21. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2018

Bemerkungen

Scham

An Aschermittwoch ist man einiges an Tiraden und Ausbrüchen gewohnt. Aber jetzt gehen mir die Bilder einer grölenden Männermeute (ja, es waren zumindest im Fernsehen nur Männer zu sehen) nicht aus dem Sinn. Sie jubelten AfD-Mann André Poggenburg zu, der gefordert hatte, „die Kameltreiber“ und „Kümmeltürken“ zum Bosporus zurück zu jagen. Damit bezeichnete er in Deutschland lebende Türken und hat so der Diskussion um Flüchtlinge ein weiteres Hassobjekt gegeben…
Poggenburg kann mit diesen Sprüchen erschrecken, ja. Aber richtig Angst gemacht haben mir seine euphorischen Zuhörer. „Abschieben, abschieben“ skandierten sie. Das Ganze geschah in Sachsen-Anhalt und bestätigte aufs Schönste die Klischees vom ausländerfeindlichen, dümmlich-aggressiven Ossi. Muss ich mir eingestehen, dass es sich oft genug eben nicht um ein westliches Klischee handelt, sondern um Realität?
Wie will man mit diesen Menschen reden, argumentieren? Ist da irgendein Platz für Vernunft und Besonnenheit? Ich habe mich – gerade als Ostdeutsche – unendlich geschämt.

mvh

Bildersturm „soft“

Es mag poetischere oder auch tiefsinnigere Texte geben als das nun verbannte Gedicht von Eugen Gomringer an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule. Es ist sicher auch ein Verfahren möglich und zulässig, wie es sich jetzt die Hochschulleitung ausgedacht hat, eine Fassade in Abständen mit neuem künstlerischem Inhalt auszustatten. Aber die Geschichte ist ja tatsächlich anders verlaufen: Die mokierten Verse wurden von derselben Hochschule im Jahre 2011 mit einem Preis gewürdigt und ohne Zeitbegrenzung angebracht.
Für mich, als Stadtrat viele Jahre mit deren Ansiedlung befasst, war diese Aktion ein weiteres schönes Zeichen dafür, dass die Hochschule an ihrem neuen – lange Zeit nicht angenommenen – Standort in der Großsiedlung Hellersdorf angekommen war. In den öffentlichen Raum hinein wirkend ist die Inschrift weithin zu sehen. Über den benachbarten Stadtteilpark, der nach dem deutsch-jüdischen Antifaschisten Kurt Goldstein und auf der anderen Seite nach Regine Hildebrandt benannt ist. Mit einem Inhalt, der sich zu dem mit dem Klischee der grauen Platte behafteten Ort bekannte, gerade mit dem der Schönheit gewidmeten Text. In spanischer Sprache, eine Referenz auch an den Alice-Salomon-Platz, der von Architekten der spanischen Stadt Salamanca nachgestaltet wurde? Im Zentrum eines Stadtteils, dessen Straßennamen Janusz Korczak, Fritz Lang oder Peter Weiss einen Anspruch zeigen. In einem Viertel, in dem an mehreren Fassaden an Wohnhäusern künstlerische Gestaltungen zu sehen sind. Diese Deutung wäre wahrscheinlich zu viel unterstellt. Aber die Inschrift wirkt nicht in ein Niemandsland. Leider ist bisher dieser städtebauliche Zusammenhang so gut wie nicht beachtet worden.
War also die damalige Entscheidung nicht wohlüberlegt, warum war daran die Studentenschaft nicht beteiligt? Und was hat sich denn in den letzten Jahren wirklich geändert? Selbst die von Hochschulangehörigen benannte und nicht klein zu denkende Gefahr von gewaltbereiten frauenfeindlichen Männern im Stadtteil um den Alice-Salomon-Platz oder andernorts ist ja nicht erst jetzt angesprochen worden. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass irgendeiner solcher Typen durch das Gedicht eines Bewunderers von Frauen zur Gewalttätigkeit animiert werden könnte.
Da diese Inschrift tatsächlich in den öffentlichen Raum wirkt, hat sie ein besonderes Gewicht, das eigentlich auch eine legitime strukturierte Mitsprache der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verlangt hätte. Das hat weder die Hochschule getan, noch dass es von dafür berechtigten Gremien wie etwa der zuständigen Senatsbehörde oder auch vom Bezirk als betroffenen Nachbarn vorgeschlagen worden wäre. Denn es ist eben nicht ausschließliche Sache des Eigentümers oder der Institution, mit welchem Inhalt in den öffentlichen Raum gewirkt wird. Es gibt sogar rechtliche Regelungen dafür. Sie helfen zugegebener Maßen in diesem Fall wenig weiter. Aber sie weisen auf ein Mitspracherecht der Öffentlichkeit nicht nur beim Anbringen, sondern unter Umständen auch beim Entfernen. Die Hochschule konnte sich aber fast ohne Gegendruck mit einer dominierenden Innensicht hinter dem Autonomieargument verschanzen.
Mit der jetzt veröffentlichten Entscheidung, nachträglich ein anderes Verfahren einzuführen, ist ein Schachzug vollzogen worden, mit dem sich die Hochschule nicht mehr zum Stein des Anstoßes und auch nicht zur vielfachen Kritik von außen äußern musste, ja anscheinend nicht einmal zu den zahlreichen Stimmen für einen auch zur Abstimmung gestandenen Text ihrer Namenspatronin Alice Salomon. Gleichsam ein Bildersturm „soft“.

