das im kleinen Holste beheimatete Label vor längerer Zeit auch ein Album mit Rock`n Roll Songs von Dean Reed, was der Osten mit Buschfunk und Amiga nicht hinbekommen hatte.
Zurück zu den Horrorklängen, die Grusel verbreiten, an allen Ecken knacken, knirschen und wispern. Die Hits und vor allem die Raritäten stammen aus der Zeit von 1934 – 1982 und kommen unter anderen vom herrlich verrückten Screamin’ Lord Scutch, der „Murder In The Graveyard“ und die seltene Kay-Starr-Version des Bing-Crosby-Klassikers „The Headless Horseman“ interpretiert. Tommy Bruce aus GB zauberte aus „Speedy Gonzales“ die Horror-Soul Version „Monster Gonzales“ und das Gene Kardos Orchestra ließ bereits 1934 einen „Zombie“ auf die geschockte Hörergemeinde los. Weiter geht es mit der nur kurz existierenden Doo-Wop-Gruppe The Poets, aus Los Angeles, die einfach aber stimmungsvoll „Dead“ singen. Schließlich gibt es noch Bob & Jerry, Bobby Bare und Link Wray & His Raymen, deren Einspielung „The Shadow Knows“ dem Album den Namen gibt. Abgerundet und verfeinert wird das ganze musikalische Horrorpaket durch Radio-Filmtrailer aus den 1950er Jahren, wie „Horror Of Dracula“ oder „Was A Teenage Werewolf“. Nun denn, die CD erworben, Feier organisiert und immer schön gruslig sein.

Thomas Behlert

Sampler:„The Shadow Knows“, Bear Family Records, 75 Minuten, 19,99 Euro.

Schöpfers Rundflug 2.0

Von Zeit zu Zeit, so hatte er sich es angewöhnt, unternahm der Schöpfer einen Rundflug über die Erde, um nachzuschauen, was aus dem von ihm Geschöpften derweil geworden ist. Dieser Tage erst inspizierte er das schöne Deutschland, immerhin gaben die zahllosen Kirchaustritte in dortigen Bundeslanden dem HERRN doch einigen Anlass zum Grübeln über nicht zuletzt die Frage, was das gegebenenfalls mit dem Gebaren der parteipolitischen Obrigkeiten zu tun haben könnte.
Mitten in der politischen Gemengelage dieses Frühherbstes entdeckte Gott die Repräsentanten der beiden christlichen Parteien, die, die Arme innig umeinander gelegt, ihren Tränen freien Lauf ließen. „Wir tun, was wir können“, schluchzten die CDU- und CSU-Chefs unisono, „aber das Wahlvolk, nicht mal das christliche, honoriert das auch nur annähernd sondern meidet uns Prozentpunkt um Prozentpunkt.“
„Ach, das wird schon“, versuchte der liebe Gott die Seinen zu ermutigen. „Ihr habt doch mich und das Wort, das hat noch immer funktioniert, schon über 2000 Jahre. Warum sollte das jetzt wirklich anders werden. Auf geht’s, zumal o’zapft is…“ Dankbar trockneten die so Aufgerichteten ihre Augen und blickten der nächsten politischen Peinlichkeit tapfer ins Auge.
Sehr viel mehr Freude machte dem HERRN eine zweite Entdeckung. Die Großkopferten der Grünen tanzten im Reigen um das jüngste Umfrageergebnis und bemühten sich sachlich, diese noch nicht ganz als Option auf das bevorstehende Polit-Monopol in der deutschen Parteienlandschaft misszuverstehen. Hier blieb dem Schöpfer nichts weiter zu tun, als den Beschützern seiner Schöpfung bestätigend auf die Schultern zu klopfen und auch mit sich selbst zufrieden zu sein.
Betrüblichkeit nun wieder erzeugte sein Blick auf die Zeloten der AfD, an deren tiefempfundenes Bekenntnis zu den „Werten des christlichen Abendlandes“ selbst er nicht so recht zu glauben vermochte. Um das Dogma der Unerforschlichkeit seiner Wege indes weiter zu befestigen, ließ er die Gallionsfiguren dieser Partei und ihrer Ableger indes gewähren; es lag ja schließlich in seiner Hand, ihnen in die Arme zu fallen, wenn sie auch ihm gegen den Strich gingen.
Nicht ohne ein Quäntchen Häme nahm der Schöpfer dann die ungläubigen Linken wahr, die, wie auch er dies seit ewig nicht anders kannte, viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, als zum allgemeinen Unfrieden noch maßgebliches beitragen zu können. Ihnen, den Heiden, zwinkerte er lediglich amüsiert zu und flog weiter zur SPD-Zentrale, wo die versammelten Führungsgremien lautstark ihren Sturzflug in der Wählergunst beklagten. Hier freilich hielt der HERR inne, setzte sich zu ihnen und stimmte teilnahmsvoll in deren Weinen ein.

