17. Jahrgang | Nummer 23 | 10. November 2014

Bemerkungen

Küchenmädchen

Vor zwei Jahren ist sie gestorben, aber Käthe Reichel bleibt unvergessen. Die Schauspielerin, die eine authentische Brecht-Interpretin war und viele Filme – meist in Nebenrollen – bereicherte, wird jetzt noch einmal lebendig. Das Ehepaar Petra Kelling und Richard Engel – sie Schauspielerin, er Regisseur – hat Käthe Reichel in ihren letzten 13 Lebensjahren mit der Kamera begleitet und gemeinsam mit Christine Boyde einen über dreistündigen Film gestaltet, der kürzlich im Berliner Kino Babylon uraufgeführt wurde. Vielleicht, weil Käthe Reichel, die aus proletarischem Berliner Milieu stammte, gern Küchenlieder sang, heißt der Film „Aus den Träumen eines Küchenmädchens“.
Die Kamera begleitet die Schauspielerin, als sie noch einmal die Hinterhöfe ihrer Kindheit besucht. Reichel erzählt von ihrer Mutter, nicht vom Vater. Sparsam berichtet Petra Kelling aus dem Off von Käthe Reichels Schicksal. Dass sie ihren jüdischen Vater in einem KZ verlor, blieb für sie ein lebenslanges Trauma. Die Arbeit mit Brecht, ihre tiefe Verbundenheit sind ein anderes Hauptthema ihres Lebens. Hier wurzelt ihr energisches Engagement gegen Ungerechtigkeiten, ihr Einsatz für streikende Arbeiter im vereinigten Deutschland, für Soldatenmütter im ehemaligen Jugoslawien, für vietnamesische Dörfer, in denen noch heute nach verborgenen Minen gesucht wird. Aber auch ihre Niederlagen sind darauf zurückzuführen, ihre Verständnislosigkeit gegenüber guten Freunden, die Härte gegenüber dem Sohn, der daran zerbrach, ihre Unduldsamkeit in politischen Fragen.
Die Filmemacher haben mit und über Käthe Reichel trotz der Länge einen spannenden Film geschaffen, eben weil er sich Zeit nimmt und die Brüche im Leben einer erstaunlich produktiven Künstlerin zeigt. Bühnen- und Filmpartner, Freunde erzählen von Begegnungen mit ihr und manchmal auch davon, warum eine Freundschaft nicht fortgesetzt werden konnte. Käthe Reichel war eigenwillig, und gerade darum faszinierend. – Es ist zu hoffen, dass sich ein Verleih für diesen sperrigen Film findet, dass ein Sender ihn ins Programm nimmt. Das würde ein ganz besonderer Abend!

F.-B. Habel

Die Müll-Ecke

Die Pressefreiheit ist ein hohes Gut. Die Berliner Staatsanwaltschaft stellte jetzt das Ermittlungsverfahren gegen einen Reporter der Berliner Morgenpost ein, der sich bei Recherchen der Dienste eines LKA-Beamten für ein Honorar von 3.000 Euro versicherte. Die Genugtuungsbekundungen der deutschen Mainstream-Medien können wir nachvollziehen. Vollkommen unverständlich ist uns allerdings, weshalb niemand nach der Höhe des Grades der moralischen Verkommenheit der deutschen Beamtenschaft fragt. Oder hat der Kriminalbeamte dienstrechtlich korrekt gehandelt und die Erlaubnis seines Dienstherren für die Annahme einer „Nebenbeschäftigung“ eingeholt? Wir sind nicht für Entlassungen, aber in diesem Falle gehörte der Berliner Polizeipräsident gefeuert. Fristlos.

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Christian Schuchardt (CDU) ist Oberbürgermeister von Würzburg/Unterfranken. Damit ist er der einzige CDU-OB im bayerischen Franken. Die Süddeutsche Zeitung zitiert ihn mit seiner erklärten Absicht, für Flüchtlinge „Unterkünfte zu schaffen, die auch eine gewisse Qualität haben“. Eine „gewisse Qualität“ ist ein dehnbarer Begriff: Würzburg will bis zu 100 Menschen in die ehemalige Aula eines Technikums pferchen. Das Technikumsgelände liegt übrigens am Heuchelberg. Passt. Rein zufällig handelt es sich um ein „soziales Brennpunktgebiet“. Den Nobelgegenden kann man das Elend schließlich nicht zumuten.

