19. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2016

Bemerkungen

Immer weiter so

Das schien die Devise der Sprecher aller Parteien zu sein, die am Wahlsonntag in MeckPomm heftig Federn lassen mussten. Auf die Frage nach den Gründen für den Wahlerfolg der AfD wurde der wie schon automatisierte Reflex eingesetzt – der Rechtspopulismus habe die Wähler erreicht und nicht die eigentliche eigene Wahrheit, die quasi alle anderen – von der CDU bis zu den Linken – vertreten hatten. Und außerdem sei Merkels „Wir schaffen das“ schuld.
Doch – ein bisschen mehr kam schon: Man müsse zuhören, sich bemühen zu verstehen: Einige fühlten sich unverstanden und abgehängt …
Die Wortwahl weist aber darauf hin, dass dieses „Fühlen“ nicht den eigentlichen Fakten entsprechen kann. Flugs kam auch das arbeitgebernahe Wirtschaftsinstitut IW mit Zahlen, wonach die soziale Schere in Wirklichkeit gar nicht weiter auseinanderklaffe, im Gegenteil. Wow.
Das WSI der Hans-Böckler-Stiftung sagt dagegen, dass die Ungleichheit seit 2010 wieder zugenommen habe.
Von den Statistiken bleiben die meisten Wähler sicher recht unbeeindruckt. Bei denen zählen andere Fakten – keine Jobs, keine Zukunft, gerade in Vorpommern. Die einzigen großen öffentlichen Arbeitgeber – Ämter – sind mancherorts nach „Reformen“ auch noch verschwunden. SPD und CDU haben einen „scharfen Sparkurs“ gefahren, wie zu lesen war. Und was das Verstehen von Wählerverhalten betrifft – man werde den Sparkurs weiterfahren, sagen deren Spitzenmänner. (Will die Linke da wirklich mit in die Regierung, wenn das Sellerings Position ist?). Man kapriziert sich lieber darauf, alles auf die Flüchtlingspolitik zu schieben. Zugegeben, es ist einfacher, ins gleiche Horn wie Wahlgewinner AfD zu blasen.
Ich hätte mir anstelle der Sprechblasen der Parteienvertreter am Wahlabend gewünscht, dass diese mal schwiegen, sich eine Pause zum Nachdenken nehmen würden. Das neoliberale Rad ist offensichtlich – nicht nur in Deutschland – überdreht worden, und nun wird die Ernte eingefahren, die alles in Gefahr bringt, was Demokratie sichert.

mvh

Selva de Mar: Wo die Gassen Reime tragen

Was gibt es nicht alles für Dörfer? Kleine, große, stille, ver-lassene, hübsche, häßliche, abgelegene, böhmische und natürlich Haufen- und Straßendörfer … aber auch poetische?
Wir haben eines entdeckt, ein wirkliches, tatsächlich poetisches nicht potemkisches Dorf in der Provinz Girona im nördlichen Katalonien, also im Hinterland der Costa Brava, etwa 1,5 Kilometer vom Küstenort El Port de la Selva entfernt – genannt La Selva de Mar. Hier beginnt das Naturschutzgebiet Cabo de Creuz an der östlichsten Spitze Spaniens, das allerdings Cap de Creus geschrieben wird, denn wir sind in Katalonien! Und auch die Poesie im Dorf findet nicht en castellano, also auf Spanisch, sondern voller Stolz und Stammesbewusstsein en catala statt. Lokalstolz drückt sich auch in den Versen selbst aus, denn die erste Straße am Eingang des Ortes wird kommentiert:
Qui estima Selva de Mar
Entra al cor de cada llar
Was etwa heißt:
Wer Selva de Mar schätzt,
betritt das Herz der Dinge
An der Carrer de Baix, der unteren Straße, steht unter dem offiziellen Straßenschild auf der Poetentafel:
De Baix s`en diu el carrer
que el vent es combra primer …
– also, dass dies die erste Straße ist, wo der Wind sich austobt. Und tatsächlich fällt von hier die Tramontana ein, ein brutaler Fallwind von den Höhen der nahen Pyrenäen, der mitunter tagelang die Gemüter schikaniert und das bei tiefblauem Himmel. Gefürchtet ist er auch von altersher bei der Schifffahrt, die auch heute noch an Tramontana-Tagen lieber im Hafen bleibt.
Verfasser der insgesamt 24 „Straßenreime“ ist der leider inzwischen verstorbene Alt-Bürgermeister Jaume Quintana, Dichter und Historiker, der auch ein kleines Büchlein über die fast 800-jährige Geschichte des Dorfes geschrieben hat. Seine Nachfolger sind wohl eher amusische Geschäftsleute, denen mehr als die Kultur die touristische Prosperität und das Wachstum des Steueraufkommens durch neue Urbanisationen am Herzen liegt, sodass sie den im Kern noch immer mittelalterlichen Ort zunehmend verschandeln. Die wunderbaren Straßen-Reime werden folglich weder in dem durchaus opulenten Internetauftritt des Ortes noch in den obligatorischen Tourismusprospekten auch nur erwähnt.
Dabei haben all diese katallanischen Verse ihren Reiz, hören sich gut an und sind ein Ausflug in eine zwar etwas altmodische, aber doch das Ferienerlebnis steigernde Romantik. So schmückt den auch im Hochsommer noch sanft plätschernden Dorfbrunnen „Font de Lledoners“ das schöne Gedicht (frei übersetzt):
An dieser Quelle vermischt sich
das Murmeln des Wassers
mit dem Gesang der Vögel,
die sich an der Quelle laben,
bevor sie sich in die Lüfte erheben.
Inwieweit die rund zweitausend Feriengäste, die in der Hochsaison den gerade mal 200-Seelen-Flecken bevölkern, und die ständig steigende Zahl der Ausflügler die Poesie in Straßen, Gassen und auf Plätzen zu schätzen wissen, ist schwer zu sagen. Nur selten sieht man Jogger, Wanderer oder neuerdings vor allem Radfahrer vor diesen Tafeln verharren, die eigentlich viel mehr Aufmerksamkeit verdient hätten.

