15. Jahrgang | Sonderausgabe | 23. April 2012

Die Linke oder:
die liebevolle Pflege selbstverschuldeter Unmündigkeit

von Jörn Schütrumpf

Vor über achtzig Jahren verzweifelte ein Tucholsky an der Infantilität seiner Adressaten: „Jeder hat ja so Recht.“1 Gebessert hat sich seitdem nichts. Nicht zuletzt deshalb steht kaum zu befürchten, dass unter Linken – und sei es auch nur anfallsweise – eines Tages Lernwilligkeit ausbräche. Sollte ich, was unwahrscheinlich erscheint, doch einmal des ungerechtfertigten Pessimismus überführt werden, wäre es denkbar, über einige Lerninhalte nachzudenken, die das 20. Jahrhundert hinterlegt hat:

1. Ein Sozialismus, der durch eine Partei von oben eingeführt wird, endet immer in bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen. Die Differenzen zwischen den verschiedenen verordneten Sozialismen bestehen lediglich in der Zahl ihrer Opfer und im Weg zu ungeschminkten kapitalistischen Zuständen: nach dem Sturz der Staatspartei oder unter ihrer Führung.
2. Trotzdem treiben die bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse – sozialökonomisch, ökologisch, moralisch – an ihre Grenzen. Offen ist lediglich die Perspektive: emanzipatorische Überwindung dieser Verhältnisse oder Absturz in den irreversiblen Zivilisationsbruch?
3. Die Überwindung jeglicher Unterdrückung und Ausbeutung – nicht nur der, die die kapitalistische Produktionsweise verursacht – vollzieht sich nicht naturwüchsig. Läuft jedoch die Entwicklung, wie im Moment, naturwüchsig weiter, endet sie in einem Zustand, gegen den Weltkrieg und Holocaust als harmlose Vorboten erscheinen werden. Benjamins Warnung: Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe!“,2 wird auch nach über siebzig Jahren noch gern als Alarmismus belächelt.
4. Die Linke – egal wo auf der Welt stets in Fraktionen oder gar nicht existierend – steht heute dort, wo (die vorauseilenden Niederlande und England ausgenommen) sich die verschiedenen Fraktionen des bürgerlichen Lagers bis 1870 befanden: gegeneinander, feindlich, wenn sich auch nicht mehr unbedingt bis aufs Messer bekämpfend. Seit 1871 hat das bürgerliche dem linken Lager die Einsicht voraus, dass zwar immer nur eine Fraktion regieren, sie sich an der Regierung aber nur halten kann, wenn sie die Interessen aller anderen, vom Privateigentum an Produktionsmitteln bevorteilten Fraktionen berücksichtigt. Dieser – blutig erarbeitete – Konsens war es, der die bürgerlichen Fraktionen bis zum heutigen Tag in die Lage versetzt, jene hinter sich zu bringen, die das Privateigentum an Produktionsmitteln benachteiligt.
5. Die Pariser Kommune machte – welthistorisch gesehen – diese Einsicht unumkehrbar. Allerdings dauerte es in Staaten, die sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Italien, Deutschland) formieren konnten, noch Jahrzehnte, bis sie auch dort angenommen wurde; faschistische Regimes kompensierten – wie die bonapartistischen im Frankreich des 19. Jahrhunderts – diesen Mangel. Es bedurfte der Niederlage im Zweiten Weltkrieg, bis auch das bürgerliche Lager in Italien und Deutschland diese Lektion lernte.
