18. Jahrgang | Nummer 12 | 8. Juni 2015

Bemerkungen

Über den Nationalstolz der Großrussen

[…] Wir sind erfüllt vom Gefühl nationalen Stolzes, und gerade deshalb hassen wir ganz besonders unsere sklavische Vergangenheit (in der adlige Gutsbesitzer die Bauern in den Krieg führten, um die Freiheit Ungarns, Polens, Persiens, Chinas zu erdrosseln) und unsere sklavische Gegenwart, in der dieselben Gutsbesitzer, unterstützt von den Kapitalisten, uns in den Krieg führen, um Polen und die Ukraine zu erdrosseln, um die demokratische Bewegung in Persien und China zu erdrücken, um die unsere großrussische Nationalwürde schändende Bande der Romanow, Bobrinski und Purischkewitsch zu stärken. Niemand ist schuld daran, daß er als Sklave geboren wurde; aber ein Sklave, dem nicht nur alle Freiheitsbestrebungen fremd sind, sondern der seine Sklaverei noch rechtfertigt und beschönigt (der z. B. die Erdrosselung Polens, der Ukraine usw. als „Vaterlandsverteidigung“ der Großrussen bezeichnet) – ein solcher Sklave ist ein Lump und ein Schuft, der ein berechtigtes Gefühl der Empörung, der Verachtung und des Ekels hervorruft.
„Ein Volk, das andre unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren“ (Engels im „Volksstaat“, 1874, Nr. 69) – so sprachen die größten Vertreter der konsequenten Demokratie des 19. Jahrhunderts, Marx und Engels, die die Lehrer des revolutionären Proletariats geworden sind. Und wir, die großrussischen Arbeiter, die wir vom Gefühl nationalen Stolzes erfüllt sind, wollen um jeden Preis ein freies und unabhängiges, ein selbständiges, demokratisches, republikanisches, stolzes Großrußland, das seine Beziehungen zu den Nachbarn auf dem menschlichen Prinzip der Gleichheit aufbaut und nicht auf dem jede große Nation entwürdigenden Prinzip der Hörigkeit und der Privilegien.

Aus: W. I. Lenin „Über den Nationalstolz der Großrussen“, Dezember 1914.

Zukunftssicherheit

Das Bundesarbeitsministerium hat eine Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnis nun vorliegt. Danach weisen zwölf Prozent der bestehenden Arbeitsplätze in Deutschland ein Tätigkeitsprofil mit einer hohen Automatisierungswahrscheinlichkeit auf und könnten in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren also wegfallen; das wäre etwa jeder achte Arbeitsplatz. Nun sollte das eigentlich niemanden überraschen, denn der dieser Voraussicht zugrunde liegende Prozess obwaltet ja bereits seit vielen Jahren, und dass er in jenem dramatischen Maße steigt, wie die Elektronisierung der Wirtschaft, liegt auf der Hand. Allerdings: Wenn Andrea Nahles nun erklärt, dass der digitale Strukturwandel uns neue Antworten abfordert, „uns aber nicht überfordert“, darf man überrascht sein. Denn überfordert zeigt sich die Regierung seit der Existenz dieser Entwicklung. Sie hat sich außerstande gezeigt, all jenen Tätigkeitsbereichen, die zum so genannten Non-Profit-Sektor gezählt werden – also Bildung, Gesundheit, Kultur, soziale Sicherheit etwa – eine materielle Basis zu verschaffen, all jenen freiwerdenden Arbeitskräften aus der Wirtschaft eine neue berufliche Perspektive und der Gesellschaft wiederum zu einem – dringend notwendigen – kulturellen Entwicklungsschub zu verhelfen. Die Zahl der Menschen, die dafür zur Verfügung stünden, steigt seit Jahr und Tag, die dafür vorhandenen Mittel des Staates hingegen nicht. Das wiederum nicht zuletzt deshalb, weil die Wirtschaft, deren Dasein immerhin direkt oder indirekt dem Konsum dient und somit von eben jenen Menschen als Konsumenten abhängt, nicht zu jener finanziellen Mitverantwortung gezwungen wird, die vieles mehr möglich machen könnte als dies derzeit der Fall ist.
Nun ist die Beschäftigungslage hierzulande konjunkturbedingt relativ gut, Konjunkturen haben indes eine tendenziell immer kürzere Halbwertszeit. Und ist diese abgelaufen, bekommt die Gegenläufigkeit wieder Konjunktur, mit all jenen Konsequenzen, die sich gegen so viele Individuen wie gegen das Gros des Gemeinwesens richtet. Aber wir sind ja vorbereitet, stimmt´s, Frau Nahles? Und das beruhigt doch ungemein!