Heinrich Niemann

Der Autor war von 1992-2006 Bezirksstadtrat unter anderem für Ökologische Stadtentwicklung in Hellersdorf beziehungsweise Marzahn-Hellersdorf.

Größenwahn in Zahlen

Am 12. Februar übermittelte US-Präsident Donald Trump dem Senat seine Haushaltsanforderung für das Finanzjahr (FY) 2019 (1.10.2018 – 30.09.2019) für den Bereich der nationalen Sicherheit: 716 Milliarden US-Dollar; davon für das Pentagon – 686 Milliarden. Das ist fürs Pentagon ein Zuschlag von 14,1 Prozent gegenüber FY 2018.
An größeren Investments sind vorgesehen:
Luftwaffe
– 77 F-35 Kampfflugzeuge: 10,7 Milliarden,
– 15 KC-46 Luftbetankungsflugzeuge: 3,0 Milliarden
– 24 F/A-18 Kampfflugzeuge: 2,0 Milliarden
– 60 AH-64E Kampfhubschrauber: 1,3 Milliarden,
– 6 VH-92 Großraumhubschrauber für die Präsidenten-Flotte: 0,9 Milliarden,
– 10 P-8A Seefernaufklärungs- und U-Boot-Jagdflugzeuge: 2,2 Milliarden,
– 8 CH-53K King Stallion, schwere Transporthubschrauber: 1,6 Milliarden.
Marine
– 2 nukleargetriebene Angriffs-U-Boote der Virginia-Klasse: 7,4 Milliarden,
– 3 DDG-51 Zerstörer der Arleigh Burke-Klasse: 6,0 Milliarden,
– 1 sogenanntes Littoral Combat Ship zur küstennahen Kampfführung: 1,3 Milliarden,
– 1 nukleargetriebener Flugzeugträger der Gerald R. Ford-Klasse (CVN-78): 1,8 Milliarden,
– 2 Tank- und Transportschiffe (T-AO): 1,1 Milliarden,
– 1 Landungsschiff (Expeditionary Sea Base): 0,7 Milliarden.
Bodensysteme für Heer und Marineinfanterie
– 5113 leichte, geländegängige, geschützte Militärfahrzeuge: 2,0 Milliarden.
– 135 Kampfpanzer M-1 Abrams: 2,7 Milliarden.
– 30 amphibische Kampffahrzeuge: 0,3 Milliarden.
– 197 Mehrzweck-Kampffahrzeuge: 0,8 Milliarden.
Weltraumsysteme
– 5 erweiterbare, nicht wiederverwendbare Trägerraketen: 2,0 Milliarden,
– Navigationssatellitensystem zur Positionsbestimmung (Global Positioning System): 1,5 Milliarden,
– weltraumgestütztes Infrarotsystem zur Frühwarnung vor Raketenangriffen: 0,8 Milliarden.
Raketenabwehr
– 43 SM-3 AEGIS-Raketenabwehrsysteme: 1,7 Milliarden,
– bodengestützte Raketenabwehr (Midcourse Defense): 2,1 Milliarden,
– 82 THAAD-Raketenabwehrsysteme: 1,1 Milliarden,
– 240 PAC-3 Patriot-Abwehrraketenverbesserungen: 1,1 Milliarden.
Nukleare Abschreckung
– B-21 Langstreckenbomber: 2,3 Milliarden
– nukleargetriebene Träger-U-Boote der Columbia-Klasse: 3,7 Milliarden,
– luftgestützter nuklearer Marschflugkörper (LRSO): 0,6 Milliarden,
– bodengestützte ballistische Interkontinentalrakete: 0,3 Milliarden.
Der Umfang der US-Streitkräfte „in aktiven Komponenten“ soll im Finanzjahr 2019 um rund 24.000 Mann zunehmen.
Irgendwie muss dieser bellizistische Größenwahn allerdings auch finanziert werden. Dafür reicht eine weitere Erhöhung der US-Staatsverschuldung um 984 Milliarden US-Dollar nicht aus, weil Trump ja zugleich ein 1,5-Billionen-Infrastrukturprogramm auf die Schiene setzen will. Da müssen andere Haushaltsposten ihren Budget- Gürtel schon mal etwas enger schnallen:
– Außenministerium: minus 26,9 Prozent,
– Gesundheit: minus 20,3 Prozent,
– Erziehung: minus 10,5 Prozent,
– Umweltagentur: minus 34 Prozent,
– Essenzuschüsse für Arme: minus 30 Prozent.