Helge Jürgs

Berliner Debatte Initial

Das vierteljährlich erscheinende Sozial- und geisteswissenschaftliche Journal hat seinen Beitrag zum Marx-Jahr geleistet. Heft 2 hat den Schwerpunkt „Karl Marx und der Anarchismus“. Wie hielten es Marx und der Marxismus mit dem Anarchismus? Marxismus und Anarchismus gelten als „feindliche Brüder“. Das markiert Abgrenzung wie Nähe. Vieles, das im Marx-Jahr erschien, war nicht neu, noch weniger sensationell, wohl aber interessant im Kontext der sozialen und ökonomischen Probleme im Jahre 2018. Das betrifft auch das Thema Marx und Anarchismus.
Marx galt der Anarchismus als „Kinderkrankheit“ der Arbeiterbewegung, als utopisch-kleinbürgerliche pseudorevolutionäre Ideologie. Die Polemik gegen anarchistische Positionen diente ihm zugleich zur theoretischen und politischen Selbstverständigung. Das gilt für seine Kritiken an Pierre-Joseph Proudon, Max Stirner, Michail Bakunin und Louis-Auguste Blanqui. Dem sind mehrere Beiträge im Heft gewidmet.
Anatole Lucet rekonstruiert die Auseinandersetzung von Gustav Landauer, dem anarchistischen Denker und Aktivisten, mit dem Vorwärts, der offiziellen Zeitung der deutschen Sozialdemokratie und deren marxistischer Orthodoxie vor dem ersten Weltkrieg. Hinter den heftigen Polemiken stand ein gegensätzliches Verständnis von Geschichte, Gesellschaft und sozialer Veränderung. Die Art und Weise jedoch, wie der Vorwärts mit Landauer umging, verweist bereits auf die ideologischen Praktiken unter Lenin und Stalin, wie auch auf Ebert und Noske während der Novemberrevolution.
Weitere Themen sind die Verständigungsversuche zwischen Anarchisten und Marxisten (Jan Hoff) und die Arbeitsfeindschaft in Marxismus und Anarchismus (Peter Seyfarth). Jürgen Leibiger fragt mit Blick auf die Commons-Bewegung, inwieweit sich in deren Diskussionen über das „Ende“ oder „Verschwinden“ des Eigentums Bezüge auf anarchistische Denktraditionen zeigen. Spätestens an dieser Stelle wird die Aktualität des Themas deutlich.

