15. Jahrgang | Nummer 16 | 6. August 2012

Bemerkungen

Kiesinger versus Goebbels?

Als Beate Klarsfeld während eines CDU-Parteitags in der Berliner Kongresshalle am 7. November 1968 auf das Podium stieg und den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger ohrfeigte, tat sie dies wegen dessen Nazi-Vergangenheit und weil ihre vorangegangenen „gewaltlosen“ Aktivitäten, um Kiesinger zum Rücktritt zu bewegen, kaum ins öffentliche Bewusstsein gedrungen waren. Sie selbst zu ihrer Tat: „Mit Worten allein ist in Deutschland, […] gegen den Nazismus […] wenig zu erreichen. Seit einem Jahr führe ich nun eine Kampagne gegen Kiesinger. Ich habe in der Bundesrepublik 30.000 Broschüren über Kiesingers Nazi-Vergangenheit verteilt, Pressekonferenzen und Vorträge in Universitätsstädten gehalten und an den Bundestag geschrieben. Das Echo blieb schwach.“ Sie habe „gefühlt, daß ich dies für Deutschland, und um die Ehre Deutschlands zu retten, tun musste“.
Nach der anschließenden erstinstanzlichen Verurteilung Beate Klarsfelds zu zwölf Monaten Gefängnis schrieb der Spiegel, es sei „tatsächlich etwas in des Bundeskanzlers Äußerung über seine Jahre unter Hitler – das reizt.“ Was damit gemeint war, ließ der Spiegel seinerzeit offen.
Nicht gemeint gewesen sein kann allerdings, was Kiesinger selbst nie öffentlich gemacht hat – etwa den Umstand, dass er sich als Sachwalter des Auswärtigen Amtes im Jahre 1943 nicht zu scheuen brauchte, selbst dem mächtigen Reichpropagandaminister Goebbels die Stirn zu bieten – unter verdeckter Berufung auf Hitler. Das weiß man aus einem Aktenblatt (Kopie im Besitz des Autors), das diese Deutung nahe legt. Am 28. Juli 1943 wandte sich „Ref. Schreiber“ aus der Abteilung Ausland des Goebbels-Ministeriums an „Herrn Leiter Rundfunk“ in selbigem Hause: „Wie von mir am Sonntag, den 25.7. und den beiden darauffolgenden Tagen referiert, wünscht das Auswärtige Amt eine propagandistische Auswertung der Tatsache, daß in ‚Moskau unter der Regie der Sowjets eine ‚Freie deutsche Regierung’ gebildet wurde. Die Bereitstellung eines solchen Instruments sei, so sagt das Auswärtige Amt, herauszustellen als unverkennbares Zeichen dafür, daß die Sowjets sich in ihrer Nachkriegspolitik keineswegs an die westlichen Alliierten gebunden sehen und völlig selbständig Vorbereitungen für eine Bolschewisierung Europas betreiben. Die Befolgung dieses Vorschlags ist unterblieben, da er laut Mitteilung der Herren Ministerialdirektoren Prof. Hunke und Fritzsche einer generellen Anweisung unseres Ministers widerspricht. Das Auswärtige Amt (Kiesinger) macht demgegenüber geltend, daß es sich um eine gewichtige Weisung von höchster Stelle handelt, und hält seinen Vorschlag mit Nachdruck aufrecht. Ich bitte um Weisung.“

Alfons Markuske

WeltTrends aktuell

Der Themenschwerpunkt der aktuellen Ausgabe von WeltTrends ist Brasilien gewidmet. Die Realität des größten Landes Lateinamerikas war und ist bis heute durch Gegensätze geprägt, vor allem durch jenen von Arm und Reich. Was Gini-Koeffizienten nüchtern in Zahlen ausdrücken, kann man in den Metropolen von Rio de Janeiro und São Paulo, mit ihren hypermodernen Zentren und den armseligen Favelas an den Berghängen, auf engstem Raum erleben. Dabei geht es vor allem um die Verteilung von Land. Die Auseinandersetzungen darum waren und sind bis heute heftig, auch gewaltsam. Trotz Armutsbekämpfung unter Präsiden Lula da Silva und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff bleibt die Frage nach strukturellen Veränderungen im postneoliberalen Zeitalter. Diese Frage weist zugleich über Brasilien und die Region hinaus.
Mit der Publizierung eines Diskussionspapiers von Vertretern der SPD, der Parteien Die Linke und Bündnis 90/Grüne (sowie der SPÖ) für eine gemeinsame Reformpolitik in außen- und sicherheitspolitischen Fragen eröffnet WeltTrends zugleich einen neuen Streitplatz, auf dem Voraussetzungen und Ansätze einer Regierungskombination Rot-Rot-Grün auf Bundesebene ausgelotet werden sollen.

