16. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2013

Wie beim Häuten der Zwiebel. Nur umgekehrt

von Herbert Bertsch

Der ganze Strudel strebt nach oben;
Du glaubst zu schieben, und Du wirst geschoben.
Goethe
Faust I, Walpurgisnacht

Auf zwei Werke historischer Provenienz – „Michail Gorbatschow und die deutsche Frage – Sowjetische Dokumente 1986 – 1991“1 sowie „Helmut Kohl – eine politische Biographie“2 wird im Folgenden Bezug genommen. 2011 und 2012 erschienen, sind beide hinsichtlich herkömmlicher Rezensionen „durch“. Warum also hier darauf eingehen, zudem anscheinend willkürlich zusammengestellt?
Die Vermutung von Willkür, um damit zu beginnen, trügt nicht, doch diese kann begründet werden. Zunächst sind schon die Titel in der Machart recht ähnlich, und gleiches gilt für den dahinter stehenden Ansatz: Politik-Geschichte wird aus Personen heraus entwickelt und immer wieder auf diese bezogen. Das ergibt durchaus schlüssige Bilder und ist eine durchaus akzeptierte Geschichtsdarstellung, wenngleich sie auch gern im Unterhaltungsgenre geübt wird. Der erfahrene Leser stellt daher von vornherein in Rechnung, was Schiller über Wallenstein sagte: „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“
Vor allem aber regen beide Bücher auch dazu an, wieder einmal der Frage nachzugehen: Von welchen Interessen ließ Gorbatschow sich leiten, welche Ziele hatte er vor Augen, als er Ende Januar 1990 zunächst gegenüber dem damaligen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow3, im Februar gegenüber Kohl und im Mai gegenüber dem amerikanischen Präsidenten erst grünes Licht für die deutsche Vereinigung und dann auch für eine NATO-Mitgliedschaft Deutschlands gab? Damit signalisierte er ja nichts weniger als die Bereitschaft zu einem fundamentalen weltpolitischen Epochewandel – zur Räumung jahrzehntlang sakrosankter und wiederholt bis an den Rand des Krieges behaupteter sowjetischer Machtpositionen in Mittel- und Osteuropa.
Da ist also zunächst ein kommentierter, aber doch Dokumentenband, der eine handelnde Person in den Vordergrund stellt. Der Anbieter hätte das Werk demnach auch gut „Skizzen einer politischen Biographie in Dokumenten“ oder „mit dokumentarischem Hintergrund“ nennen können, wenngleich einige Unterlagen von weltbewegender Bedeutung enthalten sind, die bei aller Wertschätzung nicht (jedenfalls nicht ausschließlich) auf die Person zu reduzieren sind. Freilich: Die Quellen und Herausgeber kommen aus der Gorbatschow-Stiftung. Es handelt sich um ausgesuchte Dokumente und Kommentare, die, wie sich zeigt, keineswegs die sowjetische Position in Gänze widerspiegeln – etwa in Bezug auf grundlegend unterschiedliche Positionen in der sowjetischen Führung zur deutschen Frage und ihrer Lösung in der Zeit zwischen 1986 und 1990, inklusive nicht nur verbalem „Schlagabtausch“ zwischen den Beteiligten, sondern auch mit Potenzial zu „Handgreiflichkeiten“, zumindest seitens der Militärführung. So wurde Gorbatschow seinerzeit von seinem Apparat gewarnt, bei einer anstehenden DDR-Visite das Oberkommando der hier stationierten Streitkräfte zu besuchen; niemand könne voraussagen, was dabei passieren könne.
Diese Aspekte sollte man mitdenken, wenn man auf allzu summarische Aussagen über damalige Zusammengänge und die Motive Gorbatschows wie die folgende trifft – hier aus der Verlagsankündigung zu dem Dokumentenband: „Deutsche, sowjetische, europäische und globale Ereignisse stellten Moskau vor immer neue Herausforderungen – mit der Zustimmung zur Wiedervereinigung versuchte Gorbatschow auch, die komplexen, miteinander verzahnten innen- und außenpolitischen Probleme der UdSSR zu lösen.“ Ein solches Kalkül Gorbatschows soll im Übrigen gar nicht bestritten werden, es hätte allerdings zu seiner Realisierung einer komplexen Strategie bedurft – und entsprechender fachmännischer und materieller Ressourcen. Der tatsächliche Verlauf der Ereignisse lässt jedoch grundsätzlich daran zweifeln, dass diese Voraussetzungen auch nur ansatzweise gegeben waren, die Motivation eben eingeschlossen.