BR

Blätter aktuell

Fast 30 Jahre nach der Wende verstehen sich viele Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse, so die sächsische Integrations- und Gleichstellungsministerin Petra Köpping. Mit Blick auf die rechten Aufmärsche in Chemnitz fordert Petra Köpping eine kritische Bilanz der Wende – und zugleich mehr demokratische Eigenverantwortung von den Ostdeutschen.
Die US-amerikanische Vormachtstellung schwindet zusehends: Europa wendet sich ab, selbst der US-Dollar als globale Leitwährung steht in Frage. Allerdings hat diese Entwicklung nicht Donald Trump ausgelöst, analysiert der Blätter-Mitherausgeber Norman Birnbaum. Vielmehr ist sein Aufstieg symptomatisch für jenen Elitendiskurs, der das unausweichliche Ende der vermeintlich liberalen US-Hegemonie noch immer verleugnet.
Die Mehrzahl der Deutschen fordert ein Glyphosatverbot. Dennoch stimmte die Bundesregierung in Brüssel dafür, das Ackergift in der EU weiterhin zuzulassen. Ebendies ist Ausdruck einer lobbyistischen Übermacht, kritisiert Foodwatch-Gründer Thilo Bode. Längst ist ein dichtes Machtgeflecht aus Industrie und Politik entstanden, das die Demokratie im Kern bedroht.
Wer in den USA die Universität besucht, kann sich glücklich schätzen – ist aber am Ende hoch verschuldet, so die Anthropologin Maria Theresia Starzmann. Dies zwinge junge Wissenschaftler in eine Spirale prekärer Uni-Jobs, von denen vor allem die Hochschulen profitieren. Gegen diese Ausbeutung helfe nur eins: Solidarität und gewerkschaftliche Organisierung.
Das Wunschbaby auf Bestellung? Hierzulande ist die Möglichkeit der Leihmutterschaft rechtlich stark eingeschränkt – ganz im Gegensatz zu anderen Ländern. Die Soziologin Christa Wichterich kritisiert den daraus resultierenden „Fruchtbarkeitstourismus“ und die wirtschaftliche Ausbeutung der Frauenkörper.
Weitere Themen sind unter anderem: „Nach Chemnitz: Nächste Ausfahrt Weimar?“, „Gegen die Schwarze Null: Die Spielräume der Schuldenbremse“ , „Dürre im Treibhaus: Revolutionieren wir die Landwirtschaft!“.

mvh

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Oktober 2018, Einzelpreis: 10,00 Euro, Jahresabonnement: 84,60 Euro (Schüler & Studenten: 67,20 Euro). Weitere Informationen im Internet.

WeltTrends im Oktober: Südliches Afrika – Stagnation statt Aufbruch?

Länder, die über viele Jahrzehnte Kolonien europäischer Mächte waren und in denen ehemals weiße Siedler die einheimische Bevölkerung schamlos ausbeuteten, machten sich Anfang der 1990er-Jahre auf einen Weg namens Fortschritt. Jene, die jahrelang dafür gekämpft hatten, wurden zu den neuen politischen Führern. Die Erwartungen, die politischen und die sozialen, waren riesig – in den Ländern selbst, aber auch im Ausland.
Die Bestandsaufnahme der WeltTrends-Autoren fällt differenziert aus. Es gab zwar Veränderungen an der Spitze, politische Dinosaurier wie Robert Mugabe und Jacob Zuma wurden zurückgetreten. An der Macht der regierenden Parteien und Kartelle änderte dies jedoch kaum etwas. Enttäuschend sind auch die Ergebnisse im Wirtschaftlichen und Sozialen.
Im WeltBlick werden die möglichen Folgen von Imran Khans Wahlsieg in Pakistan und wirtschaftspolitische Ansichten algerischer Schmuggler beleuchtet. Als „Sternstunde der Demokratie” bezeichnet Petra Erler die auf Initiative von US-Senator Rand Paul im Juni abgehaltene Anhörung zur Frage, wem die US-Verfassung die Ermächtigung zu Kriegshandlungen zuschreibt: dem Kongress oder dem Präsidenten. Erschreckende Zahlen wurden genannt: Mit 7 Ländern befinden sich die USA im Krieg, in 76 Ländern kämpfen sie gegen den Terror, ohne parlamentarische Legitimation. Im Kommentar setzt sich Erhard Crome mit der Außenpolitik von Heiko Maas auseinander: „Botschaften aus dem Café Größenwahn“.

ht