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Aus: WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 85 – Juli / August 2012 (Schwerpuntthema: Brasilien), Potsdam / Poznan, 9,50 Euro (für Bezieher des Newsletters: 6,- Euro) plus Porto. Weitere Informationen im Internet: www.welttrends.de

 

Über das Nürnberger Malergenie

Als Albrecht Dürer 1484 ohne höhere Schulbildung eine Goldschmiedelehre bei seinem Vater antrat, schien seine Zukunft gesichert zu sein – denn von allen handwerklichen Berufen jener Zeit brachte der des Goldschmieds das höchste Einkommen und das meiste Prestige ein. Doch unmittelbar vor dem Ende der regulären Lehrzeit brach Dürer diese Ausbildung ab und konnte seinen Vater schließlich überreden, ihm zu erlauben, in der Werkstatt des Malers Michael Wolgemut ein weiteres Handwerk zu erlernen. Nach wie vor ist nicht geklärt, was Dürer dazu veranlasst hat, zur Malerei zu wechseln. Nicht selten muss zur Erklärung das Klischee von der genialen Künstlerpersönlichkeit herhalten, die angeblich nicht umhin kann, gegen die Zwänge der Konvention zu rebellieren. Thomas Schauerte hält sich nicht lange mit dieser antiquierten Hypothese auf. In seinen Augen ist es ohne weiteres möglich, dass Dürer seinen Entschluss, die Goldschmiedekunst aufzugeben, schlüssig begründen konnte – auch und gerade gegenüber seinem eigenen Vater.
Ebenfalls im Jahre 1484 hat sich der junge Albrecht mit Hilfe eines Spiegels selbst porträtiert. In diese berühmte Silberstiftzeichnung ist viel hineingedeutet worden.  Schauerte lässt hiervon fast nichts gelten. Und er arbeitet heraus, welche technischen Probleme der Dreizehnjährige damals noch außerstande war zu lösen.
Thomas Schauerte, der das Albrecht-Dürer-Haus in Nürnberg und die Graphische Sammlung der Nürnberger Museen leitet, gehört zweifellos zu den profundesten Dürer-Kennern im deutschen Sprachraum. Das kommt auf jeder Seite dieses Buches zum Ausdruck. Schauerte wartet mit einer Fülle minutiöser Detailanalysen auf, korrigiert etliche Forschungsirrtümer, weist auf Forschungslücken hin, räumt mit einer ganzen Reihe von Mythen auf, lässt sich aber an keiner Stelle auf Spekulationen oder gewagte Aussagen ein. Eine hoch gelehrte, äußerst präzise und detailreiche intellektuelle Biographie Dürers. Das Buch wendet sich in erster Linie an Spezialisten und diejenigen, die sich schon längere Zeit mit Dürer beschäftigt haben.

Frank Ufen

Thomas Schauerte: Dürer. Das ferne Genie. Eine Biographie, Reclam Verlag, Stuttgart 2012, 280 Seiten, 22,95 Euro

 

