Literarisches Faszinosum Berlin
Die deutsch-deutsche Grenze war vor 1989 weder in der Literatur der Bundesrepublik noch in der der DDR ein Thema. Im Westen hatte man sich mit der Teilung einfach abgefunden. Eine Ausnahme bildete die Erzählung „Der Mauerspringer“ des West-Berliners Peter Schneider. Die erschien 1982 und berichtet von unglaublichen Fluchtgeschichten – in beide Richtungen. Im Honecker-Staat war die Mauer schlicht ein Tabu. Dem durfte man sich nur nähern, wenn man den unüberwindlichen Todesstreifen als „antifaschistischen Schutzwall“ schönredete. Das bedeutete auch: Literarische Berlin-Texte kamen hier wie dort ohne dieses Thema aus.
Der Fall des Eisernen Vorhangs am 9. November, den Schabowski auf einer Pressekonferenz so herrlich konfus herbeizitierte, öffnete erst im buchstäblichen, dann im übertragenen Sinne Schleusen. Das gilt auch und vor allem für die Literatur der Jahre nach 1989, die das Wende- und Einheits-Berlin als symbolischen Ort literarisch vielfältig in Szene setzten. Aus beiden Teilstädten wurde nicht nur die gesamtdeutsche, sondern auch eine echte Literaturhauptstadt. Nirgends leben so viele Schriftsteller(innen) wie hier. Charakteristisch ist auch, daß v.a. die Berliner Autor(inn)en ihre Stadt immer wieder zum Gegenstand ihres Schreibens machen.
Susanne Ledanff legt nun eine Studie vor, in der sie, nach einem theoretischen Einleitungsteil, in dem sie auch auf die Berlin-Essayistik eingeht, gut 140 Romane und Erzählungen vorstellt, die, zwischen 1989 und 2009 entstanden, die gesamtdeutsche Hauptstadt thematisieren. Das ist nicht nur quantitativ, sondern auch und zuerst qualitativ eine herausragende Leistung.
Die literarische Annäherung an das Phänomen Berlin nach 1989, so Susanne Ledanff, erfolgt aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Es gibt unter anderem den Ostberliner Wenderoman, der sich z.B. mit Namen wie Monika Maron, Brigitte Burmeister und Irina Liebmann verbindet; die modernistische Stadtmythisierung, wie sie etwa in den Dichtungen Wolfgang Hilbigs und Peter Wawerzineks zu erkennen ist; ferner die Westberliner „Neo-Erlebnisstadt“, die vor allem westlich sozialisierte Autoren wie Bodo Morshäuser und Thomas Hettche beschreiben.
Nicht alle Autoren können einer Gruppierung oder einer Tendenz zugeordnet werden wie das Beispiel Reinhard Jirgl zeigt. Dessen Berlin-Romane bilden bei Susanne Ledanff eine eigene Rubrik, die unter der Überschrift „Mythische Alptraumlandschaften“ steht. Und wo nicht mehr oder minder dickleibige Romane geschrieben wurden, da entstanden kurze Prosatexte, die in Berlin-Anthologien erschienen sind. Auch solche Sammlungen analysiert die Autorin. In einem Kapitel wird auch der kosmopolitischen Stadt Tribut gezollt, in dem die Verfasserin Berlin-Dichtungen von Schriftsteller(inn)en aus nicht-deutschsprachigen Ländern vorstellt.
Die detailreiche Studie von Susanne Ledanff zeigt, daß die nach 1989 entstandene Berlin-Literatur Legion ist. Und Berlin wird, so viel ist gewiß, ein literarisches Faszinosum bleiben, auch wenn die Stadt irgendwann einmal nicht mehr „in“ und „hip“ sein sollte. Das heißt, daß, so umfassend und detailliert die vorliegende Untersuchung auch ist, es auf diesem Gebiet, Germanisten im In- und Ausland zur Freude, künftig noch viel zu erforschen geben wird.
Susanne Ledanff: Hauptstadtphantasien. Berliner Stadtlektüren in der Gegenwartsliteratur 1989-2009. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2010, 676 Seiten, 58 Euro.