Hella Jülich

Medien-Mosaik

Was sich Thomas Brussig da ausgedacht hat, „Das gibt´s in keinem Russenfilm!“ Er hat die stehende Redewendung als Titel für seinen satirischen Roman gewählt, der die Geschichte der DDR aus Sicht des halbdissidentischen Schriftstellers Thomas Brussig bis in die Gegenwart erzählt. Es gibt keinen Mauerfall, und die beiden deutschen Staaten existieren nebeneinander in herzlicher Feindschaft weiter. Der Trick, eine irreale Geschichte zu erzählen, erlaubt ihm, reale Personen der Zeitgeschichte oder des Kulturbetriebs in Rollen schlüpfen zu lassen, die sie nie einnehmen konnten. Jan Josef Liefers wird ein berühmter Dimitroff-Darsteller der DDR, und Lothar Bisky darf bis zu seinem überraschenden Ende die HFF „Konrad Wolf“ leiten, Petra Pau wird Volksbildungsministerin, Lafontaine Bundeskanzler und Gysi unter dem Staatsratsvorsitzenden Krenz Ministerpräsident. Brussig läßt die DDR so weiterexistieren, wie sie bisher angelegt war, zu wirklichen Reformen kommt es nicht. Brussig zeigt sich selbstironisch als DDR-Autor zwischen Auflehnung und Anpassung, wobei letztere weiter fortschreitet. Ihm gelingen recht stimmige Porträts bekannter Personen in undenkbaren Situationen. Er liefert auch immer wieder Charakteristika von Vertretern unterschiedlicher Generationen, wobei die nachdenkliche Begegnung mit seinem unehelichen Sohn den Schlusspunkt setzt. Ein Gewinn ist es, wenn man die Lesung aus dem Argon-Verlag hört. Stefan Kaminski, bekanntermaßen ein genialer Sprecher, gibt dem Ich-Erzähler eine unterschwellig ironische Naivität und charakterisiert unaufdringlich die bekannten Personen, seien es Nina Hagen, Udo Lindenberg oder Gregor Gysi nach Dialektfärbung und Sprachduktus. So wird das Hörbuch gleichzeitig zum amüsanten geistigen Genuß und einem Ohrenschmaus.

Thomas Brussig: Das gibts in keinem Russenfilm, gelesen von Stefan Kaminski, Argon Hörbuch 2015, knapp 10 Stunden, 29,95 Euro.

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Brigitte Borchert war eine berühmte Amateurschauspielerin. Das ist kein Gegensatz. Ihr einziger Film „Menschen am Sonntag“, der 1929 im Stil der Neuen Sachlichkeit entstand, ist heute ein wichtiges Stück deutscher Filmgeschichte. Gemeinsam mit ihren drei Mitspielern bildet sie (die übrigens erst vor vier Jahren hundertjährig starb) einen „roten Faden“ in dem Filmessay „Von Caligari zu Hitler“, das jetzt gestartet ist. Autor und Regisseur Rüdiger Suchsland beruft sich darin auf den bedeutenden Filmtheoretiker Siegfried Kracauer, der nach dem Krieg im amerikanischen Exil, wohin ihn die Nazis getrieben hatten, das gleichnamige Buch veröffentlichte. Er attestierte den Deutschen eine Neigung zum Morbiden und Makabren, belegte das an Filmen des Gespanns Fritz Lang / Thea von Harbou und führt das auf eine tiefe politische und kulturelle Verunsicherung zurück, die im Faschismus mündete. Suchsland greift einige der Kracauerschen Thesen auf und bebildert sie nicht ungeschickt mit Filmausschnitten aus der Weimarer Republik. Dass er aber den Bildern nicht vertraut und ununterbrochen kommentiert, erschwert das Verständnis. Am Schluss des für seinen Titel erstaunlich unpolitischen Films ist man erschlagen und wünscht sich bestenfalls, den einen oder anderen der angetippten Streifen im Ganzen zu sehen.

