von Jörn Schütrumpf
Während auf britische Städte deutsche Bomben fielen, stritten am Boden Emigranten aus dem Land der Bomber über den Charakter der Naziherrschaft. Sahen die einen im deutschen Volk das erste Opfer der Nazis und halluzinierten einen Widerstand, den es zumindest so nie gegeben hat, glaubten die anderen, in den Deutschen den Nährboden zu erkennen, aus dem diese Herrschaft erwachsen war: Die verschwindend wenigen Widerständler seien die Ausnahme und bestätigten lediglich die Regel.
Der britische Diplomat Robert Vansittart ging noch einen Schritt weiter und erklärte, Deutschland sei identisch mit dem Nationalsozialismus – letzten Endes eine rassistische Interpretation der deutschen Expansionsgelüste in Weltkrieg I und II: „Der Deutsche … war immer der Barbar, der Bewunderer des Krieges, der Feind – heimlich oder offen – der Menschenfreundlichkeit, des Liberalismus und der christlichen Zivilisation; und das Hitler-Regime ist kein zufälliges Phänomen, sondern die logische Konsequenz der deutschen Geschichte, des Deutschen in excelsis.“
Obwohl die Alliierten, allen voran die Sowjetunion, den Krieg gewannen, blieb dem nationalsozialistischen Regime ein Sieg, und der wirkt bis heute nach: Die endogenen Widerstandskräfte in der deutsche Bevölkerung waren so schwach, dass – anders als 1918 – selbst in der Stunde der Niederlage die Revolution ausblieb. Ein Volk, ein Reich, ein Führer hatte bis in die letzten Minuten Bestand…
In den USA wurde die Debatte über die deutsche Geschichte ähnlich wie jene in Großbritannien geführt; der Mexiko-Emigrant Alexander Abusch schleuste die amerikanische Debatte quasi im Handgepäck in die DDR ein („Der Irrweg einer Nation“, 1945 ff.), bis Walter Ulbricht weitere Auflagen des Buches verbieten ließ. Der Streit blieb ohne Sieger, flackerte in der Goldhagen-Debatte 1996 noch einmal auf und ist heute vergessen – sieht man von einem kleinen unentwegten Freiburger Verlag ab, der in der Nähe der Vansittartisten siedelt.
Die Chance, im heutigen Deutschland den „hässlichen Deutschen“ – diese Mischung aus Untertan und Übermensch, die Heinrich Mann schon 1914 so schauerlich meisterhaft beschrieb – wiederzutreffen, erfährt seit Monaten ein exponentielles Wachstum. Kehrt man irgendwo zum Essen ein, sitzt er oft schon da: im Osten häufiger als im Westen, außerhalb der großen Städte häufiger als in Kreuzberg oder im Friedrichshain, dort eher in den Destillen…
Dass die Entnazifizierung gescheitert war, wussten schon die Zeitgenossen: Der Nazi ließ sich so schlecht vom Deutschen unterscheiden. Allerdings: Im Osten hatte eine nachhaltige Entnazifizierung vor der Entnazifizierung stattgefunden. Nach dem 12. September 1944 – an diesem Tag waren in London die künftigen Zonengrenzen gezogen worden – hatten sich zuerst die Großkonzerne und dann Massen an Nazitätern in die künftigen Westzonen abgesetzt.
Mit dem Kalten Krieg wurde der Deutsche wieder gebraucht, auf beiden Seiten. Die sowjetische Besatzungsmacht meinte zudem Mitte 1948, es sei an der Zeit, die immer unbequemer werdenden bürgerlichen Nazigegner in CDU und LDP mundtot zu machen, was nur mit Hilfe der Mehrheit ging. Nicht zuletzt deshalb wurde die Entnazifizierung – es hatte insgesamt 12.000 Verurteilungen gegeben – beendet und zur „Eingliederung“ mit der National-Demokratischen Partei und der Bauernpartei gut kontrollierbare Auffangbecken geschaffen. Die Musik dazu hatte Walter Ulbricht schon 1936 komponiert, nachdem wegen des ersten Moskauer Schauprozesses den deutschen Kommunisten die Volksfront-Partner abhanden gekommen waren: „Das Lebensinteresse des deutschen Volkes erfordert, dass die Nichtnationalsozialisten den noch nationalsozialistischen Massen brüderlich die Hand reichen, damit anstelle des Hasses die vertrauensvolle Zusammenarbeit im Kampf um Frieden, Freiheit und Wohlstand tritt.“ Schwamm drüber, bald gab es in der DDR nur noch Antifaschisten…
Im Westen verkam die anfangs vor allem in der amerikanischen Zone sehr ernsthaft betriebene Entnazifizierung letzten Endes zur „Mitläuferfabrik“ (so Lutz Niethammer); das 131er Gesetz von 1951 brachte zudem die Täter wieder in die Ämter samt Pensionsberechtigung. Der Anteil der Beamten, der bis 1945 ein NSDAP-Parteibuch sein eigen hatte nennen dürfen, war nun sogar höher als bis 1945 – dank der Zuwanderung aus dem Osten.
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre hielt eine – lautstarke und bis heute einflussreiche – Minderheit aus der Generation der Söhne und Töchter ihren Eltern deren Verhalten in der Nazizeit vor, wollte alles besser machen, wusste zumeist allerdings nur alles besser, weil sie sich zu fragen vergessen hatte, wie viel Untertan und wie viel Übermensch in ihr selbst steckt.
Der früh verstorbene Leipziger Revolutionsforscher Manfred Kossok brachte es einst auf folgenden Nenner: „Der Deutsche kam auf preußischem Wege, über die Revolution von oben, zur bürgerlichen Gesellschaft; auch er wurde zum Bourgeois, ohne je Citoyen, Staatsbürger im Sinne der Prinzipien von 1789, gewesen zu sein. Spätestens mit der Romantik nahm die von Kant, Hegel, Fichte und den Junghegelianern verkörperte Vernunftlinie irreparablen Schaden. Das damit verbundene Demokratiedefizit polarisierte den deutschen Nationalcharakter: Untertan oder Übermensch.“ Zumeist wohl beides…
Trotzdem haben die 68er in der westdeutschen Gesellschaft eine stärkere Immunisierung bewirkt als der staatliche Antifaschismus der SED im Osten – daran ändert auch das ehrliche Bemühen vieler Einzelner nichts, das durchaus nicht vergessen werden soll. Das wohlfeile Wort: „Lieber ein verordneter Antifaschismus als gar kein Antifaschismus“ – im Osten gern und gelassen ausgesprochen – entfaltet heute mehr und mehr seinen ganzen Zynismus: Alles, was nicht bewusst überwunden wird, kehrt in den nächsten Generationen zurück.
Schlagwörter: Antifaschismus, BRD, DDR, Entnazifizierung, Heinrich Mann, Jörn Schütrumpf, kalter Krieg, Nationalsozialismus