6. Der Stalinismus war lediglich der ins Perverse getriebene Ausdruck der Herrschaft einer Fraktion über alle anderen, Ausdruck der innerlinken Todfeindschaften und damit eine Niederlage aller Linken. Die Linke, und zwar in all ihren Fraktionen, auch denen, die erwiesenermaßen stets antistalinistisch agierten, hat es – trotz aller historischer „Aufarbeitung“ – auch mehr als zwanzig Jahre nach dem Abtreten der staatssozialistischen Diktaturen in Europa nicht vermocht, aus dem Schatten des Stalinismus herauszutreten. Was kein Wunder ist: Denn mit „Aufarbeitung“ allein ist das nicht zu leisten, notwendig wäre eine veränderte Praxis …
7. Solange die Linke keinen Weg findet, die Aura von Minderheitendiktatur, Menschenrechtsverletzung und Terror abzustreifen – diese Aura hängt nicht nur einzelnen Fraktionen der Linken, sondern, so „ungerecht“ das auch sein mag, allen Linken an –, kann sie sich nicht als seriöse politische Alternative formieren. Denn wer soll Kräfte ernstnehmen, geschweige denn auf sie setzen, die nicht einmal bereit sind, ihre eigene verfahrene Lage zu begreifen? Marx’ Diktum: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“,3 blamiert jeden Tag aufs Neue die Linke, weltweit. Solange das so ist, bleibt für die Linke nur die Rolle, die sie seit Jahrzehnten spielt: die des zuverlässigsten Garanten gegen eine Trendwende hin zur Emanzipation von allen menschenfeindlichen Zuständen.
8. Denn ihre Unwilligkeit, auch nur die schlichteste Schlussfolgerung aus der eigenen Geschichte zu ziehen, diskreditiert nicht nur fortlaufend die Linke selbst – was nicht weiter tragisch wäre –, sondern auch jede emanzipatorische Alternative, und, was nun wirklich nur tragisch genannt werden kann, alle nachwachsenden alternativen Kräfte, die mit keiner der Fraktionen der Linken etwas zu tun haben – und haben wollen. Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe …
9. Das Mindeste, was die Linke, soll sie je wieder einmal mehr sein als eine Selbstbemitleidungsveranstaltung, zu leisten hätte, wäre in ihrer Praxis jenes Niveau zu erreichen, das ihre bürgerlichen Gegenspieler seit 1871 so meisterhaft pflegen: anstelle der Kakophonie der fortgesetzten Selbstzerlegung im Gegeneinander eine Polyphonie (nicht Harmonie) im politischen Handeln – und zwar nicht im Gegeneinander; mehr tun die Bürgerlichen auch nicht. Diese Wendung reichte aus, sie hegemoniefähig – und die Verbrechen einiger ihrer Fraktionen vergessen – zu machen.

Einem besseren Verständnis können vielleicht die folgenden Exkurse dienen.

Exkurs 1: Das strategische Dilemma im nachmarxschen „marxistischen“ Ansatz
Kein Parteiprogramm hat so viel Einfluss auf die internationale politische Linke ausgeübt wie das Erfurter Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands aus dem Jahre 1891. Für viele sozialdemokratische Parteien Europas galt es als Vorbild. Doch das erneute Lesen des Textes ernüchtert:
„Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden. Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe, geht die Entwicklung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile dieser Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern monopolisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten – Kleinbürger, Bauern – bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung.
Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist.“4
Die Grundannahme, der Untergang des Kleinbetriebes sei „naturnotwendig“, und alle Produzenten würden schließlich zu doppelt freien Lohnarbeitern, führte zu der falschen Perspektive: Irgendwann werde die Arbeiterschaft die Mehrheit der Gesellschaft stellen und in ihrem Kampf um die „Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln – Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel – in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion“ erfolgreich sein. Die Sozialdemokratische Partei habe die Aufgabe, diesen „Kampf der Arbeiterklasse“ zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen.
Dass sich die Partei damit in ein strategisches Dilemma begeben hatte, bemerkte der SPD­-Vorstand spätestens an der verheerenden Niederlage bei den Reichstagswahlen 1907. Zwar wuchs die Arbeiterschaft noch, doch die absinkenden Mittelschichten verschwanden nicht, sondern regenerierten sich stets aufs Neue, nicht nur über immer wieder entstehende Kleinbetriebe, sondern als „neue Mittelschichten“: als Angestellte, Beamte, Freiberufler. Der Gedanke an eine irgendwann zu erreichende soziologische Mehrheit wurde stillschweigend zu Grabe getragen.