Von Caligari zu Hitler – Das deutsche Kino im Zeitalter der Massen, 118 Minuten, seit 28. Mai in ausgewählten Programmkinos

bebe 

Glückwünsche an…

Clint Eastwood, vom Ballermann zum großen Kino – „Eastwood ist der Beweis, dass reaktionäres Verhalten auf der Leinwand gut rüberkommt.“ Der oder die das dieser Tage in einer hiesigen TV-Programmzeitschrift unters Volk brachte, spielte auf Ihre frühen Spaghetti-Western und insbesondere Ihren brachial-kriminellen Dirty Harry an – Rollen, für die Ihnen die Fans von brutalen Ballerfilmen durchaus zu Füßen lagen. Doch Sie auf diese Rollen zu reduzieren – zumal Sie bei den betreffenden Streifen weder für die Drehbücher noch gar für die Regie verantwortlich zeichneten, ist in etwa so narrow minded, wie die genannten Streifen platt waren.
Wer fürderhin Kinobesuche mied, wenn Ihr Name auf dem Plakat stand, dem ist über die Jahre großes, teil schwer beindruckendes, teils wunderbares Kino entgangen. Etwa „Erbarmungslos“ (1992: Regie, Hauptdarsteller, zwei Oscars, eine weitere Nominierung), „Die Brücken am Fluss“ (1995: Regie, Hauptdarsteller), „Million Dollar Baby“ (2004: Regie, Komposition, Hauptdarsteller, zwei Oscars, eine weitere Nominierung), „Gran Torino“ (2008: Regie, Hauptdarsteller) und „J. Edgar“ (2011: Regie, Komposition). Großes Kino auch Ihre Kriegsfilme „Flags of Our Fathers“ (2006: Regie, Komposition) und „Letters from Iwo Jima“ (2007: Regie, zwei Oscar-Nominierungen), die dasselbe Kriegsgeschehen, die blutige Schlacht um die pazifische Insel Iwo Jima, einmal aus amerikanischer, einmal aus japanischer Sicht zeigen.
Am 31. Mai feierten Sie Ihren 85. Geburtstag. Nachträglich happy birthday – und bitte auch künftig immer noch ein Filmprojekt in der Pipeline!

Walter Niklaus, a voice before The Voice – Es gibt Stimmen, die erkennt man wieder, auch wenn man sie erst einmal gehört hat, und manche davon entfalten Suchtpotenzial. Walter Niklaus, „The Voice“ (unter anderem der Synchronsprecher für Robert de Niro), hat solch ein Organ. Aber Niklaus war noch ein junger Mann und an de Niro nicht zu denken, da waren Sie bereits in dem epochalen DDR-Fernseh-Vierteiler „Wolf unter Wölfen“ nach dem Roman von Hans Fallada zu hören – als Erzähler auf dem Off (1964). Unvergesslich. A voice before The Voice! So nicht minder Ihre Wirkung in „Kleiner Mann – was nun?“ (1967) – wieder Fallada und wieder Sie als Erzähler. Da der aber bekanntlich nicht „mitspielt“, werden Sie im heutigen Wikipedia-Eintrag zum Wolf glatt unterschlagen.
Neben Ihrer Stimme und Ihrer Kunst, damit Stimmungen, Suspense inklusive, zu erzeugen, beeindruckt vor allem Ihre Vielseitigkeit – als Schauspieler (etwa als CIA-Agent Wilson im DDR-Straßenfeger „Das unsichtbare Visier“, ab 1973), Theaterregisseur (unter anderem „Don Carlos“ am Nationaltheater Weimar, 1980) und – gefühlt – unzählige Male als Hörspielregisseur. Für „Die Päpstin“ mit Angelika Domröse in der Hauptrolle erhielten Sie 2005 den renommierten „Hörkules“.
Denen, die Sie nicht kennen, sei Ihre Einlesung von Hans Christian Andersens „Bericht einer Reise in die Sächsische Schweiz“ von 2008 empfohlen.
Wir gratulieren zum 90. Geburtstag am 8. Juni.