In der Tat war „die deutsche Frage“, angesichts einer sich im wirtschaftlichen und politischen Niedergang befindlichen Sowjetunion, Gorbatschows – neben den strategischen Kernwaffen – eine Trumpfkarte bei seiner Konzeption vom „gemeinsamen Haus Europa“, aber auch als „Wert an sich“. Dies umso mehr, weil nur er als Generalsekretär der KPdSU und damit quasi als Personifizierung der „Siegermacht Sowjetunion“ der Bundesrepublik und deren Kanzler die „Wiedervereinigung“ – bedingungslos oder zu Konditionen gemäß sowjetischer politischer und materieller Interessen sowie hinsichtlich der Behandlung seines Hauptverbündeten, des abhängigen Staates DDR, – zugestehen konnte. Oder gar anbieten. Der Schlüssel zur deutschen Einheit, das war unantastbares Erbe von Sieger- und Besatzungsrecht, lag in Moskau. Die drei westlichen Siegermächte allein konnten das Tor zu einer Vereinigung von BRD und DDR nicht öffnen, selbst wenn sie es realiter so nachhaltig gewollt hätten, wie sie sich gegenüber der BRD jahrzehntelang den Anschein gegeben hatten. (Als es dann zum Schwure kam, gehörten Frankreich und Großbritannien bekanntlich nicht zu den spontanen Begrüßern der Entwicklung.)
Die USA allerdings wollten, als das historische window of opportunity sich 1989 öffnete, viel mehr als nur die deutsche Einheit nach westlicher Verfasstheit. Sie wollten einig Deutschland in der NATO, und sie bekamen es. Condoleezza Rice erinnerte sich an die historisch entscheidende Situation, als Gorbatschow während seines Besuches in Washington im Mai 1990 für eine weltpolitische Sensation sorgte, folgendermaßen:
Spiegel: Aber Amerika hatte eine Bedingung: Das vereinte Deutschland musste volles NATO-Mitglied werden. Damals glaubte kaum jemand, dass der Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, das akzeptieren würde. War das nicht indirekt der Versuch der USA, die Einheit auf die lange Bank zu schieben?
Rice: Nein. Aber in der Endphase des Kalten Krieges konnten wir uns keinen Fehltritt leisten. Deutschland aus der NATO zu reißen wäre ein schwerwiegender Fehler gewesen. Es hätte das Ende der Allianz bedeutet, des wichtigsten Vehikels für amerikanischen Einfluß in Europa.
Spiegel: Doch für die Russen war die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland ein rotes Tuch.
Rice: Selbst US-Außenpolitiker spielten zu der Zeit alle möglichen Alternativen durch – bis hin zur gleichzeitigen Auflösung des Warschauer Pakts und der NATO. Aber uns im Weißen Haus war immer klar, dass ein vereintes Deutschland NATO-Mitglied sein muß. Alles andere wäre einer Kapitulation Amerikas gleichgekommen […] Was war schließlich der eigentliche Zweck der NATO? Die Verteidigung gegen die Sowjetunion, aber auch ein Sicherheitsschirm für Europas Demokratien. […]
Spiegel: Wie konnten Sie so sicher sein, dass Gorbatschow dem am Ende zustimmen würde?
Rice: Waren wir ja nicht. […]
Spiegel: Dann lenkte er auf einmal ein. Hat Sie das überrascht?
Rice: Ich konnte es gar nicht glauben. […]
Spiegel: Woher kam der Sinneswandel?