WS

Djamila und die Sehnsucht der Frauen

Im Rahmen der diesjährigen Berlinale läuft der Dokumentarfilm „Djamila“ der Filmemacherin Aminatou Echard. Ein 8mm-Film von 84 Minuten Länge, der für die Großleinwand im Kino unklare, flirrende Bilder zufolge hatte. Die Dokumentaristin meinte, dass das 8mm-Format eine bessere Kontaktaufnahme zu den interviewten Frauen ermöglicht habe. Diese Argument erschloss sich mir nicht ganz, aber das ist auch schon der einzige kritische Einwand zum Film.
Echard spricht mit Frauen und Mädchen in Kirgistan. Eingang findet sie mithilfe von Aitmotows „Djamila“. Es sei schwer gewesen für die Frauen, sich ein paar Minuten für den Film freizumachen, erzählt sie nach der Filmvorstellung. Mehrmalige Treffen wären unmöglich gewesen, zu sehr seien die Frauen von der Erlaubnis ihrer Männer und Schwiegereltern abhängig. Sie leben in einem engen Korsett der nationalen und auch islamischen Familientradition. Aber sie kennen Aitmotows Djamila und wenn sie darüber sprechen, wird deutlich, dass sie Träume haben, dass sie sich nach dem ICH in ihrem Leben sehnen.
Der Grad der Bildung der Frauen hat nach dem Ende der Sowjetunion abgenommen, aber selbst, wenn es noch ein Studium gab – die Frauen werden durch ihre Eltern verheiratet, und wenn die Eltern nicht zustimmen, dann werden sie von dem Mann, der sie begehrt, entführt. Sie müssen dann heiraten, egal ob sie den Mann mögen. Das ist ein Ausflug in eine Welt, in der Frau sein oft nichts Gutes bedeutet. Dabei sind sie durchaus selbstbewusst und träumen von der wahren Liebe. Djamila ist für viele ein Vorbild. Sie hatte sich gegen ihren ungeliebten Mann, gegen ihre Familie, gegen die Tradition entschieden und war ihrer Liebe Daniar gefolgt. Einige finden, dass Djamila nicht über die Folgen ihrer Flucht nachgedacht habe – aber auch sie sehen die Schwierigkeiten der Frau, möchten lieber Jungen großziehen, denen die Welt offen steht.
Die Frauen werden gezeigt, Landschaft, ein Wohnzimmer, eine Straße. Der Schwerpunkt liegt ganz bei ihren Worten – und zwischendurch wird immer wieder eine fiktive Djamila, die selbstbewusst ihren Weg geht, eingeblendet. Bebilderte Sehnsucht. Zugleich wird deutlich – die Frau ist nicht nur ein „Opfer“, sie wird irgendwann Schwiegermutter und dann herrscht sie im Haushalt und vor allem über die Schwiegertochter… Schwierig.
Was mich am meisten beeindruckt hat, ist wie sehr Tschingis Aitmotow mit seiner Djamila, die Novelle erschien 1958, noch heute Stoff für Träume und Ermutigung bildet. Mehr kann Literatur nicht erreichen.