Kai Agthe
Irrtum und Wahrheit
Ich weiß nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit aufzuopfern; wenigstens sind Muth und Entschlossenheit, welche dazu gehören, keine Gaben, die wir uns selbst geben können. Aber das, weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz, oder gar nicht, zu lehren; sie klar und rund, ohne Räthsel, ohne Zurückhaltung, ohne Mißtrauen in ihre Kraft und Nützlichkeit, zu lehren: und die Gaben, welche dazu erfordert werden, stehen in unserer Gewalt. Wer die nicht erwerben, oder, wenn er sie erworben, nicht brauchen will, der macht sich um den menschlichen Verstand nur schlecht verdient, wenn er große Irrthümer uns benimmt, die volle Wahrheit aber vorenthält, und mit einem Mitteldinge von Wahrheit und Lüge uns befriedigen will. Denn je größer der Irrthum, desto kürzer und gerader der Weg zur Wahrheit: da hingegen der verfeinerte Irrthum uns von ewig von der Wahrheit entfernt halten kann, je schwerer uns einleuchtet, daß er Irrthum ist.
Gotthold Ephraim Lessing, Berengarius Turonensis, 1770
Gesinnungsknöpfe
Auf den Seiten der NPD und deren „Nationalem Warenhaus“ zu blättern, ist kulturell beglückend und nationalsprachlich ungemein bereichernd. Dank ihrer weiß ich nun, daß es in all unserer bunten Warenwelt auch einen Artikel mit dem schönen Namen „Gesinnungsknopf“ gibt. Mit selbigen können all die glatzköpfigen oder strenggescheitelt Rechtgläubigen in der Nachfolge verblichener Idole deutscher Weltbeglückung ihre Textilien schmücken, und das tun sie wohl auch gern.
Die Angebotspalette ist groß und die national allzeit andockbereiten Gesinnungssyanpsen der heimisch so Wohlgesonnenen werden gar vielfältig bedient; sie lesen die Aufnahme:
Gesinnungsknopf Dran, drauf, drüber!
Gesinnungsknopf Klagt nicht, kämpft!
Gesinnungsknopf Das Reich kommt wieder!
Gesinnungsknopf Deutschland ist größer als die BRD
Gesinnungsknopf Ehre wem Ehre gebührt
Gesinnungsknopf Mein Freund ist Deutscher
Gesinnungsknopf Reichskriegsflagge
Gesinnungsknopf Wehrmachtssoldat
…
und weitere Zierrate mehr reihen sich zu einer ästhetisch verführerischen Perlenschnur. Soetwas putzt ungemein und ist schon für 1,30 EUR inklusive 19 Prozent Märchensteuer zu haben. Wahrlich ein formidables Preis-Leistungsverhältnis, billiger kann Gesinnung kaum sein, wenn sie käuflich ist.
„Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!
…
… lud schon Kurt Tucholsky zum feinsinnigen Umgang mit Nazis ein. Zur Not kann man ja auch den einen Gesinnungsknopf küssen. Vermutlich ist er den Nazis das, was dem Pabst sein güldener Dienst-Ring ist.
Helge Jürgs
Navi zum Sumpf
Südkoreanische Urlauber sind in Australien blindlings ihrem Navigationsgerät gefolgt. Sie räumten alle Hindernisse aus dem Weg – bis ein Sumpf im Weg war. Die Touristen, waren rund 600 Kilometer im Mietwagen von Brisbane nach Rockhampton an der Ostküste unterwegs. Ihr Navi hatte sie zunächst von der Autobahn auf unbefestigte Straßen und dann auf Waldwege geführt. Warnschilder wurden ignoriert, Gitter geöffnet und Felsbrocken aus dem Weg geräumt, nur nachgedacht wurde nicht. Die Koreaner fuhren weiter, bis ihr Wagen im Cordalba-Wald im Sumpf stecken blieb…
Ich weiß nicht, woran mich diese noch frische Nachricht so anregend erinnert. Vielleicht an die Wachstumsgläubigen, die das Wohl und Wehe der weltweiten Gemeinwesen (außer Nordkorea, das muß man fairerweise sagen) unbeirrt auf Kurs halten, was immer auch geschieht? Der Sumpf, in dem diese Welt möglicherweise bald stecken bleiben wird, dürfte nicht mehr allzuweit entfernt sein. In den Feuchtgebieten seiner Ränder bewegen wir uns ja schon eine Weile.