Jürgen Brauerhoch

Satirisches Kleeblatt, natürlich vierblättrig

Die Kalender für das nächste Jahr liegen ja seit August einträchtig neben den Lebkuchen, was ziemlich fürchterlich ist. Man weilt noch im Sommerurlaub, und die Menschheit kauft schon in den Konsumpalästen Zeugs für die kalte (hihihi) Jahreszeit. Wenn nun dieser Artikel erscheint, ist es aber bereits völlig in Ordnung, sich mit dem Thema Kalender zu beschäftigen, denn es sind nur noch wenige Wochen, und Geschenke werden wieder gebraucht. Blumen oder Bäume, wie in jedem Jahr, sind mittlerweile ganz schön langweilig. Und Kalender mit herrlichen Landschaften, Leuchttürmen und Sonnenuntergängen satt verströmen dann doch nur schlechte Laune. Schließlich guckt man sich die herrlichen Bilder an, wenn der Nebel draußen wabert und der Weg zur Arbeit wieder elend lang ist.
Dagegen helfen nur die wöchentlichen Abreißkalender aus dem kleinen und sehr rührigen Eulenspiegel Verlag Berlin. Auch für das neue Jahr ist es wieder eine ganze Palette. Da gibt es den „Schweinischen Kalender“, einen „für Hochbegabte“, den „Bösen Kalender“ und den schon seit vielen Jahren erscheinenden „Postkarten-Kalender“.
Für den „Bösen„ und den „Schweinischen“ muss der Betrachter starke Nerven und ein noch stärkeres Zwerchfell haben, denn hier rollen Köpfe und Finger. Oft steht der „Held“ kurz vor dem Abgrund und will unbedingt noch einen großen Schritt wagen. Oder Menschen allerlei Geschlechts lümmeln hässlich und vergnügt in den Betten der Welt herum.
Der „Kalender für Hochbegabte“ nützt vor allem Lehrern, Schülern und Menschen, die irgendetwas mit Penne, Computern oder anderen bildungsnahen Ambientes zu tun haben.
Bekannte Künstler, deren Werke spaßige Menschen aus Tages- und Wochenzeitungen kennen, sind bei allen Kalendern am Start – zum Beispiel Harm Bengen, Dipi, Erich Rauschenbach, Ol, Tetsche, Ari Plikat und Beck. Das besondere an den vier Kalendern ist, dass der Besitzer auch noch zum Schreiben animiert wird, da jedes satirische Bild als Postkarte verwendet werden kann, besser noch: verwendet werden muss.

Thomas Behlert

Eulenspiegels Kalender 2017, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2016, je Kalender: 9,99 Euro.

WeltTrends aktuell

Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges ist Europa von einer neuen Konfrontation betroffen. Im Themenschwerpunkt untersuchen deutsche und russische Experten die Beziehungen zwischen ihren Staaten. Alexander Rahr hält eine Debatte über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur für dringend. Erste Anzeichen für eine Verbesserung der bilateralen Beziehungen sieht Wladislaw Below, hält jedoch in mittelfristiger Perspektive die Lösung der Ukrainekrise für den bestimmenden Faktor. Ausgehend von einer Analyse der EU-Russland-Beziehungen kommt Peter W. Schulze zu dem Schluss, dass sich Moskau ökonomischem Druck nicht beugen wird, während Anna Iwanowa auf das nach wie vor große Potenzial für gegenseitig vorteilhafte Wirtschaftsbeziehungen verweist. Der frühere Diplomat Frank Elbe plädiert dafür, dass sich der Westen und Russland in der Ukrainekrise stärker bewegen.
Der Brexit wird nicht nur die EU verändern, sondern auch das Vereinigte Königreich selbst. Im WeltTrends-Interview stellt Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands, klar: Ihr Land wird sich nicht aus der EU drängen lassen. Weiteren aktuellen Problemen wie dem jüngsten Putsch in der Türkei und der Wahl des neuen UN-Generalsekretärs ist der WeltBlick gewidmet.
Im Kommentar betont Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen, die große Verantwortung der Regionen für die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Russland. Sein Bundesland ist dabei, die Kooperation mit der autonomen Republik Tatarstan auszubauen.