Hier lag die eigentliche Ursache dafür, dass sich nach der (dümmlichen) Spaltung in Anarchismus und Marxismus in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts – letztlich ein Streit zwischen Bakunin und Marx, zwei alternden Männern – die schon begonnene Spaltung der Arbeiterbewegung in einen avantgardistisch­-revolutionären und in einen reformorientierten Flügel verfestigte. Beide suchten in entgegengesetzten Richtungen nach Lösungen. (Selbst die oft zitierte Kritik von Friedrich Engels half nicht weiter. Denn sie war – bis auf seine Forderung nach einer deutschen Republik in der französischen Fassung der Jahre 1792 bis 1798 – lediglich eine Kritik an der mitunter holpernden Argumentationslogik und der oft geradezu schlampigen Gedankenführung [die nicht nur im Erfurter Programm anzutreffen ist], ging aber ebenfalls von der Wachstumserwartung aus.5
Die eine Fraktion – am radikalsten die Bolschewiki um Lenin – schwenkte auf eine Strategie ein, in der nicht mehr die zur Mehrheit heranwachsende Arbeiterschaft als Subjekt im Zentrum stand, sondern die Avantgarde, die Partei. Mit einer Handvoll Revolutionäre sollte die Welt aus den Angeln gehoben werden. Zum Ziel wurde die Erringung von Führung, von Hegemonie innerhalb sozial sehr heterogener Gruppen erklärt – unter Arbeitern und Bauern. Die einzige Entscheidung, die ihnen letzten Endes überlassen werden sollte – und dort, wo diese Strategie aufging, auch wurde –, war, ob sie der Avantgarde folgen, also deren Entscheidungen umsetzen, oder nicht. Damit wurde der Weitling-Marxsche Gedanke einer Emanzipation als Ergebnis einer Selbstbewegung der Arbeiterschaft zugunsten eines paternalistischen Herrschaftsanspruches aufgegeben.
Um Hegemonie zu erringen, war jedes Mittel recht und Lenin der Meister dieser Disziplin – der es allerdings überhaupt nicht ausstehen konnte, dafür zur Rede gestellt zu werden. Die heute weitgehend vergessene einstige Grande Dame des internationalen Sozialismus und erste Sekretärin (Leiterin) der Kommunistischen Internationale, Angelica Balabanoff,6 war die Einzige, der es gelang, Lenin – in seiner Zeit als unbekannter Emigrant – zu stellen: „Noch eine andere Gepflogenheit machte mich stutzig: dass er notorisch ehrliche und uneigennützige Menschen des Verrats beschuldigte.
Nach einem Vortrag, den er in Zürich hielt, bat ich Lenin, mir dies zu erklären, und er antwortete, ziemlich verstimmt, im Kampf um die Macht sei jedes Mittel zulässig. Sogar Betrug? fragte ich.
Alles, was man im Interesse der Sache des Proletariats tut, ist ehrenhaft, schloss Lenin ungeduldig und wandte sich zum Aus­gang. Aber ich ließ nicht nach und sagte: Warum nennen Sie Sozialisten, die ihr ganzes Leben in den Dienst der Ausgebeuteten gestellt haben, Verräter?
Wenn ich sie so nenne, will ich damit nicht sagen, dass es sich um persönlich ehrlose Menschen handelt, sondern ich will damit zum Ausdruck bringen, dass ihre politische Haltung sie objektiv zu Verrätern macht.
Aber, entgegnete ich, wer Ihre Schriften liest, vor allem der Arbeiter, ist sich über diesen Unterschied nicht klar; für ihn ist ein Verräter ein Verräter, mit anderen Worten also ein ver­achtungswürdiger Mensch, der sich wissentlich den Feinden der Arbeiterklasse verschrieben hat.
Lenin zuckte die Achseln und ging, ohne zu antworten.“7
Diese „Kultur“, die Debatten sachlicher Probleme durch Verleumdungen zu ersetzen, prägt bis heute nicht nur die Beziehungen zwischen den verschiedenen Fraktionen der Linken, sondern vielfach auch innerhalb der Fraktionen.