Heidi Jülich
In seinem Sessel…
In seinem Sessel, behaglich dumm,
Sitzt schweigend das deutsche Publikum.
Braust der Sturm herüber, hinüber,
Wölkt sich der Himmel düster und trüber,
Zischen die Blitze schlängelnd hin,
Das rührt es nicht in seinem Sinn.
Doch wenn sich die Sonne hervorbeweget,
Die Lüfte säuseln, der Sturm sich leget,
Dann hebt’s sich und macht ein Geschrei,
Und schreibt ein Buch: „der Lärm sei vorbei.“
Fängt an darüber zu phantasieren,
Will dem Ding auf den Grundstoff spüren,
Glaubt, das sei doch nicht die rechte Art,
Der Himmel spaße auch ganz apart,
Müsse das All systematischer treiben,
Erst an dem Kopf, dann an den Füßen reiben,
Gebärd’t sich nun gar, wie ein Kind,
Sucht nach Dingen, die vermodert sind,
Hätt‘ indessen die Gegenwart sollen erfassen,
Und Erd‘ und Himmel laufen lassen,
Gingen ja doch ihren gewöhnlichen Gang,
Und die Welle braust ruhig den Fels entlang.
Karl Marx
Schulordnung (um 1900)
Während des Unterrichts sollen die Schüler still, ruhig, in gerader und anständiger Haltung auf ihren Plätzen sitzen, die Hände auf den Tisch legen und sich mit den Füßen ruhig auf dem Boden halten. Alles, was den Unterricht hemmt oder stört, wie Essen, Spielen, Scharren oder Stampfen mit den Füßen, Schwatzen, Lachen, eigenmächtiges Verlassen des Platzes, ist untersagt. Hat das Kind während des Unterrichts dem Lehrer etwas zu sagen oder ihn um etwas zu bitten, so gibt es, bevor es spricht, ein Zeichen mit dem Finger.
Beim Aufsagen, Lesen oder Singen sollen sie stehen, ihre Antworten sollen sie in gerader Haltung des Kopfes laut, lautrein, wohlbetont und möglichst in ganzen Sätzen geben. Beim Schreiben und Zeichnen sollen sie aufrecht sitzen, die Brust nicht an den Tisch andrücken, noch den Körper stark vorwärts biegen.
Niemals dürfen die Kinder fremdes Eigentum nehmen oder verderben. Das Quälen der Tiere, das Ausnehmen von Vogelnestern, das Einfangen von Vögeln und das Beschädigen der Bäume und anderer Gewächse ist verboten; ebenso das Tabakrauchen und die Anschaffung von Pulver, Feuerwerkskörpern, Streichzündhölzchen und anderen, leicht entzündlichen und gefährlichen Gegenständen.
Fluchen, Schimpfen, Schlagen, Werfen, Nachspringen nach Fuhrwerken, Anhängen oder unbefugtes Aufsitzen auf solche darf nicht vorkommen. Nach dem Abendgebetläuten sollen sich Schulkinder nicht mehr zwecklos auf den Straßen und öffentlichen Plätzen umhertreiben.
und Schulordnungs-Wunschtraum 2010:
Es wäre schön, wenn alle Schüler zum Unterricht kämen.
(Sofern wenigstens die unerträglichsten unter ihnen nicht erscheinen, wäre der Schule aber auch geholfen.)
Während des Unterrichts wäre es großartig, wenn die Schüler – zumindest eine größere Zahl von ihnen – diesem auch folgen würden. Sofern die „Kiddies“ lediglich Essen, Spielen, Scharren, mit den Füßen Stampfen, Schwatzen, Lachen oder eigenmächtig den Platz verlassen ist noch alles in bester Ordnung. Wirklich hilfreich wäre hingegen, wenn sie weniger telefonierten, surften, Alkohol tränken und Drogen naschten sowie es bei Rangeleien mit einfacher Körperverletzung abginge, die an Lehrern verübten eingeschlossen.
Wortmeldungen im Unterricht sind nicht mit dem ausgetreckten Mittelfinger zu avisieren.
Schuß- und Stichwaffen sind zu Unterrichtsbeginn den Lehrkräften in gepflegtem Zustand vorzuweisen.