Rice: Für mich ist das immer noch ein Rätsel […] Selbst seine Berater waren perplex.“4
Das lag nicht zuletzt daran, dass Gorbatschow bei dieser Gelegenheit keinerlei strategische Gegenforderungen aufmachte, die diesem epochalen Geschenk an den Westen auch nur den Anschein eines Deals auf Gegenseitigkeit hätten verleihen können. Und bei später doch noch gestellten Forderungen wie jener, dass die NATO im Zuge nachfolgender Entwicklungen nicht weiter in Richtung der sowjetischen Grenzen vorrücken dürfe, verzichtete er darauf, sich ihrer Erfüllung in bindender vertraglicher Form zusagen zu lassen. De facto begnügte sich Gorbatschow mit der auch in westlichem Interesse liegenden Zusage, dass keine NATO-Einheiten in Gestalt der Bundeswehr auf ehemaliges DDR-Gebiet vorrücken würden, solange hier noch sowjetische Truppen stünden. Condoleezza Rice dürfte ein weiteres Mal perplex gewesen sein, auch wenn sie zum damaligen Zeitpunkt nicht kalkulierte, dass damit auch eine potenzielle Hürde gegen die späteren Ost-Erweiterungen der NATO nicht errichtet worden war.
In der Einleitung des Dokumentenbandes wird die Washingtoner Zäsur folgendermaßen in den damaligen Gang der Dinge eingebettet. „Beim Treffen [Gorbatschows – Anmerkung H.B.] mit Kohl am 10. Februar beschied man dem deutschen Bundeskanzler, die Frage der Vereinigung müssten ‚die Deutschen selbst’ entscheiden […] Auch war das amerikanische Argument kaum von der Hand zu weisen, dass die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes jedes Staates dessen Außen- und Sicherheitspolitik einschließe. So widersprach Gorbatschow beim Treffen mit George Bush in Washington (Ende Mai 1990) bei der anschließenden Pressekonferenz dessen Forderung nicht, dem vereinigten Deutschland die Entscheidung der Bündniszugehörigkeit selbst zu überlassen und akzeptierte in den Verhandlungen mit Bundeskanzler Helmut Kohl und seiner Delegation beim Treffen in Moskau und im Kaukasus Mitte Juli 1990 auch die Option der NATO-Mitgliedschaft.“5
Nachzutragen bleibt: Bereits bei dem Treffen im Februar hatte sich – wie wenig später in Washington – eigentlich Erwartbares nicht ereignet. Kohls außenpolitischer Berater Horst Teltschick, am 10. Februar als Protokollant fungierend, meinte in der Rückschau, wenn Gorbatschow bei diesem Treffen 100 Milliarden Mark für die deutsche Einheit gefordert hätte, wären die bezahlt worden.6 Doch Gorbatschow forderte diese Summe nicht nur nicht, er forderte gar nichts. (Was später für den Abzug der sowjetischen Truppen aus den neuen Bundesländern ausgehandelt wurde, steht auf einem anderen Blatt und war im Übrigen eine weit geringere Summe.)
Gorbatschow verhielt sich damit im Endeffekt so, als wollte er auch auf außenpolitischem Gebiet eine Einschätzung rechtfertigen, die Henry Kissinger bereits 1989 mit Blick auf die sowjetische Entwicklung seit 1985 getroffen hatte. Auf diese Einschätzung – und damit wechseln wir zur Kohl-Biographie – nimmt Hans-Peter Schwarz Bezug. Er zitiert Kissinger, der sein Diktum bei einem vertraulichen CIA-Briefing in die Frage kleidete: „Wenn Sie darauf aus wären, die Sowjetunion zu zerstören, würden Sie es anders anfangen?“7
Zu konzedieren ist allerdings, dass Gorbatschow in Sachen deutsche Vereinigung die Zeit drängte – wegen der seit dem 9. November 1989 unübersehbaren inneren Auflösung der DDR, aber vor allem auch infolge der sich zuspitzenden ökonomischen, politischen und sozialen Krise in der UdSSR selbst. Gorbatschow hing offenbar ernstlich der Illusion an, dass ein entsprechender Deal die ökonomische „Rettung“ seiner Perestroika bringen könnte. Diese Erwartung liefert zugleich eine schlüssige Erklärung für seine Kapitulation gegenüber der BRD und den USA.