Die andere Fraktion – allen voran die SPD – änderte nach 1907 nach außen vorerst fast nichts, nach innen hingegen fast alles. In ihrer Programmlyrik blieb die SPD auch über das Heidelberger Programm (1925)8 hinaus zwar bei den Denkfiguren des Erfurter Programms, in der praktizierten Politik hingegen wurde der Weg der Kompromisse und eines immer zahnloseren Parlamentarismus eingeschlagen. Nun versuchte die SPD-Führung, die Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft hineinzuführen – individuell drängten ohnehin viele Arbeiter in sie hinein – und so eine Machtteilhabe für Reformen zu erringen. Damit verbunden war natürlich ein Abgehen vom Ziel, den Kapitalismus zu überwinden; stattdessen sollte er gezügelt werden. Diese Entscheidung für die strategische Integration in die wilhelminische Gesellschaft führte die SPD über die Stationen Zustimmung zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 und die spätestens seit 1907 angestrebte Regierungsbeteiligung am 3. Oktober 1918 schließlich zum 2. Mai 1933, der Zerschlagung der Arbeiterbewegung.
Im Erfurter Programm heißt es: „Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht entwickeln ohne politische Rechte.“ Friedrich Engels hatte daran nichts zu bemängeln.
Die Reduktion des politischen Kampfes auf eine Bedingung, die es ermöglicht, den ökonomischen Kampf führen zu können, hängt der Linken bis heute wie ein Stein am Hals. Für Marx war der politische Raum noch jene Sphäre, in der die Menschen ihre Angelegenheiten regeln und in die sie sich hineinkämpfen müssen.9 „Die Arbeiterklasse […] hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluss einzuführen. Sie weiß, dass, um ihre eigne Befreiung und mit ihr jene höhre Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigne ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, dass sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.“10
Dieser Ansatz wurde im Erfurter Programm bestenfalls noch halbherzig verfolgt, in der Praxis dann aber bald fast vollständig aufgegeben. Die SPD-Führung stand vor der Alternative: Entweder nutzte sie, wie es einer Rosa Luxemburg und ihren Freunden vorschwebte, die in Deutschland weitgehend, wenn auch keineswegs vollständig erkämpfte formale Gleichheit und Freiheit samt den sich daraus ergebenen politischen Freiheiten (Rede-, Presse-, Versammlungs-, Assoziationsfreiheit etc.), um die Arbeiterschaft „anzustacheln“, sich nicht mit „der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit … zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialem Inhalt zu füllen“,11 setzte sie also „die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit…, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben“ – das war nun einmal eine zur Emanzipation fähige Arbeiterschaft. Oder sie hielt diese Arbeiterschaft in der überkommenen Unmündigkeit, indem sie, statt eine die Arbeiterschaft aktivierende Strategie zu verfolgen, Stellvertreter-Politik betrieb. Letzteres geschah, die Partei mutierte zu einem Wahlverein, der möglichst viele Parlamentssitze erobern sollte und zu immer mehr Zugeständnissen an die herrschenden, halbabsolutistischen Zustände bereit war, nicht zuletzt an Chauvinismus und Militarismus.
In ihrer Hilflosigkeit entpolitisierte die SPD-­Führung nach und nach ihr eigenes Agieren und reduzierte Politik auf soziale und ökonomische Forderungen: Achtstundentag, Arbeitsschutz, Chancengleichheit in der Bildung etc. Im Erfurter Programm hatte es immerhin noch geheißen: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend, bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, eine Geschlecht oder eine Rasse.“ Davon blieb in der Praxis nicht viel übrig. Aus einer Partei, die angetreten war, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“,12 wurde ein politischer Arm der Gewerkschaften, im politischen Raum ein Vertreter sozialökonomischer Interessen der Arbeiterschaft – eine Rolle, die unter Gerhard Schröder die SPD auch noch auf- und an Lafontaines LINKE abgab.
Eine derjenigen, die nach 1907 ausscherten, war Rosa Luxemburg. Für sie war sozialistische Arbeiterbewegung nicht zuvorderst der, vor allem von den Gewerkschaften geführte, Kampf um bessere Lebensverhältnisse – auch wenn sie um die Bedeutung dieses Kampfes wusste und ihn alles andere als geringschätzte –, sondern Kampf um den Ausbau der politischen Freiheitsrechte, die sie um die sozialen Freiheitsrechte ergänzen wollte. Dafür waren ihr viele Mittel recht, auch der politische Massenstreik, den die SPD­-Führung mied wie der Teufel das Weihwasser.13 Letzten Endes stand sie Marx näher als dem Erfurter Programm.