Clemens Fischer

Kurze Notiz zu Laucha

Laucha an der Unstrut – so mit vollem Namen – liegt zwischen den Städten Nebra (Unstrut) und Freyburg (Unstrut). Nebra hat die Welt mit Hedwig Courths-Mahler beschenkt, Freyburg immerhin mit genügend Sekt, um deren Kitsch-Romane zu ertragen. Und Laucha? Tja …
Laucha ist nur noch auf der Landkarte verzeichnet, weil diese kleine Landstadt gründlich totsaniert wurde. Heißt: Alles, was öffentlich ist vom frisch getrimmten Graben hinterm Bahnhof bis zu Rathaus und Kirche (da fließen ja auch Steuergelder rein) steht in altem, restaurierten Glanz. Dazwischen aber ducken sich kleine, mehrheitlich heruntergekommene Hütten, die der Wind längst in die Unstrut geweht hätte, läge über Laucha nicht diese eigentümliche, allgegenwärtige Trägheit. Frischen Wind gab es hier lange nicht mehr.
Die kleine Stadt im westlichen Burgenlandkreis firmiert offiziell als Fliegerstadt wegen der Piste nebenan, als Winzerstadt, was ja entlang der Unstrut nun wirklich keine Sensation ist, und als Glockenstadt. Weil hier ein Glockenmuseum unterhalten wird, das von April bis Oktober ab Mittwoch täglich geöffnet ist. Wahrscheinlich, damit es keine terminliche Überschneidung mit der Sprechstunde des Bürgermeisters gibt, der dienstags entweder in Laucha oder in den zwei zuletzt eingemeindeten Ortsteilen Rede und Antwort sitzt. Hier ist also Kalenderwissen gefragt: Am ersten Dienstag im Monat ist das Stadthaupt in Laucha, am zweiten in Kirchscheidungen, am dritten wieder in Laucha und am vierten in Burgscheidungen.
Aber das ist auch schon das einzige Highlight am Platz, denn seit sich der Männerchor mangels Nachwuchs aufgelöst hat, ist in Laucha nicht mehr viel los. Gerade das aber muss Sorge bereiten, wie ein Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse zeigt: Demnach stellt Laucha, wo die NPD zweistellig in den Stadtrat gewählt wurde und selbst der Bezirksschornsteinfeger mit Hitler-Bärtchen rumrennt, eine Hochburg im eh schon braunen Süden Sachsen-Anhalts dar. Oder anschaulicher: Einem Jungen so um die neun, zehn Jahre fällt auf dem Bahnhof das Eis runter. „Scheiß Juden!“, flucht er, ohne dass sich jemand auf dem Gleis großartig darüber wundert oder darauf eingeht. Und weil ihm die Eltern nicht noch eins kaufen wollen, wiederholt er das noch mal. Nicht zu glauben? Tja, dann: Auf nach Laucha!

Thomas Zimmermann

Phänomene der Alltagssprache

Dass die grammatischen Geschlechter mit den biologischen Geschlechtern nicht das Geringste zu tun haben, hat sich immer noch nicht herumgesprochen. Mittlerweile wird im deutschen Sprachraum peinlich genau darauf geachtet, jede männliche Berufsbezeichnung mit einer entsprechenden weiblichen Form zusammen zu spannen. Hingegen hält man in Schweden nicht viel davon, so zu verfahren. Und in Großbritannien, konstatiert der Linguist David Crystal, kommt man neuerdings immer mehr davon ab, Wörter wie manageress, sculptress oder police woman zu verwenden. Stattdessen werden Frauen wie Männer schlicht managers, sculptors oder police officers genannt.
Warum schreibt sich das englische Wort für „Königin“ nicht schlicht und einfach „cwen“, wie es in früheren Zeiten üblich war, sondern „queen“? Weil die neue Schreibweise mit den Französisch sprechenden normannischen Eroberern nach England gekommen ist. Und warum schreibt man ein Wort wie „ghost“ mit <gh>, wohingegen man im Frühmittelalter noch ohne <h> ausgekommen ist? Schuld daran waren die vielen holländischen Drucker, die William Caxton anheuerte, als er im Jahre 1497 die Druckerpresse in England einführte.
Der britische Linguist David Crystal ist nicht nur einer der Köpfe hinter der „Cambridge Encyclopedia of Language“, sondern auch ein bedeutender Vermittler sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse. Sein neuestes Buch beschäftigt sich in 40 Kapiteln mit einer ungeheuren Vielfalt von Phänomenen der Alltagssprache: Von den ersten Schreien und Lauten von Babys angefangen, über die Evolution des menschlichen Sprachvermögens, die Entstehung von Schriftsystemen, den Wandel und das Sterben von Sprachen bis hin zu den charakteristischen Merkmalen von SMS-Nachrichten und den Methoden der forensischen Linguistik.
Was dabei herausgekommen ist, ist streckenweise durchaus spannend und aufschlussreich. Das Buch krankt allerdings daran, dass es viel zu viele Themen viel zu knapp behandelt. Außerdem ist es in einem merkwürdigen pseudo-naiven Stil abgefasst – als hätte es Crystal eigens für einen Urenkel oder eine Urenkelin geschrieben.