Die Benutzung des fäkalen und sexistischen Vokabulars ist pro Unterrichtstunde und Schüler auf fünf limitiert, gegenüber Lehrern darf es maximal zweimal eingesetzt werden.
Jedes Schulgebäude ist verpflichtet, für zumindest die zehn der bei Jugendlichen beliebtesten Marken-Produkte eine Andachtsecke einzurichten.
Das Nachspringen und Aufsitzen auf Fuhrwerke von Mitschülern ist ausnahmslos nur bei Cabrios gestattet.
Mit dem Erwerb von Ablaßzetteln können sich Eltern von der Schuld erzieherischer Unterlassung freikaufen. Die so eingehenden Mittel sind zuvörderst für den Neubau der jeweiligen Schule alle fünf Jahre einzusetzen.
HWK
Boulevard
Sich intelligent zu amüsieren ist das Ziel des Boulevard-Theaters. Ein Könner des Genres war Ephraim Kishon, von dem manche sagen, der Mann der „besten Ehefrau von allen“ sei heute etwas verstaubt. Das muß er nicht sein, wenn der Staub zwischen den Zeilen herausgeklopft wird, wie jetzt in Hamburg geschehen. Kathrin Brune schuf zusammen mit ihrem Ensemble eine amüsante, mit Zitaten und Anspielungen gespickte Fassung der 1973 entstandenen Satire „Es war die Lerche“. Was wäre, wenn zwei so leidenschaftlich Liebende wie Romeo und Julia miteinander alt geworden wären? Wir sehen ein durchaus heutiges Ehepaar in mittleren Jahren, das die Romeo-und-Julia-Vergangenheit mit sich herumschleppt und noch dazu mit einem pubertierend-dümmlichen Töchterchen geschlagen ist. Die Liebe konnte nicht frisch bleiben, und Kishon nimmt so manches Ehe-Klischee aufs Korn. Sehenswert, wie die Hauptdarsteller Marlies Ludwig (als Julia, deren Amme und Tochter Lucretia) und Ulrich Lenk (als Romeo und Pater Lorenzo) all ihre komödiantischen Mittel spielen lassen. Dazu greift Peter Clös als Shakespeare höchst persönlich mehrfach in die ihm gar nicht passende Handlung ein. Das Publikum in dem kleinen Hamburger Theater N.N. (dessen Muse übrigens die einstige Leipziger Grande Dame Ingeborg Ottmann ist) amüsierte sich königlich. (Noch bis 5.6.)
Völlig aus dem Häuschen war auch das Kurfürstendamm-Publikum in der Komödie, wo Regisseur Folke Braband nach Serien in Frankfurt am Main und München nun seine Inszenierung „Ladies Night“ (vor Jahren schon in der Tribüne ein Erfolg, wie auch die britische Verfilmung „Ganz oder gar nicht“) vorstellte. Die neuseeländischen Autoren Stephen Sinclair und Anthony McCarten erzählen von Freunden im Arbeitslosenmilieu, die von dem Erfolg einer Männer-Stripshow hören, und nun ihr Geld auf gleiche Weise verdienen wollen. Das ganze bezieht seinen Witz vor allem daraus, daß sie alle nicht gerade über die Idealfigur verfügen und sich außer bei ein paar Disco-Tänzen nie rhythmisch bewegt haben. Selbstverständlich kommt aber am Schluß doch noch eine erfolgreiche Nackt-Nummer zustande. Die Regie vermeidet Zoten nicht ganz, setzt auf Komik und Tempo und läßt dabei doch den eigentlich tragischen Hintergrund der Geschichte vergessen. Da sind nur ein paar ungeschickte Jungs, die eine ungewöhnliche Idee verfolgen, um von ihren Schulden loszukommen. Einzig Pascal Breuer darf in der Rolle des Craig in ein paar Momenten zeigen, daß er ein Charakterdarsteller ist und die Tragik des geschiedenen und verschuldeten Vaters zeigen. Der Premierenjubel läßt jedenfalls vermuten, daß die Komödie bis 13.6. ein volles Haus haben wird!
F.-B. Habel
Tag der Herren
Am Vormittag ist noch alles ruhig. Grillgeruch liegt in der Luft, die Stadtrundfahrten zu den Wirkungsorten der Klassiker starten pünktlich.