Gorbatschow war zwar schwach, aber nicht so schwach, dass er im Februar 1990 gegenüber Bonn und im Mai in Washington zwangläufig vor den Forderungen seiner  Gesprächspartner hätte einknicken müssen. Welchen Hebel hätten die denn gehabt, wenn er es nicht getan hätte. Gewaltanwendung? Sicher nicht. Umso unverständlicher bleibt, warum Gorbatschow dem Westen, in erster Linie der Bundesrepublik und den USA, keine strategisch durchdachten wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Gegenleistungen abforderte. Diese Frage interessierte auch den Spiegel im Jahre 2010 in einer großen historischen Retrospektive, doch sie blieb unbeantwortet8 und ist es bis heute nicht. Andrej Gromyko, der langjährige sowjetische Außenminister, der Gorbatschow 1986 für die Funktion des Generalsekretärs vorgeschlagen hatte, soll 1989 gesagt haben: „Die Generalsmütze passt nicht für den Mischka.“9 Ob das jedoch die ganze Erklärung ist? Das zu beurteilen bleibt weiteren historischen Untersuchungen vorbehalten – oder wird von heutigen und späteren Betrachtern für irrelevant gehalten. Auch historisches Interesse kann ein Verfallsdatum haben.
Zurück zur Kohl-Biographie: Auch in ihr findet sich Aufschlussreiches zur Rolle der Persönlichkeit – und des Zufalls – in der Geschichte. Dazu hier ein Beispiel in der Sache wie auch für die Betrachtungsweise des Autors: „Offenbar hat sich längst ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen ihm (Bush Senior – Anmerkung H.B.) und Kohl herausgebildet. Sicher hat die Begegnung der beiden im Sommer 1983 eine Rolle gespielt, als Bundeskanzler und Vizepräsident, in einer düsteren Tiefgarage zu Krefeld eingeschlossen, den gewaltsamen Furor der Friedensbewegung hautnah erlebten. Seither weiß Bush, was Kohl mit der Stationierung der Pershing II politisch riskiert hat, und betrachtet ihn als eine Art Spielführer der NATO auf dem europäischen Kontinent.“10
Hier bietet sich der historische Vergleich mit Preußen als „Festlandsdegen“ Großbritanniens in den Zeiten des Siebenjährigen Krieges gerade zu an, und – bei diesem Autor nicht verwunderlich – Schwarz schreibt das auch so. Demgegenüber erfolgt die Bewertung der Friedensbewegung beiläufig, fast zufällig, gewiss nicht nur, aber auch aus persönlichem Erleben heraus. Nicht zuletzt so entstehen Urteile, Fehlurteile inbegriffen.
Ein ähnliches Grundthema wie das Verhältnis zwischen Kohl und Bush ist bei Schwarz die Beziehung zwischen Kohl und Gorbatschow. Kohl hatte Gorbatschow ja nicht nur mit Goebbels verglichen, sondern dessen Kurs darüber hinaus über Jahre hinweg für eine besonders raffinierte Variante sowjetischer Machtpolitik gehalten, die unter Ausklammerung der Bundesrepublik vor allem die USA, aber auch die anderen europäischen Hauptmächte als Ansprechpartner sah. Für Gorbatschow existierte im Gegenzug in Bonn seinerzeit auf Regierungsebene eigentlich nur Außenminister Hans-Dietrich Genscher als Gesprächspartner, bei paralleler Intensivierung persönlicher Beziehungen zu führenden Sozialdemokraten. (Bild berichtete Ende 2011 über ein Gespräch zwischen Sahra Wagenknecht und Gorbatschow, das dieser so beendet haben soll: „Und grüßen Sie mir Ihren Parteifreund, Herrn Lafontaine […]. Wissen Sie, Lafontaine und Schröder waren, als Begleitung von Willy Brandt, 1986 die ersten deutschen Politiker, die mich in Moskau besuchten. Ich erinnere mich: Wir alle waren damals noch deutlich jünger als heute…“.11)
Bei Schwarz lesen wir dezidiert, wie Kohl, der zunehmend unter dieser Missachtung litt, mit wirtschaftlichen Verlockungen und barem Geld bei Gorbatschow ein „Umdenken“ erreichte, inklusive der schließlichen Akzeptanz, ja Förderung des Bonner Ziels, die DDR zu liquidieren. Diese Kehrtwende allerdings, das macht der Dokumentenband ziemlich ungeschminkt deutlich, bereitete Gorbatschow keinerlei brüderliches Schmerzempfinden.