Frank Ufen

David Crystal: Das kleine Buch der Sprache, Atlantik Verlag, Hamburg 2015, 303 Seiten, 22,00 Euro.

Spruchweisheit

In einer Tageszeitung war als „Spruch des Tages“ dieses Zitat von Mahatma Gandhi zu lesen: „Zur Duldsamkeit gehört nicht, dass ich auch billige, was ich dulde“. Das sollte ein „Spruch auf Lebenszeit“ sein, bedeutet er doch, dass ich Leute toleriere, die Kühe für heilige Tiere halten, selbst aber nicht verpflichtet bin, die Rindviecher zu verehren.

Monethik

Der gesellschaftliche Fortschritt ist nicht zu bremsen. Hippokrates hat noch genügsam gesagt: „Grundsatz bei der Behandlung der Kranken: stets zweierlei im Auge haben: helfen oder wenigstens nicht schaden“. Heutzutage kommt ein weiterer Grundsatz bei der Behandlung von Kranken hinzu: kassieren.

Minimehrheit

Laut Grundgesetz wirken explizit
die Parteien an der Bildung des Volkswillens mit.
Mit diesem gesponserten Willen versehen,
gehen die Bürger zur Wahl. WENN sie wählen gehen.
Denn Bürger in ganz beträchtlicher Zahl
gehen aus Unwillen nicht mehr zur Wahl.
Weil das Grundgesetz nicht vom Unwillen des Volkes spricht,
fällt das nicht sonderlich ins Gewicht
und stört auch beim Regieren nicht.
Hauptsache ist, von den wenigen Patrioten,
die zur Wahl gehen, kriegt man die meisten Voten.
So kann man zwar Wähler und Wählerinnen
verlieren, aber die Wahl gewinnen.

