von Günter Hayn
Sie kennen das: „Der will doch nur spielen!“ Wenn man diesen Satz hört, sollte man auf deutlichen Abstand gehen. Hat man das Vieh erst einmal an der Wade, lässt es so schnell nicht wieder los. In der Politik ist das nicht anders.
Am 18. September wurde in Berlin gewählt. Die Wahlzettel waren lang und die Stimmabgabe kompliziert. Das hat damit zu tun, dass diese Stadt genaugenommen aus zwölf überdimensionierten Dörfern, den „Bezirken“, besteht, politisch einen auf dicke Backe macht und sich Bundesland nennt. Damit leistet man sich auch einen Ministerpräsidenten, den nennt man aber „Regierender Bürgermeister“, und gefühlt heißt der für viele Berliner immer noch Klaus Wowereit. Es ist aber der als Person ganz nette, politisch dennoch recht farblose Michael Müller von der SPD. Bislang steht er der seit Monaten in allen Umfragen bundesweit unbeliebtesten Landesregierung vor, dem von SPD und CDU getragenen Senat. Sein Vize ist der CDU-Landesvorsitzende Frank Henkel. Der fiel eigentlich gar nicht weiter auf. Allenfalls dann, wenn er wieder einmal mehrere hundert Polizisten in der Rigaer Straße im Friedrichshain herumtollen ließ. Motto: „Ich dulde keine rechtsfreien Räume.“ „Rechts“ ist so schön doppeldeutig. Ansonsten fiel seine Verwaltung auf – durch eine Endlosschleife von Pleiten, Pech und Pannen. Versuchen Sie doch mal, sich in Berlin einen neuen Personalausweis ausstellen zu lassen!
Gewählt wurde aber nicht der Senat, sondern ein überdimensioniertes Landesparlament, das Abgeordnetenhaus. Berlin leistet sich aktuell 149 hauptberufliche Abgeordnete, auch wenn die offiziell nur als „Halbtagsparlamentarier“ eingestuft sind. Ende Oktober werden es 160 sein. Diese Größe auf ein vernünftiges Maß zurechtstutzen könnten nur die Abgeordneten selber – und die werden einen Teufel tun. Es sind ihre Jobs. Gewählt wurden auch zwölf Kommunalparlamente, die Bezirksverordnetenversammlungen mit jeweils 55 Mitgliedern, die genaugenommen keine Kommunalparlamente sind. Auf deren Zusammenkünften wird gerne viel und lange geredet. Zu sagen haben sie aber immer weniger. Senat und Abgeordnetenhaus entscheiden in Berlin. Zudem legen Landesverfassung und die Bezirksverwaltungsgesetzgebung fest, dass die Bezirksverordneten „Bestandteil der Berliner Verwaltung“ sind. Die meisten haben das zwar nicht richtig begriffen, aber sie kriegen es regelmäßig zu spüren. Das hindert sie allerdings nicht, politische Schlachten ähnlich denen des Deutschen Bundestages zu führen und – im Widerspruch zur Berliner Verfassungslage! – aus „Zählgemeinschaften“ anlässlich der Bezirksbürgermeisterwahlen „Koalitionen“ zur Ausgrenzung missliebiger Parteien über die ganze Wahlperiode hinweg zu bilden. Auch das wird von den Bürgern ungern goutiert. Es ist kein Zufall, dass „Politiker“ aller Ebenen in der Bundeshauptstadt wohl nach den Gerichtsvollziehern zu den unbeliebtesten Berufsständen gehören.
Und das alles wurde jetzt neu gewählt.