Margit van Ham

Instrumental betonte Klänge

Leider ist es so, dass im musikalischen Deutschland die innovativste, ungewöhnlichste Zeit vorbei ist. Kein Musiker erfindet eine total neue Richtung, setzt bisher selten benutzte Instrumente ein, zersägt fast mit der Gitarre die Ohrstränge (wenn es die denn gibt) der Hörer und wird damit auch in Amerika und Asien berühmt. Das geschah alles in den 1970er Jahren als Bands, wie Tangerine Dream, Kraftwerk, Amon Düül, Neu, Guru Guru oder Klaus Schulze verstärkt auf sich aufmerksam machten. Manche nennen deren Musik bis heute Krautrock, einige Musiker der damaligen Zeit wollen lieber alles unter dem Begriff Cosmische Klänge laufen lassen. Egal, wie man es nennt, jedes Album, jedes Konzert war großer Fortschritt, das Feld für den Samen Techno und vor allem kein Schielen nach den Charts. Zu den ganz großen elektronischen Künstlervereinigungen gehören Can, die ihre Filmmusiken, Konzeptalben und später dann die Soloprodukte mit heulenden Gitarren, donnernden Rhythmus und undurchdringlichen Effekten verfeinerten, Musik inszenierten. Vieles war akkordlos, insistierend und absolut kompulsiv. Ende der 1968er Jahre fanden sich Musiker die an Konservatorien studierten, bei Stockhausen ihr Rüstzeug holten und zunächst als Musiklehrer arbeiteten und in Jazzbands spielten. Dabei trafen sich Jaki Liebezeit, Michael Karoli und Holger Czukay, um unter dem Namen Can Musik zu machen. Sie holten sich den farbigen US-Amerikaner Malcolm Mooney (voc) und nahmen das Album „Monster Movie“ auf, das als erster genialer Krautrockwurf gelten darf. 1970 ging Mooney zurück nach Amerika und wurde durch den Japaner Kenji „Damo“ Suzuki ersetzt. Can begannen ungewöhnliche, fast schon verrückte, Konzerte mit Laser, Pyrotechnik und Akrobaten zu geben, spielten instrumental betonte Klänge, die an einigen Stellen an Free-Jazz erinnerten, dann im Rock’n Roll aufgingen und sich mit elektronischen Ideen vereinigten. Es entstanden in den 1970er Jahren unvergessliche Alben, wie: „Tago Mago“ (1971), „Future Days“ (1973), „Unlimited Edition“ (1976), „Flow Motion“ (1976) und „Can“ (1978). Zudem kam hinzu, dass sich Czukay vom Bass zurückzog und stattdessen mit Transistorradios, Recordern und Geräuschen von Bandmaschinen spielte. Als die Musiker Ende 1978 ihre Zusammenarbeit als Can zunächst beendeten, ging jeder eigene musikalische Wege. Czukay debütierte 1979 mit dem fantastischen, zeitlos schönen Album „Movies“, produzierte einige Musikgruppen und muszierte mit Jaki Liebezeit unter dem Namen Les Vampyrettes „Horrormusik mit Komfort für die Zukunft“ (Holger Czukay). 1981 entstand mit Jah Wobble (Public Image Ltd.) und Liebezeit eine EP, die zwei Jahre später zur LP „Full Circle“ verfeinert wurde. Mit dem Japaner David Sylvain kreierte Czukay anschließend meditative Klanglandschaften und nahm 1991 das Album „Radio Wave Surfer“ auf, bei dem nur ein Mikrophon von der Decke hing.
Zu seinem 80sten Geburtstag (24. März 2018) wollte die Plattenfirma ihren Künstler Holger Czukay mit der Vinylbox „Cinema“ ehren, ihm für die 60-jährige Karriere Dankeschön sagen und diese Retrospektive feierlich überreichen. Leider verstarb Holger Czukay am 5. September 2017 in seinem Kino bei Köln. Dieses ehemalige Innerspace-Studio von Can bewohnte der Künstler seit den 1970er Jahren. Man begrub ihn neben seiner Frau Ursula Schüring (aka U-She / Ursa Major) und schräg gegenüber seines Freundes Jaki Liebezeit, der am 22. Januar 2017 der elektronischen Himmelsband beitrat. Nun will man den Geburtstag am 24. März 2018 ernst und feierlich begehen und die Fans mit musikalischen Experimenten, Meditationen, Meilensteinen, Stolpersteinen, Hits und Raritäten glücklich machen. Die dazugehörige Box beinhaltet vom „universalen Dilettanten“ (O-Ton Holger Czukay) die Jazzaufnahmen „Konfigurationen“, die er 1960 gemeinsam mit einem Quintett aufnahm. So gibt es weiter aus der Vor-Can-Zeit (1969) heimlich im Stockhausen-Studio aufgenommene Stücke, die unter der Bezeichnung Canaxis 5 liefen, und das ganz großartige und doch irritierende Soloalbum „Cool In The Pool“. Weiter sind Klangvariationen zu finden, die Czukay mit Brian Eno und Cluster aufnahm, dann noch Songs vom Projekt Les Vampyrettes (mit Conny Plank) und mit der japanischen Sängerin Phew, bei dem sich auch Plank und Liebezeit in Höchstform präsentierten. Und zum guten Schluss die bereits erwähnte EP „Full Circle“, bei der Jah-Wobble mitwirkte.