Günter Krone

Von gutem Regieren

Das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) hat eine Statistik veröffentlicht, die medial zwischen überrascht und erschreckt beurteilt wird. Legt man – wie dieses Institut – nämlich die sogenannte Bruttogeburtenziffer zugrunde, also die Zahl der Geburten pro 1000 Einwohner, belegt Deutschland weltweit den letzten Platz. Unter Verwendung der gebräuchlicheren Kennziffer, also der Geburtenzahl pro Frau, kommt es nicht ganz so schlimm, unter den Letzten im globalen Ranking befindet sich Deutschland aber auch dort.
Es ist hier nicht der Platz, all die freilich zu beachtenden Faktoren für diesen Umstand zu explizieren, Rousseaus Definition aus seinem „Gesellschaftsvertrag“ von 1762 bietet sich allerdings förmlich an, an dieser Stelle in Erinnerung gerufen zu werden: „Wenn man unbedingt wissen will, welche Regierung die beste ist, so wirft man eine ebenso unlösbare wie unbestimmte Frage auf oder auch, wenn man will, eine Frage, die ebenso viele richtige Lösungen hat, wie es mögliche Kombinationen in den absoluten wie relativen Lagen der Völker gibt.
Fragt man dagegen, woran man erkennt, ob ein bestimmtes Volk gut oder schlecht regiert wird, so ist dies etwas anderes, und eine so gestellte Frage kann richtig beantwortet werden.
Indessen ist ihre Lösung noch nicht gefunden, weil sie jeder auf seine Weise lösen will. Die Untertanen preisen die öffentliche Ruhe, die Staatsbürger die persönliche Freiheit; der eine stellt die Sicherheit des Eigentums höher, der andere die der Person; dem einen gilt die strengste Regierung als die beste, dem anderen die Verhütung der Verbrechen: Der eine findet es schön, bei seinen Nachbarn gefürchtet zu sein, der andere möchte ihnen lieber unbekannt sein; der eine ist zufrieden, wenn Geld im Umlauf ist, der andere verlangt, dass das Volk Brot habe. Selbst wenn man über diese und ähnliche Punkte derselben Ansicht wäre, hätte man damit viel gewonnen? Da die moralischen Eigenschaften jedes genauen Maßstabes entbehren, würde man sich wohl über das Kennzeichen einer guten Regierung einigen, wie aber sollte dies bei einer moralischen Bewertung der Fall sein?
Mich persönlich setzt es immer wieder in Erstaunen, daß man ein ganz einfaches Kennzeichen absichtlich oder unabsichtlich nicht wahrnimmt. Was ist denn der Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung? Doch nichts anderes als die Erhaltung und das Wohl ihrer Glieder. Und welches ist das sicherste Kennzeichen für ihr Wohlbefinden? Die Zunahme der Bevölkerung. Man suche also dieses vielumstrittene Kennzeichen nicht woanders. Bei Gleichheit aller übrigen Verhältnisse ist unstreitig die Regierung die beste, unter der sich ohne fremde Mittel, ohne Naturalisation, ohne Kolonien die Zahl der Staatsbürger vermehrt. Die Regierung dagegen, unter der ein Volk dezimiert wird, ist die schlechteste. Jetzt, ihr Rechenkünstler, macht euch ans Werk! Zählt, meßt und vergleicht!“
Nun war Rousseau ein viel zu kluger Mensch, um die Anzahl vieler Geburten mechanistisch auf ein gutes Regiertwerden der Menschen zurückzuführen. Dass in den Ländern der diesbezüglich statistischen Spitzenreiter wie Niger, Mali und Tschad die blanke Armut und Unterentwicklung obwalten und bei fehlenden sozialen Absicherungen dort eine Vielzahl von Nachkommen die nahezu einzige Form der „Alterssicherung“ darstellen, sei hier nur erwähnt. Für reiche Länder wie das unsere ist die statistische Platzierung jedenfalls ebenfalls ein Armutszeugnis, wenn auch gegenteiliger Natur.

HWK

Mein Dekalog

Wir haben Blättchen-Autoren
und -Freunde befragt:
Wenn Sie, aus welchen Gründen auch immer,
für den Rest Ihres Lebens mit zehn Büchern
auskommen müssten, welche wären dies?
Und wir haben auch uns selbst befragt …
Die Redaktion

1. John Steinbeck: Jenseits von Eden
2. Audrey Niffenegger: Die Frau des Zeitreisenden
3. Max Frisch: Stiller
4. Mark Twain: Huckleberry Finn
5. Stan Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit
6. Maarten ‘t Hart: Das Wüten der ganzen Welt
7. Paul Auster: Die New York-Trilogie
8. Nick Hornby: High Fidelity
9. Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels
10. André Gorz: Brief an D.

Wolfgang Hochwald

1. Albert Camus: Die Pest
2. Christa Wolf: Kassandra
3. Anatoli Rybakow: Die Kinder vom Arbat
4. Gabriel García Márquez: Die Liebe in Zeiten der Cholera
5. Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita
6. Heinar Kipphardt: März
7. Stefan Heym: Der König-David-Bericht
8. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme
9. Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk
10. Ray Bradbury: Der illustrierte Mann

Wolfgang Schwarz

Aus anderen Quellen

„Ratlosigkeit und wachsende Sorge herrschen in der US-Hauptstadt“, beginnt Akram Belkaïd seinen Beitrag. „In den Fluren des Kongresses wie in den Sitzungssälen der großen Thinktanks stellt man sich stets dieselben Fragen: Was ist wirklich los im Nahen Osten, und wie können die USA verhindern, schon wieder in einen Konflikt hineingezogen zu werden?“ Gemeint ist der in Jemen. Währenddessen punktet Iran: „Neben dem Abschluss eines Übergangsabkommens für sein Atomprogramm hat Teheran die Türkei und Pakistan davon überzeugt, sich nicht der saudisch geführten Koalition gegen den Jemen anzuschließen. Und Teheran hat noch einen wichtigen Sieg errungen: Im April hob der russische Präsident Putin ein Waffenembargo gegen den Iran auf, das sein Vorgänger Dmitri Medwedjew 2010 verhängt hatte. Diese Entscheidung macht den Weg frei für die Erfüllung eines 2007 geschlossenen 800-Millionen-Dollar-Vertrags über die Lieferung von Flugabwehrraketensystemen vom Typ S-300.“
Akram Belkaïd: Brennglas Jemen, Le Monde diplomatique, 07.05.2015. Zum Volltext hier klicken.