In den letzten Jahren ihres Lebens hasste sie jene Linken geradezu, die die erkämpften – halbwegs freiheitlichen – Zustände nur zu dem zu verwenden wussten, was auch alle anderen Politiker machen: Hinterzimmerpolitik.
Wie wenig die SPD bereit war, mehr als Sozialpolitik zu betreiben, zeigte sich in der Novemberrevolution: Der Kaiser ging, die Generäle blieben – und mit ihnen das kaiserliche Militär, die Justiz, Polizei und Verwaltung; von den prügelnden Paukern ganz zu schweigen.
 Bekämpft, und zwar bis aufs Messer, wurde hingegen die nicht-sozialdemokratische Linke; der Graben zwischen der SPD und den anderen Fraktionen der Linken füllte sich randvoll mit Blut.
Der Reichspräsident wurde eine Art Ersatzkaiser, der den Parlamentarismus ausschalten und mit Notverordnungen regieren durfte. Am 30. Januar 1933 konnte Reichspräsident Hindenburg an Hitler ganz legal die politische Macht übergeben. Die sozialdemokratischen Anhänger, die über Jahrzehnte ihren Führern das politische Geschäft überlassen und nicht gelernt hatten, selbst in die Politik einzugreifen, standen der Diktatur ohnmächtig gegenüber. Kein Rad stand still …
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wurde reflexartig die „Einheit“ beschworen. Selbst wenn nicht alle Kommunisten von Anfang an auf ein Verschwinden sozialdemokratischer Politik via Vereinigung und anschließender Unterwerfung der Sozialdemokraten abzielten – wie es dann im Osten Deutschlands und in anderen künftigen Ostblockstaaten geschah ­–, war diese Entwicklung unvermeidlich. Denn zwei so unterschiedliche Ansätze können nicht innerhalb einer Organisation verfolgt werden. Offen war lediglich, wer wen unterwerfen würde; das entschieden jedoch nicht die Akteure, das entschied sich durch die politische Großwetterlage, die in den Kalten Krieg mündete und im Osten Sozialdemokraten ebenso zu Freiwild machte wie im Westen die Kommunisten. Ab 1948 war alles wieder wie gehabt: Krieg zwischen den Linken.

Exkurs 2: Der Versuch, das Wasser bergauf fließen zu lassen
Die 1917 in Russland ausgebrochene Revolution wühlte in anderen Staaten viele radikale Linke auf. Die meisten wussten natürlich, dass das Schicksal dieser Revolution von den internationalen Ereignissen, ganz besonders von der Entwicklung in Deutschland, abhing. In ihrem Verständnis handelte es sich bei der russischen Revolution um die Eröffnungsrevolution für einen sozialistischen Revolutionszyklus; um den Auftakt zu einer weltweiten Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise; um den Beginn einer Weltrevolution, mit der der Übergang zu einer Produktionsweise eingeleitet werden sollte, die an den Bedürfnissen der Produzenten ausgerichtet sei.
Die ursprünglich zahlenmäßig schwachen Bolschewiki, die die „proletarische Revolution“, trotz aller Dementis, als blanquistischen Akt verstanden und auch so betrieben, stützten sich, anders als in der Theorie postuliert, nach dem Sturz der Kerenski-Regierung (und nach verlorenen Parlamentswahlen) nicht nur auf die Arbeiterschaft und deren Bewegung, sondern mehr noch auf eine revolutionäre Soldatenbewegung. Dank Leo Trotzkis Initiative, eine neue, den Bolschewiki ergebene Militärmacht zu schaffen, verliehen die Bolschewiki dieser Soldatenbewegung mit der Roten Armee einen dauerhaften existentiellen Rahmen. Diese Armee blieb selbst über die Ausrottung fast ihres gesamten Führungskorps im Jahre 1938 hinweg neben dem Stalinschen Parteiapparat und der Politischen Polizei bis 1991 sowohl die entscheidende soziale als auch machtpolitische Grundlage der Herrschaft der Bolschewiki.