Jetzt schallt Gegröle herauf, nichts zu sehen, aber zu hören: „Das kann doch nicht sein!” Eine rauhe Stimme erregt sich. Vorstellbar was passiert ist. Eine Männerfreundschaft ging für die Dauer des Deliriums zu Bruch oder ein kleiner Generationskonflikt hatte sich zugetragen – eigentlich alltägliche Dramen, heute ganz groß und potenziert: Herrentag.
Im Laden duellieren sich bereits zwei unterschiedliche Jahrgänge: „Habt ihr schon Kinder? Nein? Dann habt ihr auch nicht das Recht zu feiern!”
Zu fragen wäre, ob sie in diesem Alter bereits Kinder hatten. Wahrscheinlich nicht. Und hatten die beiden damals an diesem Tag stillgehalten? Bestimmt nicht. Jeder lügt sich seine Vergangenheit so zu recht, daß er in der Gegenwart einen rechtskräftigen Heiligenschein ausgestellt bekommt.
Der Verkäufer hechelt derweil ein befreites Lachen über die Theke und kassiert die beiden Jungmänner ungerührt ab. Im Hintergrund schwimmt der Inhalt einer zerbrochenen Bierflasche durch den Raum und gibt dem Tag seinen angestammten Geruch.
An anderer Stelle laufen noch mehr Jungmänner umher, suchen Adrenalinanregung, finden keine. Drei stehen an einer Hauswand, schauen wer da kommt. Einer stürmt los, zwischen den Autos auf die unbefahrene Straße fliehen, der will nicht spielen, seine Freunde machen ihm das im Würgegriff deutlich – Sozialkontrolle der rauen Art.
Aber der Urschrei muß sein: „Zigeuner seid ihr, Zigeuner!” Seine Ahnen hätten Jude gesagt, doch ist das nicht fein. Sinti und Roma sind als Opfergruppe noch nicht ganz durchgedrungen, also ein Wechsel der Metapher.
Am Gartenzaun stehen gestandene Männer, ihr Tag, mal schauen was da so kommt, nichts, einer, ein routinierter Spruch: „Schau dir den mal an!” Genug Aufregung für heute.
Am nächsten Tag ein entspannt erinnerndes Lächeln am Frühstückstisch, langer Abend, Montag geht’s wieder los.
Herrentag, trinken, sich messen, Herr sein, erst morgen wieder Mann.
Dieser Tag hat trotz alledem eine wichtige Funktion, dem Fußball ähnelnd, ohne ihn gäbe es Tote an deutschen Arbeitsplätzen – Tag für Tag.
Einmal Herr sein: Herrentag.
Paul
Biblisches
Das Buch der Bücher ist wahrlich mit unerschöpflichem Erkenntnisreichtum gesegnet. Worunter auch die eine oder andere Überraschung ist. Oder hätten Sie, verehrte Blättchen-Leser gewußt, daß der Chef der Deutschen Bank in zumindest einer der biblisch versammelten Schriften mit freundlicher Würdigung bedacht wird? Bei Jakobus 5, 7-8 läßt es sich nachlesen: „Seid beharrlich, Brüder, bis zur Ankunft des Herrn! Seht, der Ackermann wartet auf die kostbare Frucht der Erde, und er wartet geduldig darauf, bis sie den Früh- und Spätregen empfängt. Seid so auch ihr beharrlich, und erstarkt in euren Herzen, denn die Ankunft des Herrn hat sich genaht.“ Der Exegese bleibt nun die Deutung vorbehalten, daß es sich um warme Regen gehandelt haben muß, von denen hier die Rede ist, und daß es sich dabei auch keineswegs um Wassertropfen handelt. Auf solchen würde der Ackermann wohl kaum warten. Unter solcherart Regen ließe er die Steuerzahler stehen.