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Auch Matthias Strejc (SPD) ist Bürgermeister. Nicht „Ober“, aber dafür im schönen Städtchen Bad Frankenhausen, das neben Thomas Müntzer und einer Menge Probleme auch noch den wahrscheinlich schiefsten Turm der Welt hat. Das Zuckerguss-Bauwerk in Pisa ist neben dem Turm der Frankenhäuser Oberkirche einfach eine Lachnummer. Nicht mehr lange und er kippt um. Die Ostthüringische Zeitung meldete jetzt: „Durch die bisherigen Stabilisierungsmaßnahmen neigt sich der Turm jährlich zwei Zentimeter. Das wird elektronisch kontrolliert.“ Aber es besteht Hoffnung. Bürgermeister Strejc will bis zum 31. Dezember irgendwie eine Finanzierung weiterer Stabilisierungsmaßnahmen hinkriegen. Warum eigentlich? Fallen die Stabilisierungsmaßnahmen weg, dann dürfte doch laut OTZ die zunehmende Neigung aufhören – und der Turm kippt nicht. Nur die Bauverwaltung des Kyffhäuserkreises ist uneinsichtig. Die will ab 1. Januar dieses Weltwunder des thüringischen Karstes auf acht Meter stutzen.

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Am 9. November vor 25 Jahren öffnete sich zwar (noch) nicht die Mauer, aber der Grenzübergang Bornholmer Straße in Berlin – und dann die anderen. Dann fiel sie, die Mauer, fast restlos. Am 9. November 2014 haben wir nun zum x-ten Male erfahren, wem der Ruhm der wahren Öffner gebührt. Nur einer will es nicht gewesen sein: Der „Baywatch“-Bademeister David Haselhoff. Dabei hatte er 1989 ganz tapfer „Looking for Freedom“ an der Mauer gesungen – und plötzlich war sie weg. Nun hat Haselhoff gesagt, er war’s nicht: „Die Leute kamen zu mir und bedankten sich für den Mauerfall, und ich dachte, sie machten Witze“, teilte er der staunenden Welt mit. Schade. Das wäre doch fast so wie seinerzeit vor Jericho gewesen, als ein gewisser Joshua mittels Musik die Mauern zum Einsturz brachte. So werden wir wohl weiterhin mit dem Abriss-Team Helmut Kohl/Joachim Gauck vorlieb nehmen müssen. Wobei die auch für wundersame Werke stehen: Der eine weilte seinerzeit in Warschau, der andere in Rostock. Und dennoch öffneten sich in Berlin die Schlagbäume…

Günter Hayn

Bei Fontane gefunden

Sich selbst angehören ist der größte erstrebenswerte Lebensluxus.

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Jedem Besiegten wird es schwer, den Grund seiner Niederlage an der einzig richtigen Stelle, nämlich in sich selbst zu suchen.

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Unsere Prinzipien dauern gerade so lange, bis sie mit unseren Leidenschaften oder Eitelkeiten in Konflikt kommen, und ziehen dann jedesmal den Kürzeren.

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Das waren noch gute Zeiten, als ich noch alles glaubte, was ich hörte.

Theodor Fontane (1819 – 1898)