Wie schnell der Verfall voranschritt, offenbarte sich spätestens im Februar 1921: mit der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands. Um den Bürgerkrieg (1918 bis 1920) zu gewinnen, hatten die Bolschewiki alles in die Armee gesteckt und im Zuge eines postulierten „Kriegskommunismus“ der Zivilbevölkerung, allen voran dem städtischen Industrieproletariat, die allergrößten Opfer zugemutet. Es ist immer leicht, den Preis für eigene Projekte andere bezahlen zu lassen: Demokratie im Namen von Hammer und Sichel. Dieses instrumentelle Verhältnis zu „übernommenen Bevölkerungen“ wurde zum Markenzeichen des Sowjetkommunismus, egal wohin er exportiert wurde. Ab 1989 stellten die betroffenen Bevölkerungen die Quittung, verfuhren dabei aber erstaunlich moderat.
Nachdem sich die Bolschewiki während des Bürgerkriegs zugunsten der Roten Armee von der Arbeiterschaft getrennt und im Februar 1921 in Kronstadt deren proletarische Interessen verfolgenden Teil niederkartätscht hatten, gingen sie zu einer „Neuen Ökonomischen Politik“ über. Mit dieser bonapartistischen Politik „über den Klassen“ – vor allem mit Zugeständnissen an die ländliche und die städtische Bourgeoisie sowie an das ausländische Kapital, also an die Feinde von gestern – versuchten sie, sich an der Macht zu halten. Die Bolschewiki hofften, so die – entgegen ihrem eigenem Wollen und Tun als Eröffnungsrevolution verlorengegangene – Revolution doch nicht verloren geben zu müssen und bis zur neuerlichen Revolution in Europa ausharren zu können.
Die „Neue Ökonomische Politik“ glich einem Tanz auf dem Hexenkessel einer in Revolution und Bürgerkrieg umgepflügten Gesellschaft und wurde zum Geburtshelfer des sich formierenden Sowjetrusslands: der Arbeiterschaft hier und den Abermillionen neuen Landbesitzern und – schnell als NÖP-Gewinnlern denunzierten – Neu-Bourgeois da. Den einzigen signifikanten Unterschied zu den bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften des Westens bildete die herrschende Klasse: Armee, Parteiapparat und Politische Polizei formierten sich in dieser Zeit endgültig zur eigentlichen sozialen Basis der Bolschewiki; später die „neue Klasse“ genannt.14
Niemand in der Führung der Bolschewiki hatte natürlich geplant, die eigene Partei, die die Interessen mindestens eines Teils des Proletariats vertreten hatte, in eine Staatspartei und damit in den politischen Arm der neuen herrschenden Klasse, gespeist aus Armee, Partei- und Staatsapparat, Politischer Polizei etc., umzuformen. Diese Entwicklung wurde nicht „betrieben“, sie stellte sich hinter dem Rücken der Akteure ein und ergab sich aus dem Typus der blanquistischen Revolution, die anfänglich zu einer Avantgarde-Herrschaft geführt und dann unausweichlich in eine Apparate-Herrschaft abgeglitten war. Denn die Avantgarde kann sich zwar einige Zeit mit enthusiasmierender Agitation sowie Terror an der Macht halten; aber sie kann den Terror nicht rationalisieren, also verwalten. Das kann nur eine professionelle Verwaltung.