HWK
Hauptstadt-Knigge
Kreatives Klima, billige Wohnungen, keine Schickeria, funktionierender Nahverkehr… – Berlin wird, wie man immer wieder liest, von Zugezogenen in hohen Tönen gepriesen. Solches Lob ist verständlich, denn würde ihnen die Stadt nicht passen, wären sie wohl schon weitergezogen. Für den Einheimischen stellt sich die Sache anders dar: Er hat über Jahrzehnte die Widrigkeiten des Alltags zu ertragen und neigt daher zu einem ständigen Räsonieren, das oft als bloße Meckerei mißverstanden wird. Zu bemängeln gibt es allein schon im ÖPNV dieser Stadt mehr als genug – nicht bloß die jüngsten Zumutungen im S-Bahn-Verkehr, sondern auch die speziell zwischen den Bahnhöfen Zoo und Friedrichstraße ständig präsenten Bettelmusikanten, den Dönerverzehr in S- und Straßenbahnen oder auch nur die Unsitte, sich in solchen Bahnen bei leeren Dreiersitzen partout in die Mitte zu setzen. Vor allem die ersten beiden Übelstände sind in den Medien bekanntlich mehr als einmal beklagt worden.
Sensibleren Großstadtmenschen stößt allerdings noch manch anderes auf. So trifft man immer wieder Leute, die ganz ungeniert mit einer Lidl-Tüte bei Aldi an der Kasse stehen oder gar mit einem KaDeWe-Beutel durch den Penny-Markt schlendern. Ein Ärgernis sind ihnen auch die Radlerinnen – sonderbarerweise sind es nach meiner Erfahrung immer Frauen –, die beim Fahren lauthals tirilieren und damit ihrer Mitwelt auf die Nerven gehen. Oder die Fahrgäste in Bussen und Bahnen, die auf den Haltewunsch-Knopf drücken, obwohl den doch längst schon jemand gedrückt hat. Schließlich die Zeitungsquäler, Menschen, die ihre gelesene Zeitung in jämmerlichem Zustand der Öffentlichkeit überlassen: die Vorderseiten nach hinten geschlagen und obendrein alles schief gefaltet. So ein Blatt wieder in den ursprünglichen, gleichsam jungfräulichen Zustand zurückzuversetzen erweist als beinahe unmöglich.
Mit mahnenden Worten ist solchem Treiben leider kein Einhalt zu gebieten, im Gegenteil: Man bekommt, ich habe es im Falle der Dönerfreunde mehr als einmal erfahren, freche Antworten und wird als Blödmann hingestellt. Erzieherische Maßnahmen müssen also her. Gegen die erwähnten Fremdbeutler sollten zum Beispiel Hausverbote ausgesprochen werden, bis hin zu lebenlänglicher totaler Kaufhallensperre. Die Betreffenden müssen dann eben zur Tankstelle gehen. Fahrradsängerinnen wird polizeilich eine Sensibilisierungstherapie verordnet: Beschallung mit Gesang bis zum Erbrechen. Geeignet sind dafür etwa Lieder im Herbert-Roth-Sound wie „Ich bin als froher Wandersmann willkommen in Berlin, doch fang‘ ich mal zu jodeln an, muß ich gleich weiterzieh’n …“, nur echt mit Zitherbegleitung, oder, noch schlimmer, Berliner Musike: “Uns’re Jungs sind helle, uit, uit / flotte Pfiffe – E. W./, uns’re Jungs sind keß, uit, uit, uns’re Jungs sind auf dem Kien in Berlin, in Berlin, in Berlin.“ Zwei bis drei Therapiestunden dürften reichen. Gegen die Nachdrücker in Bussen und Bahnen könnte eine sinnreiche Vorrichtung helfen, die sämtliche Drück-Knöpfe, sobald einmal gedrückt wurde, unter Strom setzt. Man sieht, ich neige zu rigorosen Erziehungsmethoden. Aber wir mußten ja früher von der Sowjetunion lernen, und die sowjetischen Lehrer, so hieß es in der Schule, waren streng, aber gerecht. Gegen die Zeitungsquäler ist mir leider nichts Passendes eingefallen, man kann sie wohl bloß verfluchen.