Thomas Behlert

Holger Czukay: Cinema (retrospective), Vinylbox, Grönland / RTD, 110,00 Euro.

Film ab

Ältere Freunde von Horrorfilmen werden sich noch an Jack Arnolds Schwarz-Weiß-Streifen „Der Schrecken vom Amazonas“ von 1954 erinnern – mit einem Kiemenmenschen, einem amphibischen Zwitterwesen, dessen Auftritte über plumpe Gruseleffekte durchaus hinausgingen. Der Time Out Film Guide in seiner siebten Ausgabe von 1999 urteilte: Die Geschichte werde „durch Arnolds Sinn für atmosphärische Schauplätze und die oft sympathische Darstellung des Monsters stark aufgewertet. Interessanterweise wird die Bedrohung auch als sexuell wahrgenommen (insbesondere in der Szene, in der das Wesen gebannt unter der mit einem hautengen Badeanzug bekleideten [Julie] Adams schwimmt“. (Im zweiten Teil – „Die Rache des Ungeheuers“ von 1955 – hatte immerhin Clint Eastwood seine Leinwandpremiere.)
Das Zitterwesen ist nun zurück, aber Guillermo del Toros „Shape of Water“ ist nichts weniger als ein Remake.
Was schon damit beginnt, dass dieses Wesen über die Gestaltung seiner Augen auf eine Art und Weise anrührend, ja beseelt – wie weiland Spielbergs ET, der mit den Sehwerkzeugen Einsteins versehen worden war, – daherkommt und in die Welt sowie auf seine Retterin Elisa (Sally Hawkins at her best) blickt, dass man ihm nicht einmal den Verzehr eines eben noch quicklebendigen Warmblüters, tierisch, so richtig verübeln kann.
Auch spielt del Toros Film nicht im Regenwald am Amazonas, sondern in einem Geheimlabor des US-Militärs auf einem der Höhepunkte des Kalten Krieges, Anfang der 1960er Jahre – also in einer paranoid-hysterisch aufgeladenen Atmosphäre, in der der Zweck, der Gegenseite eins auszuwischen, allemal die Mittel rechtfertigte. Es darf dabei angesichts der gegenwärtigen Zuspitzung im Verhältnis zwischen dem Westen und Moskau durchaus als Statement des Regisseurs gewertet werden, dass unter dem wissenschaftlichen Personal des Labors ausgerechnet ein Emissär dieser Gegenseite (also ein – je nach Sozialisation des Lesers – Kundschafter des Friedens, respektive Spion) sich so viel Humanität bewahrt hat, dass er nicht nur gegen seine Vorgesetzten am Ort aktiv opponiert, sondern sich auch dem Befehl seiner Auftraggeber widersetzt.
Und schließlich – was verklemmte und asubtile Gemüter bei Arnold noch in den Skat drücken konnten, die sexuelle Konnotation, das wird bei del Toro zu einem konstituierenden Strang seines Narrativs.
Märchenhaft schön auch das angesichts des Showdowns so nicht erwartbare Happy Ending – es sei denn, man hätte die kurz zuvor geäußerte Behauptung über das Wesen der Zwitterkreatur („Du bist ein Gott!“) wortwörtlich genommen …
Für seinen vorangegangenen Fantasy-Streifen, den im faschistischen Franco-Spanien spielenden Film „Pans Labyrinth“ von 2006 – ebenfalls mit klar erkennbarer politischer Positionierung des Regisseurs –, hatte es drei Oscars gegeben. „Shape of Water“ ist dreizehnmal nominiert.

Clemens Fischer

„Shape oft Water“, Regie: Guillermo del Toro. Derzeit in den Kinos.