Die Jahre zwischen 1921 und 1938 hatten genau diesen Übergang zum Inhalt: Mit Kronstadt hatten die Bolschewiki ihren eigenen Achtzehnten Brumaire durchgeführt. Aus Angst vor dem Bonaparte, den alle in Leo Trotzki erkannt zu haben glaubten, stellten sie sich auch in der absteigenden Phase der Revolution – mit der „Neuen Ökonomischen Politik“ – an die Spitze der Bewegung und wurden so selbst zu Bonapartisten. Denn Marx’ Prophezeiung aus dem „Achtzehnten Brumaire“ steckte den Rahmen ab, in dem sie dachten: „Proletarische Revolutionen … unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta!“15
Diese Sätze verströmen einen Odem, der sich aus Klarheit und Unerbittlichkeit, Männlichkeit und Tiefsinn zu speisen scheint und bis heute Marx-Freunden einen verklärten Blick beschert. Trotzdem war Marx hier noch ganz im Chiliasmus gefangen, im Glauben an ein kommendes Tausendjähriges Reich, in dem es dreimal am Tag Ambrosia regnen würde: „… bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht …“
Die russischen Revolutionäre glaubten fest an den revolutionären Weg als dem einzigen Ausweg aus dem irdischen Jammertal und versuchten nicht zuletzt deshalb, alle „Fehler“ zu vermeiden, die sie von diesem Weg hätten abbringen können – wussten sie doch um ihre größte Gefährdung: dass sie fern jeder Situation waren, „die jede Umkehr unmöglich macht“. Sie jagten der heroischen Illusion nach, dass sie mit ihrer revolutionären Avantgarde-Herrschaft „im Prinzip“ auf dem richtigen Wege und nur die Rahmenbedingungen etwas wacklig seien. Dass die von ihnen angewandten Mittel – Diktatur einer Minderheit über eine Mehrheit mit allen unvermeidbaren Folgen – den „guten Zweck“ alternativlos verderben mussten, war ein Gedanke, den sie um ihrer selbst willen nicht zulassen konnten. Stattdessen hofften sie, es werde schon irgendwie gehen mit dem Sozialismus, geboren aus der Revolution. Hinzu kam: Sie wähnten sich bereits hinter dem Tor, das zur neuen Welt hatte durchschritten werden müssen, und wollten – nicht begreifend, dass selbst das vermeintliche Tor zum Himmel letztlich nur in die Hölle führt und das Himmelstor eine katholische Erfindung zur Beherrschung der Christenmenschen ist – nie wieder zurück ins „Jammertal“. Hier haben wir eines der ganz starken Motive, das in allen Ländern des Staatssozialismus bis 1989 Menschen sich für diesen Sozialismus engagieren ließ – nicht unsympathisch, zum Teil aber mit furchtbaren Folgen.
Zugleich war den russischen Revolutionären ihre Schwäche und damit die Unmöglichkeit, die Revolution weiter in Richtung Sozialismus zu treiben, bewusst. Ihnen war klar, dass ein offener Kampf der Kräfte – „unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche“ – sofort zu ihrem eigenen Untergang führen musste. Paul Levi, nach der Ermordung von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Leo Jogiches der Kopf der Kommunistischen Partei Deutschlands, wies als erster darauf hin, dass die Bolschewiki ihre Herrschaft erhielten, indem sie deren sozialen Charakter veränderten.16
Das war den Bolschewiki gelungen, weil sie im Sommer 1918 die Fraktionsabfolge17 unterbrochen hatten – um den Preis, dass sie die Aufgaben ihrer verhinderten Nachfolger zu lösen nicht umhin kamen. Dieses Dilemma war zumindest den Revolutionsführern wohl bewusst. Denn im Unterschied zu deren Nachfolgern, die auf den zerfolterten Gebeinen dieser Revolutionsführer ihre Macht etablieren sollten, propagierten sie Sozialismus nicht nur als Kultur- und Bildungsbewegung, sondern waren auch selbst (hoch-)gebildet und wussten, was mit ihnen und mit ihrer Revolution geschah. Sie sahen es – und konnten es doch nicht ändern. Die Alternative lautete nicht: Sozialismus oder Kapitalismus? Die Alternative lautete: Entfesselung eines Kapitalismus oder Entfesselung des Staates; unter den Bedingungen Russlands hieß das gleichwohl, wie sich bald herausstellte: Kapitalismus oder Barbarei? Das war ihr Dilemma.
Die sich von ihrer ursprünglich sozialen Basis entwurzelnde und neu einwurzelnde Sowjetmacht lavierte anfangs recht erfolgreich zwischen und über den Klassen. 1927 hatte sich allerdings der Spielraum der Bonapartisten wider Willen erschöpft: Die sozialökonomischen Verhältnisse und mit ihnen die bürgerlichen Klassenkräfte hatten sich so stürmisch entfaltet, dass Russland alle Voraussetzungen aufwies, um zu einem bürgerlich-kapitalistischen „Schwellenland“ überzugehen.