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„China besitzt das modernste Umweltgesetz weltweit“, konstatiert Shi Ming. Und genau wie in der DDR, von der man einst Ähnliches sagte, werden „in der Realität […] Boden, Wasser und Luft mit jedem Tag mehr verpestet“. In China liegt das nicht zuletzt an einer Mittelschicht, zu deren prägenden Merkmalen es zählt, „Lebensqualität an kommerziell messbaren Größen festzumachen. Beliebt ist der Vergleich mit US-Standards: Wie viele Quadratmeter bewohnt ein weißer US-Amerikaner? Wie viele Privatflugzeuge haben die Amis, die so viel verdienen wie wir‘? Wie viele Mercedes oder BMWs rasen dort über die Straßen? Der Wettlauf der urbanen Mittelschicht um diese Sorte Lebensqualität hat weitreichende Folgen […].“
Shi Ming: Einmal blauen Himmel und weiße Wolken sehen. Der Lebensstil der chinesischen Mittelschicht und seine Folgen, Le Monde diplomatique, 07.05.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Zur wirtschaftlichen Schlüsselrolle des Energiegiganten Gazprom in Russland schreibt Catherine Locatelli: „Russland verfügt über 16,8 Prozent der weltweiten Gasvorkommen, von denen Gazprom nach eigenen Angaben 72 Prozent kontrolliert. Damit ist der Konzern heute das größte Gasförderunternehmen weltweit. Mit einer Gesamtförderung von 487 Milliarden Kubikmetern hat der Energiegigant 2013 die Konkurrenten ExxonMobil und Shell überholt. Das gilt auch für die 233,7 Milliarden Kubikmeter, die Gazprom ins Ausland verkauft und damit Einnahmen erzielt hat, die 12 Prozent der gesamten russischen Exporterlöse (für Güter und Dienstleistungen) ausmachen.“ 51 Prozent der Aktien an Gazprom hält der russische Staat.
Catherine Locatelli: Der Fall Gazprom. Russlands Energiegigant auf der Suche nach neuen Märkten, Le Monde diplomatique, 07.05.2015. Zum Volltext hier klicken.

Blätter aktuell

Weltweit befinden sich derzeit knapp 300 Millionen Menschen auf der Flucht. Thomas Gebauer, Psychologe und Geschäftsführer von medico international, analysiert die Ursachen von Migrationsbewegungen und zeigt, dass die Globalisierung die Gräben zwischen dem globalen Süden und Norden weiter vertieft. Daraus resultiert die moralische Pflicht Europas, sich der Menschen in Not anzunehmen und das Arendtsche Diktum vom Recht auf Rechte zu verwirklichen.
Sinkende Staatsverschuldung, steigende Löhne, Weltspitze bei den Exportüberschüssen und eine brummende Industrie – das „Modell Deutschland 2015“ scheint gut zu funktionieren. Eine diametral entgegengesetzte Sicht nimmt der Journalist und Wirtschaftswissenschaftler Stefan Welzk ein. Er verweist auf die zunehmende Ungleichverteilung der Privatvermögen, auf fehlende Investitionen der öffentlichen Hand und auf die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse.
Seit den ersten Snowden-Enthüllungen vor zwei Jahren stellt sich die Bundesregierung als Opfer der US-Spionage dar. In den vergangenen Wochen hat sich jedoch gezeigt, dass auch der Bundesnachrichtendienst (BND) an der weltweiten illegalen Überwachung mitwirkt und damit knietief im von Edward Snowden freigelegten Spionagesumpf steckt. Daniel Leisegang geht dieser Verquickung nach.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Grexit: Das Scheitern der europäischen Idee“, „Kleinwaffen: Die Schwarzwald-Conection“ und „Debatte: TTIP – Wohlstand für den Süden?“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Juni 2015, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.