Was die Kohl-Biographie von Hans-Peter Schwarz bei unterschiedlichster Bewertung empfehlenswert macht, sind übrigens keineswegs nur die dokumentierten politischen Ideen und Handlungen, Kurzschlussentscheidungen „aus dem Bauch“ einbegriffen, sowie die Sprache und ein Stil mit ausgeprägtem Selbstwertgefühl, durch eigenes politisches Mitwirken untersetzt. Mir gefällt darüber hinaus der Zeitgeschichtler, der den begrenzten Rand der eigenen Erfahrung zu überschreiten vermag – und der seinerzeit ohne national geblähte Nasenflügel auch den Dialog suchte; gewiss um seiner Sache willen. Aber das hindert ihn heute vermutlich daran, Politik in Deutschland mit stolzgeschwelltem Pathos, in „Es ist erreicht“-Attitüde zu beschreiben oder die Abrechnung mit der DDR als „Hauptaufgabe“ über die Geschichte der Bundesrepublik (alt) zu stellen, die ihrerseits immer weiter zu schreiben ist, solange Deutschland als Nationalstaat existiert. Hans-Peter Schwarz ist im Übrigen Persönlichkeit genug, dass er keinen Forschungsverbund mit im Namen „präjudizierten“ Auftrags-Ergebnis braucht. Dennoch weiß er, was von der Zunft erwartet wird, und von einem „Altmeister“ allemal.
So gibt Schwarz auf 1.052 Seiten der Kohlschen Sicht der Dinge durchaus breiten Raum; doch er stellt seine eigenen Bewertungen ebenbürtig daneben – zum Beispiel mit der Wertung, dass die – in seiner Diktion – Wiedervereinigung Deutschlands historisch eigentlich nur ein „Nebenaktionsfeld“ der Bonner Politik darstellte und praktisch-politisch auch hätte sein müssen. Denn für Schwarz und auch tatsächlich stand bereits die Neuordnung – er benutzt dafür ebenfalls den Begriff „Wiedervereinigung“ – Europas auf der Agenda und damit implizit die Frage, ob eine spezielle deutsche Einheit überhaupt (noch) eine richtige und sinnvolle Option war. Das ist nicht erwiesen, und damit auch nicht, ob Kohl infolgedessen künftig zu den Großen, wenigstens in Europa, gezählt werden wird, was Schwarz ihm in Bezug auf „Europa“ jedoch zu bescheinigen scheint.
In manchen Rezensionen oder Bezugnahmen (wie zum Beispiel von Erhard Crome in der Blättchen-Ausgabe 23/2012) wird zu Recht bemängelt und aufgeführt, was Schwarz in seiner selbstverständlichen Parteilichkeit nicht berichtenswert fand – und das ist nicht wenig, und auch nicht wenig Wichtiges. Ohne dies zu übersehen, schätze ich meinerseits jedoch, wie Schwarz aus der Person – aus ihrem jeweiligem Umfeld heraus und bis in die Weltwirkungen hinein – Zeitgeschichte erzählt und dies mit Dokumenten sowie Zeugen, natürlich seiner Wahl, begründet, also gleichsam wie beim Häuten der Zwiebel vorgeht. Nur umgekehrt.
Dabei versteht sich, dass, wo „Männer die Geschichte machen“, Historiker aus innerer Berufung und Leidenschaft dies nie nur aufschreiben. Zwar attestieren sie sich gern eine solche „objektive“ Herangehensweise – Hans-Peter Schwarz verzichtet auf diese Art Autoabsolution –, aber tatsächlich „beweisen“ sie dann meist auch, dass „Männer die Geschichte machen“. Und die Antworten auf die „Fragen eines lesenden Arbeiters“ werden dabei zwar heutzutage nicht mehr unter den historischen Teppich gekehrt, werden aber, um im Bilde zu bleiben, auf die Ebene der Fußmatte verbannt.