Vom Lieblingsbeatle und der Angst, die man beim Singen vergisst

Der Applaus ist das Brot des Künstlers. Was aber soll der Künstler machen, wenn der Applaus von der falschen Seite kommt? Die in Leipzig wohnende Liedermacherin Sarah Lesch hat mit dem Lied „Testament“ auf ihrer zweiten CD „Von Musen und Matrosen“ einen kleinen Hit gelandet. Gewidmet ist dieser Song ihrem Sohn, um ihn auf eine Zukunft mit vielen potentiellen Gefahren hinzuweisen: „Das Lied soll ihn immer daran erinnern, dass er frei ist und nur sich selbst gehört. Niemand anderem und keinem System …“
Das sechs Minuten lange Stück, das sich gegen Angepasstsein und grenzenloser Konsumfreude sowie gegen staatlich verordnete Gleichmacherei wendet, hat interessanterweise Zustimmung aus der rechten Ecke gefunden. So wurde dieser Song unter anderem von der rechtsextremen Gruppierung „German Defence League“ auf ihren Netzseiten geteilt. Über ihre Facebookseite distanziert sie sich dann von den Anhängern rassistischen und menschenverachtenden Gedankenguts.
„Da draussen“ ist nun der Titel ihres dritten Albums. Im Titelstück heißt es: „Ich weiß nur, dass man die Angst vergisst, die Angst vergisst, wenn man singt.“ Sarah Lesch spricht von der Angst um ihre Freiheit, der Angst nach der Wahrheit zu fragen. „Adieu“ ist eine Hommage an ihren früheren Wohnort Tübingen. Sie kehrt in Gedanken an den Ort im Schwabenlande zurück, an dem sie die Milch auf dem Herd vergaß, tausend Gedichte schrieb und heimlich Schauspieler bewunderte: „Tübingen, ich kann dir Lieder schreiben, aber doch nicht bei dir bleiben, für immer…“ heißt es hierzu bei ihr.
Wer ist ihr Lieblings-„Beatle“? John, George, Ringo oder Paul? Soviel sei hier schon mal verraten: Es ist keiner der vier Pilzköpfe aus Liverpool! Wer klare gesellschaftspolitische Statements erwartet, wird wohl enttäuscht werden. In ihren chansonartigen Liedern hat plumpe Agitprop keinen Platz. Es sind eher die kleinen Freiheiten und Fluchten im Alltag, die Sarah Lesch im Fokus hat. Für die musikalisch sparsame Instrumentierung nimmt sie Gitarre, Trompete, Akkordeon und Mundharmonika.

Thomas Rüger

Sarah Lesch: Da draussen, CD, Kick the Flame (KTF) 2017, 15,00 Euro.

Hommage für einen Titanen des gesprochenen Wortes

Durchaus ungewöhnlich, was der Verlag in der heute üblichen Bemerkung „Über das Buch“ dem Bändchen voranstellt: „Auch wenn der Autor nichts weiß von diesem Buch (Hervorhebung – H.H.), ist natürlich drin, was draufsteht: O-Ton Heinz Florian Oertel.“
Wie das geht?
Ganz einfach: „Ausgewählt aus seinen Buchveröffentlichungen, Interviews und Reportagen.“
Und warum klandestin?
„Dieses Buch hat den 90. Geburtstag des Mannes zum Anlass, den man ‚die Stimme des Sports‘ nennt“ und ist „ein Überraschungsgeschenk für den Jubilar“.
Das darf als ebenso gelungen wie kurzweilig gelten. Mögen ausgefuchste Oertel-Fans vielleicht nicht allzu viel Neues darin finden, aber auch sie – wie wir anderen erst recht – werden auf vieles aus Oertels singulärer Karriere als Sportreporter (unter anderem Berichte von 17 Olympischen Spielen, acht Fußballwelt- sowie zahllosen Eiskunstlauf-Europa- und -weltmeisterschaften) und als Fernsehinterviewer (254-mal „Porträt per Telefon“) stoßen, woran sie gern noch einmal erinnert werden. Dabei natürlich eine Auswahl von Oertels legendären Reportersprüchen – so von einem Schwimmwettkampf: „Und jetzt wickeln die Frauen ihre 100 Meter Brust ab …“
Eine breite Auswahl thematischer Splitter in teils aphoristischer Kürze rundet das Ganze ab. Ein paar Beispiele gefällig?
Ranglisten – „Sportreporter verzapfen sprachlich manchen Unsinn. Andere Menschen freilich auch. Ob in einer Negativrangliste Sportreporter vor oder hinter Politikern liegen, müsste erst noch genauer untersucht werden.“
Feinkost – „Ich probierte Trüffel noch nie. Wahrscheinlich hindert mich mein ostproletarisch geprägter Kartoffel-mit-Bockwurst-Geschmack.“
Frieden – „Unbesiegt lebt in mir eine Utopie: Menschen könnten vernünftiger und friedlicher werden. Und größer, viel, viel größer als alles, was mir der Sport, die olympische Idee später gaben, bleibt der naive, herrliche Traum: Es ist Krieg, und keiner geht hin.“

Hannes Herbst

Heinz Florian Oertel: Wenn man aufsteht, wird die Verbeugung tiefer, Verlag neues Leben, Berlin 2018, 160 Seiten, 9,99 Seiten.