„Star & Stripes“

Bereits den ersten drei Berliner Louis Lewandowski Festivals mit ihren Konzerten synagogaler Chöre aus jeweils vieler Herren Länder waren beim Publikum außerordentliche Erfolge beschieden. Das erste hatte sich 2011 dem großen Berliner jüdischen Komponisten synagogaler wie weltlicher Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Louis Lewandowski, gewidmet. Im Folgejahr standen seine wichtigsten Komponisten-Zeitgenossen im Fokus. 2013 schließlich wandte sich das Festival der nachfolgenden Komponisten-Generation zu, die sich wegen des Antisemitismus im Vorfeld des Nazi-Herrschaft und wegen der auch physischen Lebensbedrohung, die mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten einsetzte, zur Emigration gezwungen sah.
Dieses Mal nun, vom 19. bis 21. Dezember, wird sich das Chortreffen mit jüdischen deutschen Komponisten beschäftigen, die in die Vereinigten Staaten ins Exil gingen. „Deren Zahl, das wurde uns bei den Vorbereitungen zum letztjährigen Festival bewusst, war so groß“, erläutert Festivaldirektor Nils Busch-Petersen gegenüber dem Blättchen, „dass wir uns entschieden, ihnen ein eigenes Treffen unter dem Motto ‚Star & Stripes‘ zu widmen.“ Im Reigen der prominenten Namen der USA-Auswanderer finden sich Hugo Chaim Adler (1894-1955), Herman Berlinski (1910-2001), Herbert Fromm (1905-1995), Arnold Schönberg (1874-1951) und auch Kurt Weill (1900-1950). Von ihnen und anderen werden Werke beim Festival zur Aufführung kommen.
Einige dieser Komponisten blieben auch in der neuen Heimat dem Vermächtnis Louis Lewandowskis verbunden und folgten ihm in seinem Chormusikstil – andere wiederum suchten neue Ausdrucksformen und passten ihre Kompositionen teilweise dem Geschmack des amerikanischen Publikums an. Beim diesjährigen Festival werden beide Richtungen vertreten sein.
Mit besonderen Erwartungen sieht Nils Busch-Petersen nicht zuletzt der Begegnung mit dem über 80-jährigen Sohn von Hugo Chaim Adler, Samuel Adler, entgegen: „Seine Teilnahme ist eine große Ehre für uns. Zwischen den Konzerten, das gehört von Anbeginn an zu unserem Festival dazu, werden für die Chöre musiktheoretische und musikhistorische Lectures veranstaltet. Eine davon wird dieses Mal Samuel Adler halten, und er wird auch einen Teil der Dirigate des Abschlusskonzertes am 21. Dezember in der Synagoge in der Rykestraße übernehmen.“
Präsentiert werde spätestens zum Festival, so ergänzt Busch-Petersen, auch eine neue CD des Synagogal Ensemble Berlin. Regina Yantian, die diesem Ensemble vorstehe, gehöre nicht nur zu den Mitbegründern des Festivals, sondern sei auch dessen Künstlerische Leiterin. „Der Chor absolvierte im Frühjahr eine sehr erfolgreiche Tournee mit vier Konzerten durch Israel. Das Programm sollte im Sommer im Studio hier in Berlin eingespielt werden. Bevor es jedoch soweit war, erhielten wir Post aus Israel, von der Hebron University. Die hatte den Auftritt in Jerusalem mitgeschnitten, und die Qualität dieser Live-Aufzeichnung ist so gut, dass wir die CD damit gestaltet haben.“
Erwartet werden zum Festival 2014 sieben Chöre aus sechs Ländern – Israel, Frankreich, Großbritannien, Italien, den USA und Deutschland. Und übrigens: Das fehlende „s“ im Motto des Festivals, „Star & Stripes“ ist natürlich kein Orthographiefehler, sondern bewusste Auslassung: „Star“ meint in diesem Fall den Davidstern, den das Festival in seinem Logo führt.

Clemens Fischer

Weitere Informationen und Karten im Internet.