Kurze Notiz zu Halle

Als vor kurzem der Oberbürgermeister gewählt wurde, ging ein Zucken durch die Stadt. Für eine kurze heiße Wahlkampfphase schien die Stadt zur Abwechslung einmal belebt. Russland-Deutsche machten für die CDU mobil, „Wutbürger“ brachten den parteilosen Kandidaten ins Amt – und Halle versank wieder im Dornröschenschlaf.
Viel bewegt sich nicht in Sachsen-Anhalts größter Stadt. Der Markt liegt in gleißender Sonne, auf der Eichendorff-Bank draußen in Giebichenstein rastet ein älteres Pärchen – überhaupt ist die Stadt, wo nicht romantisch, so pietistisch eingestellt. Die Konsequenz: Die Schwulenbar musste schließen, die Theatrale ist seit längerem dicht, nun folgte auch das Thalia-Theater. Lieblich, aber freudlos – so könnte sich Halle beschreiben. Echte Hallenser sind nur Händel (der aber schnell auswanderte) und Ina Seidel, die Hitler besang und deshalb gern an Braunschweig abgetreten wird, ihrer zweiten Heimatstadt. Was bleibt, sind Anleihen: Goethe war hier (wo nicht?), Novalis, Eichendorff, Brentano … aber das ist lang schon her und interessiert eigentlich nur das Bildungsbürgertum aus dem Paulusviertel.
Und da wird es plötzlich aktuell: Die Stadt driftet auseinander. „Silberhöhe gibt’s nicht mehr“ hieß letztlich ein Theaterstück, das das Aussterben der Arbeiterviertel beschrieb. Die Problemviertel bleiben: Ammendorf, Rosengarten und natürlich Neustadt. Da hilft auch keine bunte Fassade an den Plattenbauten. Die Innenstadt verfällt, die engagierte Bürgerschaft siedelt im hohen Norden und im Speckgürtel. Und so franzt Halle an seinen Rändern aus und bei aller Liebe zur Stadt: Zuletzt ist sie nichts als ein weites Feld.

Thomas Zimmermann

 

Die Wüste lebt

Lange haben sich Gotteskinder und keineswegs nur Wüstensöhne den Kopf darüber zerbrochen, wie die endlosen Weiten aus Sand oder bisweilen auch Geröll im Nahen Osten mit vertretbarem Aufwand dem Menschen dienlich gemacht werden können. Nichts wächst dort, jedenfalls solange es nicht mit Wasser in Berührung kommt, was dorthin zu fördern kostspielig und nur begrenzt machbar ist. Nun aber startet ein Feldversuch, der echtes Leben in die Wüste bringen könnte – und es brauchte dafür kein Wasser, sondern bestenfalls Sprit. Nachdem schon Saudi-Arabien hierzulande 200 Kampfpanzer Leopard geordert hat, um mit ihnen Farbtupfer in´s eintönig Khaki der Wüste zu sprenkeln, folgt nun Katar dem guten Beispiel in gleicher Größenordnung. Wobei die optische und mental belebende Wirkung in diesem Falle um ein Vielfaches größer sein wird – entgehen doch die Leos auf einem viel kleineren Territorium viel eher der Gefahr, schlimmstenfalls nicht oder doch von nur wenigen Landeskindern genussvoll wahrgenommen zu werden. Ja, das ist eine Lösung, dafür zu sorgen, dass die Wüste lebt: Vier Mann Besatzung auf jedem eingegrabenen oder offen aufgestellten Panzer könnten – jedenfalls solange die politische Opposition im Lande nicht wieder zu lauthals von sich reden macht – ihre Fahrzeuge mit Blumenkästen drapieren und diese liebevoll pflegen. Eine Stafette des Friedens und der Beschaulichkeit könnte sich entwickeln, wo bislang nur Leblosigkeit obwaltet hat.
Vielleicht steckt ja genau dieser Gedanke hinter den Panzerbestellungen von der arabischen Halbinsel: Wenn die dortigen Regime einen wirklichen Feind haben, dann doch die Lebensfeindlichkeit der Wüste! Und die wird nun bekämpft, wie es sich für einen echten Kampf gehört – mit Panzern, aber eben blumengeschmückten. Und Deutschland ist dabei, dank Pergolen von Krauss-Maffei-Wegmann!

Helge Jürgs

 