  1. Anatolij Tschernjajew / Aleksandr Galkin (Herausgeber): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage, Oldenbourg Verlag, München 2011, 640 Seiten, 69,80 Euro.
  2. Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl Eine politische Biographie, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012, 1.056 Seiten, 34,99 Euro.
  3. Ein erstes augenscheinliches Indiz dafür war die überraschende Präsentation eines Vierstufenplans für die deutsche Einheit durch Modrow auf einer Pressekonferenz am 1. Februar 1990, einen Tag nach einem Gespräch mit Gorbatschow in Moskau, wo er sich, was man seinerzeit nur ahnen konnte, aber heute dokumentiert ist, diesen Plan hatte absegnen lassen (vgl. Anatolij Tschernjajew / Aleksandr Galkin, S. 292 ff.).
    Zwar hatte Gorbatschow seinem Gesprächspartner bei dieser Gelegenheit auch versichert: „Das Wichtigste ist der Erhalt der staatlichen Souveränität der DDR, die Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten.“ (ebenda, S. 301), tatsächlich aber hatte er zu diesem Zeitpunkt die DDR als für die weitere Entwicklung in Rechnung zu stellenden Faktor offenbar bereits abgeschrieben. Bei einer Diskussion mit seinem Beraterstab am 26. Januar 1990 hatte er mit Blick auf internationale Gespräche, um „die Rechte der Deutschen und die Rechte der Übrigen“ zu klären, geäußert, dass man dafür „nicht ,4’ sondern ,5’ versammeln“ (ebenda, S. 287) müsse – die vier Siegermächte und die BRD.
  4. Der Spiegel, 39/2010, S. 54; www.spiegel.de/spiegel/print/d-73989791.html.
  5. Anatolij Tschernjajew / Aleksandr Galkin, S. XIV.
    Konkret hatte Gorbatschow gegenüber Kohl geäußert, „dass zwischen der Sowjetunion, der BRD und der DDR keine Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Einheit der deutschen Nation bestehen und dass die Deutschen diese Frage selbst entscheiden. Kurzum […]: Die Deutschen selbst müssen ihre Wahl treffen.“ (ebenda, S. 326).
    Hinsichtlich der NATO-Mitgliedschaft war der entscheidende Moment im Gespräch Gorbatschow / Bush Senior, nachdem Gorbatschow in der Diskussion mit Bush bezüglich der künftigen Bündniszugehörigkeit eines vereinigten Deutschland bereits konzediert hatte, dass die BRD „doch selbst entscheiden [soll], welchem Bündnis sie angehören möchte“ (ebenda, S. 440), dieser:
    M.S. Gorbatčev: […] wir formulieren […]: Die Vereinigten Statten und die Sowjetunion sind dafür, dass das vereinigte Deutschland nach Erreichen einer endgültigen Regelung, die die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges berücksichtigt, selbst entscheidet, welchem Bündnis es angehören will.
    G. Bush: Ich würde vorschlagen, es ein wenig anders zu formulieren: Die USA treten eindeutig für die Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland in der NATO ein; wenn es jedoch eine andere Wahl trifft, werden wir sie nicht anfechten, sondern respektieren.
    M.S. Gorbatčev: Einverstanden. Ich übernehme Ihre Formulierung.“ (ebenda, S. 441.)
  6. Vgl. Der Spiegel, a.a.O., S. 47; www.spiegel.de/spiegel/print/d-73989790.html.
  7. Hans-Peter Schwarz, S. 484.
  8. Siehe Der Spiegel, a.a.0.
  9. Zitiert nach Jegor Ligatschow: Wer verriet die Sowjetunion, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2012,
    S. 293.
  10. Hans-Peter Schwarz, S. 506.
  11. Bild, 21.11.2011; www.bild.de/politik/inland/sahra-wagenknecht/begegnung-mit-gorbatschow-21204748.bild.html.