„Bilderträume“

Mit der Berlin zur Schenkung in Aussicht gestellten Surrealisten-Sammlung von Ulla und Heiner Pietsch tun sich die Zuständigen des Senats seit Jahren schwer, und das ist eine Schande. Nicht weil der Marktwert des Konvoluts bei 150 Millionen Euro liegen soll – hier geht es schließlich nicht um eine Wertanlage. Sondern weil der Öffentlichkeit damit ein Reigen von Werken vorenthalten wird, der von Dalí über Picasso und Magritte bis Max Ernst reicht und bei Miró, Delvaux sowie Frida Kahlo noch längst nicht endet. Eine kleine Auswahl von lediglich 20 Gemälden ist jetzt in einer „Bilderträume“ betitelten Sonderausstellung der Neuen Nationalgalerie am Berliner Kulturforum zu besichtigen. Aber nur noch bis zum 31. Dezember, denn dann schließt das Haus für wenigstens fünf Jahre zwecks Generalsanierung.
Apropos Ausstellung: Der Begriff bringt des Pudels Kern, die mögliche Schenkung betreffend, auf den Punkt. Das Sammlerehepaar hat zur mehr als verständlichen Bedingung gemacht, dass die Gemälde – und die Gefahr ist evident angesichts der räumlichen Bedingungen der Neuen Nationalgalerie, die bereits für die schon bestehende große Sammlung an Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts völlig unzureichend sind, – nicht komplett im Depot verstauben, sondern dass mindestens ein Teil davon ständig gezeigt wird. Dafür wäre ein angemessener Platz zu schaffen, und dafür fehlt angeblich das Geld. Nun ist Berlin zwar hoch verschuldet und versenkt trotzdem mit einer aberwitzigen Mischung aus Inkompetenz, Verantwortungslosigkeit und Idiotie immer neue Unsummen in Schönefeld, aber Sammlungen wie der Pietschens bekommt man halt nicht alle Tage angeboten. Dafür kann man in der allgemeinen Haushaltsdisziplin schon mal ein Päuschen einlegen und, wenn’s tatsächlich gar nicht anders geht, einen Kredit aufnehmen. Die dafür anfallenden Zinsen jedenfalls wären so niedrig wie nie.
Doch zurück zu den „Bilderträumen“. Die waren für den Rezensenten nicht zuletzt deswegen ein besonders beeindruckender Sehgenuss, weil er eines seiner Lieblingsgemälde, das er in seinem Arbeitszimmer täglich vor Augen hat, endlich im Original bewundern konnte: „Voltage“ von Dorothea Tanning, der vierten und letzten Gattin von Max Ernst. Wenigstens ebenso beeindruckte ihn allerdings „Jeune homme intrigué par le vol d`une mouche non-euclidienne“ („Junger Mann, beunruhigt durch den Flug einer nicht-euklidischen Fliege“) von Max Ernst selbst.
Der Eintrittspreis von 12 Euro berechtigt zugleich zum Besuch der benachbarten Exposition „Ausweitung der Kampfzone. 1968 – 2000“, die man sich keinesfalls entgehen lassen sollte. Nach den Ausstellungen „Moderne Zeiten“ (1900 – 1945) und „Der geteilte Himmel“ (1945 – 1968) zeigt die Nationalgalerie hier einen weiteren Teil ihrer grandiosen Sammlung an Kunst des 20. Jahrhunderts. Mit dabei der Komplettentwurf Werner Tübkes für sein epochales Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen. Im Übrigen nehme man sich einen Museumsstuhl auf diese Begehung mit, denn das gleich zu Beginn gehängte „Seestück“ von Gerhard Richter in seiner bewegten grau-blauen Ödnis lädt nicht bloß dazu ein, sich bei seinem Anblick in meditierende Versenkung zu versetzen, nein, es provoziert nachgerade dazu.

Thaddäus Faber

Beide Ausstellungen noch bis zum 31.12.2014; Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin, Dienstag – Freitag 10 – 18 Uhr, Samstag/Sonntag 11 – 18 Uhr, Donnerstag bis 20 Uhr.

Blätter aktuell

Die Menschen geben ihre Souveränität zunehmend an Maschinen ab, Computer verwandeln sich dadurch immer mehr zu religiösen Objekten – die totale Überwachung wird bei all dem in Kauf genommen. Jaron Lanier, Pionier und Kritiker der digitalen Revolution, plädiert in seiner großen Dankesrede zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels für einen neuen Humanismus. Es gelte, den Glauben an die menschliche Besonderheit zu verteidigen – gegen alle totalitären Tendenzen im Zeitalter des Internets.
Ob in der Ukraine, in Gaza oder durch den Islamischen Staat: Der Krieg ist in diesem Jahr mit aller Brutalität zurückgekehrt. Die Publizistin Daniela Dahn warnt angesichts der barbarischen Taten jedoch vor westlicher Selbstvergessenheit und erinnert an das Kantsche Postulat „Der Frieden muss gestiftet werden“. Vor diesem Hintergrund analysiert sie das Versagen des Westens im Kosovokonflikt vor 15 Jahren, als ganz gezielte Lügen eingesetzt wurden, um einen Angriffskrieg ohne UN-Mandat zu rechtfertigen.
Ein neuer Stern ist aufgegangen am schwarz-roten Firmament der Rentenpolitik: der Flexi-Rentner. Der rentenarme Alte soll den nichtakademischen Fachkräftemangel kompensieren. Blätter-Mitherausgeber Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, nimmt das neue Projekt der Großen Koalition unter die Lupe: Kann es der Not am Arbeitsmarkt tatsächlich Abhilfe schaffen oder handelt es sich dabei schlicht um eine staatliche Sparmaßnahme in pseudosozialem Gewand?
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Warum sich Hunderttausende am Holocaust beteiligten“, „Vom ‚Unrechtsstaat‘ und der Tragödie des Parteikommunismus“, „Literatur und Kritik 25 Jahre nach dem Mauerfall“ sowie „Crash 2.0: Europa vor der nächsten Krise“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, November 2014, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Musik über den allzu kurzen Sommer auf Island