Wie erwartet gab es nur Sieger: Die SPD stürzte um 6,7 Prozentpunkte auf miserable 21,6 ab. Das hinderte Michael Müller aber nicht, sich bereits kurz nach 18.00 Uhr am Wahlsonntag zum Wahlsieger zu erklären und etwas von „Regierungsauftrag“ und „Wählerwillen“ zu schwadronieren. Zum Auch-Sieger erklärte sich zunächst auch der das schlechteste CDU-Wahlergebnis in Berlin aller Zeiten eingefahren habende Frank Henkel: Die CDU kam nur noch auf 17,6 Prozent der abgegebenen Stimmen. Sie verlor satte 5,7 Prozent. Auch die Grünen stürzten von erträumten Höhenflügen – einige sahen sich schon als tonangebende Kraft am Koalitionstisch – auf das harte Berliner Pflaster. Sie verloren 2,4 Prozent und landeten damit 0,4 Prozent in der Wählergunst hinter der mehr erduldeten denn geliebten Oppositionsschwester DIE LINKE. Letztere kann momentan vor Kraft kaum laufen. Jedenfalls vor gefühlter Kraft… Mit 15,6 Prozent konnte sie ihr 2011er Ergebnis deutlich verbessern. Sie zieht erstmal in alle zwölf Bezirksverordnetenversammlungen ein, erzielte auch in den westlichen Bezirken der Hauptstadt respektable Zweitstimmenergebnisse für das Abgeordnetenhaus – und konnte so ein Zeichen gegen den bislang bundesweit vorherrschenden Abwärtstrend der Partei setzen. Mit entsprechend stolzgeschwellter Brust ließ sich die Sondierungsgruppe der Partei von der dpa ablichten.
In diesen Sondierungen geht es natürlich nur um Inhalte. Die Posten bleiben selbstverständlich erst einmal außen vor, sagen die Parteispitzen. Immerhin hatte das Abgeordnetenhaus in gebührendem Abstand vor einiger Zeit per Verfassungsänderung die Anzahl der Senatsmitglieder von neun auf zehn erhöht. Es soll sich schließlich keiner zu Tode arbeiten. Wollen wir wetten: Das geht vier plus drei plus drei aus? Entgegen der Müllerschen Kraftprotzerei sind die Berliner Mehrheitsverhältnisse kompliziert. Ein Dreierbündnis ist zwingend. SPD, LINKE und Grüne hätten zusammen 92 Sitze. Eine Koalition aus SPD, Grünen und CDU könnte sich auf 96 Stimmen stützen. Michael Müller kann wählen und hält sich nach der ersten Sondierungsrunde – selbst die schon tot geglaubte FDP (6,7 Prozent!) durfte vorsprechen – alle Türen offen. Was auszuschließen ist, das ist eine Mitte-ganz Rechts-Koalition. Die hätte keine ausreichende Mehrheit. Und mit der AfD will momentan in der Berliner CDU kaum jemand spielen. Auch wenn die konservative Ablehnungsfront intern bröckelt.
Damit sind wir bei der AfD. Wenn von Wahlsiegern die Rede ist, sind zuvörderst die Rechtsextremen zu nennen. Im ersten Anlauf kamen sie auf 14,2 Prozent und – damit hatten sie selbst nicht gerechnet – sie schliffen vier linke Hochburgen am Nordostrand der Stadt, an denen sich bislang SPD und CDU die Zähne ausgebissen hatten, und mit Adlershof/Altglienicke eine solche der SPD. Konkret zogen sie mit 25 Abgeordneten, davon fünf mit Direktmandat, in das Landesparlament. Es ist hier nicht der Platz, einen genaueren Blick auf die Zusammensetzung der AfD-Fraktion zu werfen. Sie ist selbst für diese Partei deutlich rechtslastig. Wie der gesamte Berliner Landesverband übrigens, der neben dem ehemaligen Bundeswehr-Obersten Georg Pazderski von der als Herzogin von Oldenburg geborenen Beatrix von Storch geführt wird. Frau von Storch ist Mitglied des Europäischen Parlaments, vertritt eine extrem reaktionäre Familien- und Geschlechterpolitik und erzielte bundesweit Aufmerksamkeit, als sie im Januar 2016 den Schusswaffengebrauch gegen Flüchtlinge an den deutschen Grenzen ins Gespräch brachte.