Die psycho-linguistische Vorbereitung einer Reise ins Bayerische

Als J.W.Goethe auf seiner Reise nach Italien nach einem Crash bei München die rasche Reparatur seiner Kutsche verlangte, erwiderte ihm der bajuwarische Postillion: „Geh, leck mi doch grad du am Arsch!“ Der Dichterfürst war nicht wenig erstaunt über diese bodenlose Frechheit eines Mitglieds der untersten Klassen, zumal er – wie die meisten Touristen – noch nicht informiert war über den völlig anderen Wert, den der Bayer mit dem kräftigen deutschen Wort „Arsch“ verbindet.
Einerseits ist ein Arsch natürlich auch im Bairischen ein Arsch und ein Depp sogar ein depperter. Andererseits aber bedeutet der Ausruf „Mi leckst am Arsch“ keine Injurie, sondern eine unangenehme wie auch angenehme Überraschung, eine Floskel des Erstaunens, der Verwunderung, sogar des Mitleids oder aber der Anerkennung einer bedeutenden Leistung… ein Riesenunterschied zum groben hochdeutschen Imperativ! Denn wenn der Bayer sagt: „Mi leckst am Arsch“ kann das viel heißen, zum Beispiel: Mensch ist das toll. Ja, so eine Sauerei. Mein Gott, ist das teuer. Oh, welche Freude. Das ist ja Wahnsinn! Durch das Vorziehen des Objektes verliert der Satz seine Aggressivität und wirkt statt eines Kommandos eher als eine Art Stimmungsbekundung.
Nun gibt es ja Landstriche und Gesellschaftsschichten, die „Arsch“ nur in der Gossensprache dulden und viele Synonyme von Anus und After bis Allerwertester für diesen unentbehrlichen Körperteil benutzen, den Yoko Ono „ehrlich und wehrlos“ nennt; sie hat prominente Hintern aller Art fotografiert und nie etwas Unanständiges entdeckt Wenn man ihn, den Popo, der Welt zeige, sagt Ono, beweise man großes Vertrauen zu den Menschen, und drehte einen abendfüllenden Po-Film, allesamt „kraftvolle Halluzinationen“.
Der selbstverständliche Einbezug von „Arsch“ in die bairische Umgangs­sprache hängt sicher auch mit der bäuerlichen Herkunft des Dialekts zusammen, der die Dinge beim Namen nennt und den „Arsch mit Ohren“ nicht zum langweiligen Gesicht verkünstelt. Der einfache Soldat ist und bleibt „Schütze Arsch“, der Polizist ein „Arschfahnder“, der Lehrer ein „Arschpauker“ der Arzt ein „Arscheologe“ und der Depp eben ein „Arschloch“.
Ein nackter Po sei nicht unsittlich, hat vor einiger Zeit das Oberste Schweizer Bundesgericht entschieden. Die Verurteilung einer Frau, die einer Nachbarin im Streit den nackten Arsch entgegengehalten hatte, wurde rückgängig gemacht, „da kein Geschlechtsorgan zur Schau gestellt worden sei!“ Hier irrte das Gericht allerdings erheblich; denn gerade ein schönes Hinterteil lässt sexuelle Freuden erwarten und ist oft Gegenstand der Poesie. So schreibt zum Beispiel der auch sonst etwas verrückte Staufer Friedrich der Zweite über den Hintern seiner Geliebten: „Sie wusste, dass meine Blicke mit Vorliebe an jenem Teil ihres Körpers ruhten… ihrem noch immer festen, dabei zartfleischigen Hintern, dem weiß leuchtenden Symbol. Aus keiner Form ziehe ich mehr Kraft und Phantasie für meine Arbeit am Reich!“
Wer nach Bayern fährt, sollte sich deshalb mit der „Folklore“ etwas vertraut machen und danach wissen, dass die häufige Verwendung von „Leck mi am Arsch“ nicht beleidigend oder profan, sondern eher symbolisch gemeint ist. Mit diesem Wissen entgeht der gutwillig neugierige Tourist von heute dem Kulturschock, der seinerzeit Herrn Geheimrat Goethe und nach ihm unzähligen Besuchern des Freistaates zu schaffen machte.