Globales Herz und irische Seele

„Es sind nicht immer die Lauten stark, nur weil sie lautstark sind […]“ intonierte einst Konstantin Wecker. Ein Prototyp des Musikers der leisen Töne ist der irische Liedermacher Luka Bloom.
Seit über dreißig Jahren greift er große Themen wie vermeintliche Alltäglichkeiten in seinen Liedern auf und erweist sich als sensibler Zeitgenosse, der seine Empfindungen in poetische Worte kleiden und sie mit den passenden musikalischen Tönen ummanteln kann. Es sind gefühlvolle Lieder ohne Kitsch und falsches Pathos.
Auf seiner jüngst erschienenen CD „This New Morning“ verspürt er „poetry in motion“ beim Radfahren und beschwört das schier göttliche Schwimmen im Schweizer Fluss Aare.
Nach dem japanischen Wort „Gaman“ ist ein Lied betitelt, das die Tsunami- und Nuklearkatastrophe im Norden Japans aufgreift. Bloom zeigt sich fasziniert von diesem ethischen Charakterzug und der verinnerlichten Haltung des japanischen Volkes, das mit Geduld und Beharrlichkeit eine an sich unerträgliche Lebenslage erträgt.
Ein souveränes Volk darf nicht von der Finanzwelt gesteuert werden, sonst sind Würde und Rückgrat – „Dignity and Backbone“ – in Gefahr. Aber Luka Bloom besingt nicht nur die großen Katastrophen dieser Welt. Das Lied „You survive“ widmet er den Menschen, die einen Selbstmordversuch überlebt haben.
Und Luka Bloom ist eben auch ein irischer Landsmann, dessen Künstlername auf das Lied „Luka“ von Suzanne Vega und auf den Protagonisten Leopold Bloom aus dem Roman „Ulysses“ von James Joyce Bezug nimmt.
So greift er die Kritik seiner Nachbarn am privaten Torfabbauverbot in Irland seit April 2012 in dem Lied „Across the Breeze“ auf und beklagt den Verlust eines traditionellen Lebensgefühls, das die Iren durch das Verbrennen von Torf genossen.
Und von der irischen Leichtathletik-Legende Sonia O’Sullivan ließ er sich zu dem Lied „The Race runs me“ über die Faszination des Laufens inspirieren.
Luka Bloom hat ein globales Herz und eine irische Seele; er lässt sich als empathischer Beobachter in seinem Heimatland wie auf weltweiten Reisen zu seinen Liedern inspirieren.

Thomas Rüger

Luka Bloom: This New Morning, Skip Records 2012, 18,98 Euro

 

Nachrichtenpolitik

Das war nicht nur Spiegel-Online eine im Original erheblich längere Meldung wert: „Bei der Beisetzung des Bürgerrechtlers Oswaldo Payá haben Freunde und Mitstreiter lautstark ihren Willen zur Freiheit manifestiert. Die kubanische Polizei hat daraufhin Dutzende Oppositionelle abgeführt …“ Oh ja, was die kubanische Opposition betrifft, wird man hierzulande bestens auf dem Laufenden gehalten. Dagegen ist eigentlich auch nichts zu sagen, sieht man mal davon ab, dass über Kuba zumindest gelegentlich ganz sicher auch Positives zu berichten wäre. Aber nebbich; eigentlich machen Meldungen wie diese den leidlich aufmerksamen Nachrichten-Konsumenten umso mehr auf Defizite in vergleichbarer Hinsicht aufmerksam. Oder kann sich jemand an Meldungen erinnern, die über das Bemühen der – natürlich verbotenen – Opposition in Saudi Arabien etwa um Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit oder Frauenrechte berichtet wird, gar sympathisierend und Verständnis heischend wie in Sachen Kuba? Fehlanzeige, na klar. Das seitens der Bundesregierung so freundschaftlich gelittene Königshaus in Riad – fundamentalislamisch bis auf die Knochen – hat ja schließlich und verbindlich die „Bewegung für eine islamische Reform in Saudi Arabien“ als terroristisch eingestuft, und gegen Terroristen jedweder Couleur sind Deutschland und seine Leitmedien verlässliche Sturmgeschütze der Demokratie. Diesbezüglich passt auch zwischen Saudi Arabien und uns kein Blatt kritisches Zeitungspapier.

HWK

Kritik des Herzens

von Wilhelm Busch

Die Selbstkritik hat viel für sich.
Gesetzt den Fall, ich tadle mich,
So hab‘ ich erstens den Gewinn,
Daß ich so hübsch bescheiden bin;

Zum zweiten denken sich die Leut,
Der Mann ist lauter Redlichkeit;
Auch schnapp‘ ich drittens diesen Bissen
Vorweg den andern Kritiküssen;

Und viertens hoff‘ ich außerdem
Auf Widerspruch, der mir genehm.
So kommt es denn zuletzt heraus,
Daß ich ein ganz famoses Haus.