Zieht man jetzt die Querverbindung zu den jüngsten Äußerungen Frauke Petrys, sehr zielgenau eine Woche vor den Berliner Wahlen in der Welt am Sonntag abgegeben, dann wird deutlich, wo der Laden hinläuft: „Je mehr ungebildete und oft aggressive junge männliche Einwanderer aus Nordafrika kommen, desto mehr wird die Lage eskalieren. Wir wollen keinen Bürgerkrieg in Deutschland. Wir sind die Partei des sozialen Friedens.“ Petry ist damit die erste deutsche Spitzenpolitikerin, die das Wort „Bürgerkrieg“ in den Mund nimmt. Natürlich will sie den nicht, sagt sie ja selbst. Sie will auch den sozialen Frieden erhalten. Wie, das hatte sie schon im Juni in der WELT erklärt: „An einer weiteren Verlängerung der Lebensarbeitszeit führt kein Weg vorbei“, außerdem werde man „vermutlich über eine weitere Kürzung der Renten reden müssen“.
Vorerst wird man sein Mütchen erst einmal an den Flüchtlingen und ihnen wohlgesonnenen Menschen kühlen. In Marzahn-Hellersdorf betreibt ein Verein zwei Abenteuerspielplätze. Zu den Kinderfesten auf diesen werden regelmäßig Kinder aus den Flüchtlingsheimen der Umgebung eingeladen. Anders als manche Eltern haben offenbar die einheimischen Kinder weniger Probleme im Umgang mit den neuen Nachbarn. Das wird sich ändern. Die Spielplatzinitiative bekam wenige Tage nach den Wahlen Post von einem dortigen AfD-Politiker: „Sehr geehrter Herr […], ich wurde durch einen Aufsteller am Bahnhof Ahrensfelde auf Ihre sogenannte Spielplatzinitiative Marzahn e.V. aufmerksam. […] Da nun Ihr Grillfest nicht islamkonform vorbereitet war konnten Sie zum Glück beim Zuckerfest bei Ihren Schützlingen zeigen, dass Sie sich unterwürfig wie es der Koran vorschreibt doch noch die Kurve gekriegt haben. Es mangelt Ihnen anscheinend nicht an vorauseilendem Gehorsam. Ich bin überzeugt Sie werden die Islamisierung unseres Bezirks wohlwollend begleiten. Ich werde Ihre sogenannte Spielplatzinitiative weiterhin im Auge behalten und mich über die Finanzierung Ihrer Initiative informieren.“ Das ist eine Drohung, und die ist ernst zu nehmen.
Die AfD schickt sich an, in Marzahn-Hellersdorf der LINKEN das Bundestagsdirektmandat abzutrotzen. Sie stellt in diesem Bezirk mit 15 Verordneten die zweitstärkste Fraktion nach der LINKEN (16), sie zieht dort – wie in sechs anderen Bezirken auch – in das Bezirksamt ein. In Marzahn-Hellersdorf wird sie allerdings auch den Stellvertreter einer vermutlich linken Bürgermeisterin stellen. Das „rote Berlin“ ist auf erschreckende Weise dabei, den farblichen Grundton zu verändern. Die wollen nicht nur spielen, die haben sich festgebissen. Die launigen Mitteilungen aus dem Roten Rathaus über erfolgreiche – und „in angenehmer Atmosphäre“ stattfindende – Sondierungen täuschen über die wirkliche Situation der Stadt hinweg. Berlin ist tief gespalten, stellte Brigitte Fehrle in der Berliner Zeitung fest. Die Spaltung sei nicht mehr die zwischen West und Ost, nicht die zwischen oben und unten – aber die „in eine Toleranz- und eine Intoleranzzone“. Mit dem „oben“ und „unten“ irrt Frau Fehrle gründlich. Ansonsten hat sie Recht.
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