19. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2016

Militärs – a priori zu dumm zum Denken?!

von Sarcasticus

Ich gehöre zu einer Generation, welche die Schrecken, die Zerstörungen und die Folgen zweier Weltkriege miterlitt und dabei erfuhr, daß alle Opfer sinnlos gewesen waren. Die Kriege hatten keinen der Konflikte gelöst, derentwegen sie ausgebrochen waren: im Gegenteil, noch weitere und schwerere hinterlassen; sie hatten keinen allseits erträglichen und damit dauerhaften Frieden gebracht. Als sich dann in Hiroshima ganz neue Waffentechnologien mit katastrophalen Wirkungen offenbarten, mußte jedem Vernünftigen klar werden, daß kriegerischer Konfliktaustrag absurd geworden war.

Brigadegeneral a.D.
Wolf Graf von Baudissin (1907 – 1993)
zu Beginn der 1980er Jahre

In der vorangegangenen Ausgabe hatte ich Zweifel an einer Überlebensperspektive des Abendlandes geäußert. Dieses Mal hätte ich gern mit etwas Positiverem aufgewartet, aber ich gestehe es besser gleich: Es hat nicht geklappt.
Trotzdem ist die Überschrift natürlich nur eine Provokation, um den Leser in den Text zu ziehen, denn nachdenkliche Köpfe unter Militärs gab es auch schon vor Clausewitz. Und danach nicht minder. Fast bis in unsere Tage, wie das einleitende Zitat zeigt, oder wenn man an die Gruppe „Generale für den Frieden“ denkt, die ab 1980 aktiv wurde, als der damalige, der alte Kalte Krieg nach dem NATO- Doppelbeschluss von 1979 einen neuen Höhepunkt erlebte.
Andererseits wird mir immer wieder himmelangst, wenn ich zur Kenntnis nehmen muss, dass der Aufstieg zum Vier-Sterne-General der Bundeswehr und bis in höchste NATO-Kommandos ohne weiteres selbst mit der militärstrategischen Insuffizienz eines Kommissbrotes möglich ist und dass solche „Spitzenkräfte“ öffentlich Unsinn über Krieg und Frieden schwadronieren können, ohne dass es Konsequenzen hätte, und seien es auch bloß disziplinarische. Wenn ihnen dann auch noch irgendein journalistischer Vollpfosten lediglich die Stichworte serviert und dem Fluss ihrer Rede im Übrigen freien Lauf lässt, dreht sich mir endgültig der Magen um.
So jüngst wieder einmal bei einem Interview in der Welt, dem Flaggschiff des Hauses Springer. Der Interviewte: General Hans-Lothar Domröse, Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command Brunssum der NATO. Der Interviewer: Christoph B. Schlitz, langjähriger Redakteur der Gazette.
Domröse ist Praktiker: Im Herbst 2015 leitete er „Trident Juncture“, das mit 36.000 Soldaten zu Lande, in der Luft und zu Wasser größte NATO-Manöver seit Jahrzehnten, an dem auch Kontingente aus Nicht-NATO-Staaten wie Australien, Österreich, Schweden und der Ukraine teilnahmen. Letztere ist allerdings seit dem NATO-Gipfel von Bukarest im Jahre 2008 offizieller Beitrittskandidat.
Doch zum Interview.
Ein russisches Kriegsschiff hatte gegen IS-Stellungen im Irak Marschflugkörper vom Kaspischen Meer abgeschossen, also über eine Entfernung von circa 1.300 Kilometern. Das veranlasste den General zu der durchaus zutreffenden Feststellung: „Wenn man vom Kaspischen Meer aus den Irak erreicht, dann kommt man auch nach Berlin, London oder Paris.“
Allerdings besitzt Russland bekanntlich schon seit den 1950er Jahren Interkontinentalraketen sowie Langstreckenbomber und kann seither nicht nur Berlin, London oder Paris, sondern auch Washington und Los Angeles erreichen. Über Marschflugkörper, wie sie jetzt zum Einsatz kamen, verfügen die russischen Streitkräfte ebenfalls seit langem. War dies dem General und dem Redakteur vielleicht nicht bekannt? Kommen die wirklich erst jetzt aus dem Mustopp?
Man könnte es fast annehmen, denn die nächste Interviewfrage lautete: „Wie soll die Nato darauf antworten?“
Der General:
„Wir müssen die Abschreckung erhöhen […].“
Und dann konkreter:
„Wir müssen fähig sein, unsere Bevölkerung zu schützen. Dazu brauchen wir hochmoderne Waffen, hoch motivierte Soldaten und gut ausgestattete Streitkräfte.“ Dass wir mindestens letztere nicht haben, war im Blättchen schon häufiger Gegenstand meiner Beiträge. Aber gibt der General deswegen eine zielführende Antwort im Hinblick auf die äußere Sicherheit Deutschlands?
Wer gegenüber einer nuklearen Supermacht wie Russland die Abschreckung erhöhen will, also im Verhältnis zu Moskau offenbar primär oder auch nur ernsthaft auf militärische Mittel setzt, der müsste zunächst einmal die Frage beantworten, wie im Falle eines Versagens der Abschreckung, ergo eines Krieges mit Russland, eine Eskalation zum allgemeinen atomaren Schlagabtausch und damit auch die eigene Vernichtung verhindert werden soll. An dieser Frage sind bisher sämtliche Experten gescheitert, seit die UdSSR nicht nur über eigene Kernwaffen, sondern auch über interkontinentale Trägersysteme verfügte.