Jürgen Brauerhoch

Aus anderen Quellen

„1954 versenkte Frankreich das Projekt einer Europa-Armee“, ruft Niklaus Nuspliger in Erinnerung und schlägt den Bogen ins Jetzt“ „Als Reaktion auf den Brexit kreiert die EU nun doch noch eine Verteidigungsunion.“ Eines der zentralen Stichworte lautet ständige strukturierte Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik (Pesco), worauf der Autor ausführlich eingeht. Um dann nochmals den Bogen bis Anfang der 1950er Jahre zu schlagen: „Es entbehrt nicht der Ironie: 1954 hat Frankreich die Europa-Armee noch aus Gründen der nationalen Souveränität zu Fall gebracht. Nun aber mag es die Lasten seiner Militäreinsätze in Afrika nicht mehr alleine schultern. Nach dem Brexit-Votum drängt Paris auf eine kleine, aber ambitionierte Pesco-Struktur, damit die EU unabhängig von der Nato und den USA Militäroperationen lancieren (und Frankreich entlasten) kann.“
Niklaus Nuspliger: Die EU bastelt sich einen militärischen Arm, Neue Zürcher Zeitung (online), 20.2.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„In Kenia nennt man sie die ‚Kleidung von toten Weißen‘. In Mosambik gelten sie als ‚Unglückskleider‘. Gemeint sind die gebrauchten, ausgesonderten Kleidungsstücke aus dem Westen, die meist in Afrika landen.“ So beginnt Kimiko de Freytas-Tamura ihren Report und fährt fort: „Doch inzwischen versuchen einige ostafrikanische Länder, ihre Kleidung selbst zu produzieren – und wollen deshalb die abgelegten Stücke der anderen nicht mehr haben. Die Regierungen von Ruanda, Kenia, Uganda, Tansania, Südsudan und Burundi wollen Importen von Secondhandkleidung und -schuhen einen Riegel vorschieben, […]. Ab 2019 sollen solche Importe generell verboten werden.“
Kimiko de Freytas-Tamura: Ruanda und andere afrikanische Länder wehren sich gegen den Import von Secondhandklamotten, Le Monde diplomatique, 08.02.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Sie klingt zu schön, um wahr zu sein – die Geschichte von der Genesung Deutschlands, das 1999 noch als ‚kranker Mann der Eurozone‘ galt […] und durch die Hartz-Gesetze von 2003 und 2005 auf wundersame Weise gesund geworden sein soll“, schreibt Pierre Rimbert und fährt fort: „Ein fataler Irrtum.“ Entscheidender sei vielmehr „der ungleiche Handel mit Polen, Tsche­chien, Ungarn und der Slowakei – also den Ländern der sogenannten Visegrád-Gruppe“, gewesen. „Seit einem Vierteljahrhundert praktiziert das reiche Deutschland mit seinen Nachbarn genau das, was die USA mit ihren Fabriken in Mexiko betrieben: die Produktionsverlagerung ins benachbarte Ausland.“
Pierre Rimbert: Die ökonomische Osterweiterung, Le Monde diplomatique, 08.02.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Die Geschichte ist hundertmal erzählt“, resümiert Tom Strohschneider, „und doch blieb sie über Jahre so etwas wie […] eine kleine Enttäuschungsmaschine, die am Bild des ‚großen Karl Marx‘ kratzte: Hatte Friedrich Engels die Vaterschaft des 1851 geborenen Sohns der Marx-Haushälterin Helena Demuth übernommen, um den Freund vor Ärger zu bewahren? Ist also Marx der Vater von Frederick Demuth […]? Und wurde das deshalb verheimlicht, weil kein schlechtes Licht auf den großen politischen Kopf fallen sollte?“ Damit befasste sich selbst Stalin, und in der DDR, so Strohschneider, wurde das Thema „umgangen wie ein heißes Eisen“.
Tom Strohschneider: … und beschnüffelten die Bettlaken: Marx, Engels und das Geheimnis um die Vaterschaft von Frederick Demuth, OXI. Wirtschaft anders denken, 23.01.2018. Zum Volltext hier klicken.