am

WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 119 (September) 2016 (Schwerpunktthema: „Berlin und Moskau ­– wie weiter“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„[…] wir erleben gerade eine einschneidende Verschiebung auf dem Feld des kulturellen Gedächtnisses“, konstatiert Sascha Lehnartz: „Vermeintliche Fixpunkte kollektiver Erinnerung verschwinden mehr und mehr im Nebel des Vergessens. […] Der Erfahrungshorizont der meisten Menschen, jenes historische Spektrum, das sie überblicken und aus dem sie ihre Lebenseinstellungen ableiten, umfasst selten mehr als drei Generationen. 80 bis 100 Jahre. […] Das bedeutet aber, dass die entscheidenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts gerade dabei sind, aus dem kollektiven Gedächtnis zu flutschen.“ Mit fatalen Folgen für Gesellschaft und Demokratie: „Ohne die Bereitschaft ihrer Anhänger zu Geschichtsmissachtung hätten populistische Bewegungen kaum so großen Erfolg.“ Und: „Wer vom katastrophalen Scheitern autoritär-isolationistischer Modelle in der Vergangenheit keine Ahnung hat, hält sie neuerdings wieder für die Zukunft.“
Sascha Lehnartz: Was Pokemón Go mit Trumps Politikstil zu tun hat, Die Welt (online), 15.08.16. Zum Volltext hier klicken.

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„Der globale Süden gegen den globalen Norden“, so beginnt ein Beitrag Sascha Hachs über das Projekt eines Kernwaffenverbots seitens der UNO, „im August hat im Genfer Völkerbundpalast eine deutliche Mehrheit atomwaffenfreier Staaten gegen die Minderheit von Atomwaffenbesitzern und deren Alliierten aufbegehrt. Eine überwältigende Zahl an UN-Mitgliedstaaten forderte per Kampfabstimmung in den Vereinten Nationen ein Verbot von Atomwaffen und will hierzu bereits im Jahr 2017 Verhandlungen aufnehmen.“ Und: „Für die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten ist dieses Votum ein diplomatisches Fiasko.“
Sascha Hach: Apocalypse no! Weshalb ein Kernwaffenverbot der UN alles ist, aber keine Schnapsidee, IPG. Internationale Politik und Wirtschaft, 05.09.2016. Zum Volltext hier klicken.

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Frankreich habe „sich verkrampft, fast verkeilt, in einen Kampf gegen den Terror, der Sicherheit zum wichtigsten, fast einzigen Wahlkampftthema macht, über das sich die französische Gesellschaft noch mobilisieren […] läßt. Sicherheit wird damit zum einzigen patriotischen Ventil […]. Dabei ist beim Amoklauf in Nizza vom Juli die Urheberschaft des „Islamischen Staates“ (IS) bis heute nicht erwiesen“, resümieren Ulrike Guérot und Christian Schüle und fahren fort: „Die Tat des Mörders von Nizza ist natürlich abscheulich und unentschuldbar. Aber war es wirklich Terror? Frankreich hält in Medien- und Berichterstattung hartnäckig daran fest, von Terror zu sprechen. Es will sich offensichtlich ‚angegriffen‘ fühlen. Braucht Frankreich den ‚Terror‘, um sich als Nation zu spüren? Oder braucht es ihn, um nicht hinschauen zu müssen, was aus der Grande Nation geworden ist? Ein gespaltenes Land nämlich, in Arm und Reich, Stadt und Land, Franzosen und Muslime, FN-Wähler und solche, die den FN fürchten.“
Ulrike Guérot / Christian Schüle: Schief la France. Frankreich will sich um jeden Preis bedroht sehen. Dabei verliert es sich selbst, IPG. Internationale Politik und Wirtschaft, 23.08.2016. Zum Volltext hier klicken.

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„[…] Menschenrechtsaktivisten beunruhigt der Trend, dass Roboter zunehmend mit sogenannten nicht-tödlichen Waffen ausgerüstet werden“, vermerkt Noel Sharkey, einer der weltweit besten Kenner dieser Materie. Drohnen können bereits Pfefferspraykugeln verschießen oder mit Elektroschockpistolen (Taser) operieren, die 50 000-Volt-Pfeile verschießen. „Laut Amnesty International wurden damit zwischen 2001 und 2013 bei Polizeieinsätzen 540 Menschen getötet.“ Um den Heckenschützen von Dallas zu töte, „wurde ein mit Plastiksprengstoff beladener Remotec-Roboter losgeschickt“. Damit ist für Sharkey die Frage aufgeworfen: „Wird damit ein Telepräsenz-Puffer geschaffen, mit dem die Anwendung von Gewalt entmenschlicht wird?“ und die, „welche Auswirkungen die sich ständig weiterentwickelnde Robotertechnik auf die Menschenrechte und unsere Freiheit haben wird“.
Noel Sharkey: Dein Freund und Helfer-. Welche Auswirkungen hat die sich ständig weiterentwickelnde Robotertechnik auf die Menschenrechte und unsere Freiheit?, IPG. Internationale Politik und Wirtschaft, 24.08.2016. Zum Volltext hier klicken.