Welche Assoziationen werden in mitteleuropäischen Köpfen geweckt, wenn sie mit dem nordeuropäischen Inselstaat Island konfrontiert werden? Der Fast-Bankrott des Staates im Gefolge der Banken-Krise? Die raue Natur mit sehenswerten Schauspielen (Geysire …) oder mit für den Luftverkehr fatalen Folgen (Vulkanasche)?
Sportlich Interessierte können in die Waagschale werfen, dass die in der Mittelmäßigkeit abgestürzte deutsche Handball-Nationalmannschaft neuerdings von einem Isländer trainiert wird; währenddessen konnte die isländische Fußballelf – im Gegensatz zum Team von Joachim Löw – erfolgreich in die Qualifikation zur Fußball-Europameisterschaft 2016 starten.
Ein Schwenk zur isländischen Musikszene dürfte allerdings ahnungsloses Stirnrunzeln hervorrufen. Sicher, Björk kann als internationale Popgröße bezeichnet werden – aber wie sieht es mit aktuellen Künstlern aus?
Das Label „Beste! Unterhaltung“ ist auf seiner musikalischen Schatzsuche in Nordeuropa erneut fündig geworden. Ylja ist eine bereits 2008 von den beiden Gitarristinnen und Sängerinnen Gigja Skjalardóttir und Bjartey Sveinsdóttir gegründete Akustik-Folkpop-Band. Ihre erste CD veröffentlichten sie dann 2012 – und dieses Debütalbum erscheint nun, mit zweijähriger Verspätung, in Deutschland. Ylja erfinden den gitarrenorientierten Folkpop nicht neu. Aber die Lieder sind durchaus eine Bereicherung für Freunde akustischer Musik. Die elfenhaften Töne sind professionell aufgenommen und erinnern an manche irische Volksweisen.
Die isländische Sprache – die Band singt rein auf Isländisch – offenbart einen zusätzlichen Reiz, wenngleich das Textverständnis dadurch natürlich erschwert wird. Im Lied „Saevindur Hafsson“ geht es um einen Fischer und dessen dramatische Erlebnisse auf See und in „Á Rauðum“ über den gar allzu kurzen Sommer auf Island.„Oður til móður“ ist eine Ode an die Mütter der beiden Sängerinnen.
Mit personeller Verstärkung und Veränderung (eine Bassistin und Drummer kamen hinzu, der Gitarrist wurde ersetzt) arbeiten Ylja daran, bis zum Jahresende 2014 das zweite Album aufzunehmen. Es bleibt abzuwarten, ob die Atlantikinsel künftig mit dieser Folkpop-Band assoziiert wird.

Thomas Rüger

Ylja: Ylja CD 2014, Label: „Beste! Unterhaltung“, circa 16 Euro.

Simon & Jan

Die informationelle Erst- und Grundversorgung bezüglich der Oldenburger Kabarett-Combo Simon & Jan in diesem Magazin ist bereits erfolgt – in den „Bemerkungen“ der Ausgabe Nummer 18/2014.
In der Berliner ufa-Fabrik waren sie gerade live zu besichtigen mit ihrem zweiten abendfüllenden Programm „Ach Mensch“. Da hatten sie in diesem Jahr schon ein paar Dinge hinter sich – zum Beispiel die Trophäe „Frühreif & Verdorben“ (Jurypreis) abgeräumt beim legendären Satire- und Kleinkunstpreis Prix Pantheon. Der Bonner General-Anzeiger hatte angemerkt: „Junge Leute von heute sind unpolitisch? Nicht Simon & Jan […].“ Die aktuelle Tournee läuft auch schon ein paar Tage, und Stimmen aus dem medialen Begleitrauschen klingen ungefähr so: „eine liebevoll misanthropische Revue über das einzige Lebewesen, das wirklich eine Wahl hat, sich dann aber doch immer wieder zielgerichtet für das Falsche entscheidet“ (Comedia, Köln); „gnadenloser Auf- und Abgesang auf die Krone der Schöpfung“ (Kulturfenster e. V., Heidelberg); „sprachliche Präzision und hohe Musikalität“ (Bayern 2) und „Potpourri aus kabarettistischen Texten und Liedern“ (Frankfurter Neue Presse).
Da in der ufa-Fabrik niemand während der Vorstellung den Saal verließ und nach der Pause auch kein Zuschauerschwund verzeichnet werden musste, waren offenbar die Zartbesaiteten von vorn herein zu Hause geblieben. Denn Simon & Jan vermögen zwar so anrührend zu musizieren und zu singen, dass sie bereits mit Simon & Garfunkel verglichen worden sind, aber es hat sich mittlerweile auch herumgesprochen, dass sie zum Teil Texte drauf haben, die für empfindsame Seelen, nu ja, gewisse Hürden darstellen können – zum Beispiel:

Was ist das für ne schöne neue Welt hier?
Ich drück den ganzen Tag nur noch gefällt mir.
Ich hab neulich bei Youtube
Karnickel kotzen sehn.
Das war schön.

Oder, und bei diesem Song fällt gleich der Titel mit der Tür ins Haus, respektive aus dem bildungsbürgerlichen Rahmen – „Titten und Ärsche“:

So ein Po steckt irgendwie
In Politik und Poesie,
Und wenn man‘s ganz genau nimmt
Auch in Anthroposophie.

Der eine mag Kartoffelbrei,
Der andre lieber Lauch.
Ich liebe Titten,
Und Ärsche mag ich auch

Ganz zu schweigen von der lästerlichen Blasphemie in „Ach Mensch“:

Es hat mir schon bei meiner Geburt in mein Gehirn gehagelt.
Man gab mir einen Götzen, der war an ein Kreuz genagelt.
Man hat mir bei der Taufe den Teufel ausgetrieben,
Doch wohin ich laufe, meine Zweifel sind geblieben.

Ich stand beim letzten Papstbesuch ganz nah‘ beim Papamobil.
Bis auf das bisschen Weihrauch waren keine Drogen im Spiel.
Ich bin gewandert nach Santiago de Compostela.
Das machen viele, doch ich lief einfach schneller.

Die Knie wund gebetet, ich war auf so vielen Messen.
Ich hab den Laib Christi schon so oft gegessen.
Und ständig diese Frage: „Oh mein Gott, was mach ich hier?
Unser Jesus schmeckt nach Esspapier.“

Ach Mensch, ach Mensch!
Ach Mensch, ach Mensch!

Das letztere Lied, so erzählte Jan, hätten sie auch mal in Passau gesungen. Und die dortige Publikumsreaktion? Ließ nur eine Schlussfolgerung zu: „Da hatten wir wohl voll ins Schwarze getroffen.“

Hans-Peter Götz

Weitere Informationen & die noch ausstehenden Tourneetermine im Internet.

Dicker Hund

Zu alledem, was der grade verblichenen DDR gleich anfangs nachgesagt worden ist, gehörte die schlechte Ernährung, vor allem hinsichtlich der für eine gute Gesundheit eigentlich erforderlichen Vitamine in Quantität und Qualität. Das traf ganz sicher zu, und völlig falsch war auch nicht, daraus einen vergleichsweise schlechteren Gesundheitszustand als im bestens versorgen Westen abzuleiten. Was nun sagt aber eine Statistik wie eben jene neu auf den Informationsmarkt gelangte aus, der zufolge 64 Prozent der deutschen Männer und 49 Prozent der hierzulande eingeborenen Frauen übergewichtig sind? Wo sie doch umzingelt sind von gesunden Nahrungsmitteln?
Die Antwort, mein Kind, weiß nicht allein der Wind sondern jene, die für schlechtbezahlte Arbeit zu schlechtem Billigessen nötigen, und jene, die via Werbung verblödet werden können, sich mit Zucker, Fett und bekannten und nicht dokumentierten Schadstoffen (jedenfalls in den Mengen, in denen sie deren Ernährung dominieren) vollzustopfen.
Für Mangelernährung braucht es, wie man sieht, keineswegs Versorgungsmängel. Und demokratisch Verfettete haben gegen unrechtsstaatlich dick Gewordene oder auch dürr Gebliebene keine erkennbaren Vorzüge aufzuweisen.

Hella Jülich