Jetzt verschärft die geltende russische Militärdoktrin dieses Problem zusätzlich, denn sie sieht für den Fall einer drohenden konventionellen Niederlage russischer Streitkräfte den Ersteinsatz taktischer Kernwaffen vor, um den Gegner zu stoppen. Diesbezüglich hat zwar NATO-Generalsekretär Stoltenberg auf der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz warnend den Zeigefinger gen Moskau erhoben: „[…] niemand sollte annehmen, dass Kernwaffen als Mittel in einem konventionellen Konflikt eingesetzt werden können.“ Aber auch ein NATO-Generalsekretär kann die Russen nicht daran hindern nachzumachen, was jahrzehntelang offen erklärte NATO-Doktrin war – taktische Kernwaffen dafür vorzusehen, ein konventionelles Übergewicht der anderen Seite zu neutralisieren. Zumindest im Sandkasten. Die praktische Probe aufs Exempel ist uns ja während des alten Kalten Krieges gottseidank erspart geblieben.
Domröse musste sich im hier in Rede stehenden Interview jedoch nicht in die Phalanx derer einreihen, die keine schlüssige Antwort auf die Frage nach Verhinderung der Apokalypse im Falles des Falles hatten und haben, da die Nachtmütze von Redakteur ihn mit dieser Frage gar nicht behelligte.
Und auch nicht mit dem vom General praktisch selbst provozierten Problem, wie denn die Bevölkerung vor anfliegenden russischen Marschflugkörpern geschützt werden sollte. Cruise Missiles „marschieren“ bekanntlich tief und folgen auf ihrer Flugbahn dem Geländeprofil, womit sie für bodengestütztes Radar praktisch unsichtbar sind. Auch über hinreichend befähigte Abwehrwaffen gegen Cruise Missiles, um das Territorium Deutschlands abzudecken, verfügt die Bundeswehr nicht.
In eher allgemeiner Form konstatierte der General gleichwohl: „[…] wir haben […] einen Ausrüstungsmodernisierungsstau.“ Um anschließend ganz unverhohlen Aufrüstung zu fordern: „Ohne hochmoderne, teure Waffen und Logistik können glaubwürdige Abschreckung und gemeinsame Verteidigung der Bündnismitglieder künftig nicht funktionieren.“
Damit brachte der General ein weiteres Stichwort ins Spiel, das es wert gewesen wäre, von einem Interviewer hinterfragt zu werden – Verteidigung. Denn: Ein Staat mit derart komplexen Infrastrukturen in Wirtschaft und Gesellschaft wie Deutschland wäre in einem Krieg, der große Teile seines Territoriums einbezöge, militärisch längst nicht mehr zu verteidigen, sondern nur noch zu zerstören. Das ist gleichermaßen der Vernichtungswirkung moderner, selbst schon konventioneller Waffen wie auch der Verletzbarkeit der zivilen Infrastrukturen geschuldet.
Diese Erkenntnis stammt noch aus dem alten Kalten Krieg und war gegen Ende der 1980er Jahre schon einmal weitgehend Konsens in deutsch-deutschen Debatten über Sicherheitspolitik. Forschungsarbeiten dazu waren in der DDR zum Beispiel am Institut für internationale Politik und Wirtschaft (IPW) sowie im Rahmen des Wissenschaftlichen Rates für Friedensforschung geleistet worden, in deren Quintessenz seinerzeit von einer „existentiellen Verwundbarkeit hoch-technisierter und sozial hochorganisierter Industriegesellschaften gegenüber militärischen Einwirkungen“ gesprochen wurde, „die insgesamt bereits einen Grad erreicht“ habe, „der die betreffenden Gesellschaften ‚kriegsuntauglich‘ macht“. So formuliert in dem 1990 erschienenen deutsch-deutschen Sammelband „Verwundbarer Frieden“.
An dieser Sachlage hat sich in der Zwischenzeit nicht nur nichts geändert – im Gegenteil: Mit fortschreitender Digitalisierung und Vernetzung unserer Gesellschaft ist die Lage im Hinblick auf zu erwartende Kriegsschäden noch deutlich prekärer geworden. Da sind militärische Führungskader, die aus dem Koordinatensystem vornuklearen sicherheitspolitischen Denkens militärische Forderungen an die Politik stellen, ein eklatantes Sicherheitsrisiko. Das gilt auch für Politiker, die dies nicht realisieren.
Für das Verhältnis zu Russland ließen sich die hier behandelten Gegebenheiten auf ein konstruktives cetereum censeo bringen – dass nämlich „Sicherheit und dauerhafter Frieden in und für Europa nicht ohne oder gar gegen Russland, nicht konfrontativ, sondern nur kooperativ mit Russland möglich sind“.

P.S.: Domröse – nur ein singulärer Ausreißer? Leider nein. Bei einer Anhörung im US-Kongress warf sich kürzlich der NATO-Oberbefehlshaber Europa, General Philip Breedlove, mit Blick auf Russland in die Brust: „Wir sind bereit zu kämpfen und zu siegen, wenn das notwendig sein wird.“ Sieg im Atomkrieg inklusive? Auch der Mann ist militärstrategisch offenbar nicht das hellste Licht am Baum – oder um es mit einem Wort von Bundesaußenminister Steinmeier zu sagen, das dieser zwar in einem anderen Zusammenhang sprach, das aber auch hier den Punkt trifft: „Ich bin oft fassungslos, in welchem Maße die ohnehin knappe Ressource Vernunft aus der Welt verschwunden ist.“