Es gibt in Berlin aber nicht nur vieles, was es besser nicht gäbe, es fehlt auch manches. Man geht zum Beispiel spazieren und gerät, gar zu leicht kann es geschehen, in eine häßliche, baum- und ladenlose Straße. Man biegt um die Ecke: Noch häßlicher. Es müßte Stadtpläne geben, die – etwa durch einen Grauschleier – solche Gegenden markieren. Noch ein Beispiel: Vor allem in Stadtmagazinen liest man oft und viel über eben eröffnete Restaurants. Aber weshalb schweigt man von denen, die schließen? Ein nettes Wort zum Abschied, ein Bedauern angesichts aufgehäufter Schulden könnten doch nicht schaden. Kurz und gut: Berlin muß endlich einmal liebenswürdig werden. Aber vielleicht will diese Stadt, wie Karl Scheffler vor genau einhundert Jahren in Berlin – ein Stadtschicksal einmal mutmaßte, von ihren Bewohnern gar nicht geliebt werden? Dann müssen wir ihr Beine machen, bis sie sich unsere Liebe wünscht.
Erhard Weinholz
Wirsing
Der 1. Mai in Berlin stand wieder im Zeichen von Auseinandersetzungen, die auf der Straße ausgetragen wurden. Dabei scheint sich das Verhältnis von Rechtsstaat und Autonomen inzwischen umzukehren, wenn man dem kommerziellen Nachrichtensender N24 glauben darf. Dort hieß es: „Einige Störer nahmen die Beamten fest.“ Und dann brachten sie die Beamten nicht etwa in den Gewahrsam, sondern in ein alternatives Wohnprojekt, wo sie sich über die Lebensweise des Prekariats informieren konnten.
Fabian Ärmel
O-Töne
Wenn ein Haus einmal brennt, und die Gefahr besteht, dass umliegende Häuser auch beschädigt werden, dann lohnt es sich nicht, eine lange Debatte über die Konstruktionsfehler des Hauses zu führen, sondern man muss das Haus löschen.
Josef Ackermann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, zur Griechenland-Hilfe
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Warum sich die Feuerwehr wochenlang am Kopf kratzt, anstatt die Pumpen zu bedienen, verstehe ich nicht.
Joschka Fischer, Ex-Außenminister, über die Rolle Deutschlands in der Griechenland-Krise
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Selbst die Nachrichten, die nicht in der Zeitung stehen, sind erlogen.
Kurt Tucholsky
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Solange Angela Merkel Leute wie Seehofer oder Westerwelle an der Backe hat, wäre „Pest an den Hals wünschen“ nur ein kosmetisches Wellnessangebot.
Urban Priol
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Ich habe Weltgeschichte nie anders ansehen können denn als einen großen, fortdauernden Kampf, den eine vernünftige Minorität gegen die Majorität der Dummen führt.
Lion Feuchtwanger
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Zwischen dem, was einer theoretisch vertritt, und dem, was er tatsächlich tut, gibt es oft bemerkenswerte Unterschiede. Ich habe in den vergangenen Wochen entdeckt, dass ein Bischof namens Mixa in gewisser Weise das moderne Gegenstück zum Marquis de Sade darstellt. De Sade predigte Grausamkeit und war in Wirklichkeit barmherzig, jener Marquis de Mixa predigte Barmherzigkeit und verteilte in Wirklichkeit Watschen.
Harald Martenstein
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Wer auf der falschen Spur ist, wer als Geisterfahrer noch Vollgas gibt, der provoziert den nächsten Crash.
Berthold Huber, Vorsitzender der IG Metall, zur fehlenden Regulierung der Finanzmärkte
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Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.
André Gide
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Wenn die Preise uns vorgaukeln, die Natur sei unendlich, rennen der technische Fortschritt und die Zivilisation in den Abgrund.
Ernst Ulrich von Weizsäcker, Umweltforscher, zu Energiepreisen als Steuerungselement
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Die Journalisten und ihre Behandlung gehören nicht dazu.
Helmut Schmidt, Alt-Bundeskanzler, in Abrundung eines Geständnisses, er habe viele Menschen schlecht behandelt und es gebe vielleicht einiges in seinem Leben, was er bereuen sollte
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Wenn ein Philosoph einem antwortet, versteht man überhaupt nicht mehr, was man ihn gefragt hat.
André Gide
Zusammengestellt von Hans-Peter Götz
Schlagwörter: Berlin, Ephraim Kishon, Erhard Weinholz, F.-B. Habel, Fabian Ärmel, Gotthold Ephraim Lessing, Heidi Jülich, Helge Jürgs, Herrentag, Himmelfahrt, HWK, Kai Agthe, Karl Marx, Kurt Tucholsky, NPD, Paul, Schule, Susanne Ledanff