Bis zu diesem Punkt war in der einsam gebliebenen Revolution alles „normal“ verlaufen und zumindest den marxistisch gebildeten Zeitgenossen verständlich gewesen: Im Februar 1917 war die Revolution ausgebrochen; in geradezu klassischer Fraktionsabfolge war die Hegemonie immer weiter nach links gereicht worden, bis 1918 auch die linken Sozialrevolutionäre ausgeschaltet worden waren und die Bolschewiki allein dastanden – als Hegemon in einem Bürgerkrieg, in dem aber nicht ein sich aufreibendes Proletariat eine zerstörte Industrie verteidigte, sondern – wie 1792 ff. in Frankreich – eine durch eine Bodenreform, letztlich durch eine Agrarrevolution, zu Eigentum gekommene Bauernschaft sich gegen die blutig marodierenden Herren von gestern und gegen deren weißgardistische Henker wehrte. Nach dem Sieg war die Revolution in ihre absteigende Phase eingetreten. Das zuvor weit nach links ausgeschlagene Pendel war zurückgeschwungen, die Entwicklung in Richtung bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft gegangen – unter der Herrschaft der Bolschewiki.
Die KP Chinas versucht seit den achtziger Jahren, den Rodeohengst Kapitalismus zu reiten, ohne abgeworfen zu werden; um das zu verhindern, hat sie bisher vor keiner „Anpassung“ zurückgescheut. Dieser Weg war den russischen Revolutionären der zwanziger Jahre – auch wenn Nikolai Bucharins Überlegungen in diese Richtung wiesen – verbaut. Ihre Revolution hatte das Maximum dessen, was leistbar war, geleistet. Sie hatte gründlich mit dem alten halbbarbarischen Russland aufgeräumt – mit Methoden, die die Härte der Auseinandersetzung diktiert hatte, mit Methoden, gegen die die Jakobinerdiktatur ein Volksfest gewesen war. Aber: Ausgerechnet ihre Revolution hatte einen Kapitalismus entfesselt, den sie eigentlich im Zuge einer Weltrevolution hatten abschaffen wollen. Als sich 1927/28 der Generalsekretär der KPdSU zum – scheinbar – unumschränkten Diktator durchsetzte, schien es allerdings, als seien die Gesetze der Revolutionsgeschichte außer Kraft gesetzt: Der Revolution von 1917 folgte eine selbst erklärte „zweite Revolution“, die Revolution der Stalinschen Garde.
Die Wirklichkeit war profaner, wurde aber selbst von vielen Anhängern der Revolution von 1917 aus zweifellos ehrenwerten Motiven verdrängt: Mit Hilfe der „neuen Klasse“ wurde die Gesellschaft unterworfen und so die riskante bonapartistische Phase beendet. Statt der kapitalistischen Produktionsweise und einer vielleicht bürgerlichen Gesellschaft mit einem entsprechenden Rechtsstaat wurde 1927/28 der Staat entfesselt. Im Namen der „Arbeiter- und Bauernmacht“ etablierte sich ein totalitäres Regime, das eine zu jeglichem Widerstand unfähige „klassenlose“ Gesellschaft herbeizumorden suchte und dabei selbst die „neue Klasse“ keineswegs schonte, sondern bevorzugt verheerte. Unter der Losung „Sozialismus in einem Land“ wurde ein Regime etabliert, das mit Terror eine egalitäre und zu jeglicher Form von Widerstand unfähige Gesellschaft systematisch zurichten ließ: erst die Versklavung und notfalls Ermordung der NÖP-Gewinnler und der freien Bauernschaft (in der Ukraine waren es gleich Millionen, die man aushungerte), dann die endgültige Unterwerfung der nach 1917 zumindest im Ansatz kurzzeitig herrschenden Klasse, also der – zumeist ohnehin unter schwierigsten Bedingungen lebenden – Arbeiterschaft. Danach kam die Garde der Revolution an die Reihe und schließlich jeder, der Individualität nicht zu verbergen vermochte, inklusive Frau Molotowa, die Frau eines der schlimmsten Massenmörder, Stalins Außenminister und Kumpanen Wjatscheslaw Molotow.
Alle sozialen Beziehungen, soweit sie sich auf Vertrauen gründen, wurden absichtsvoll zerstört. Es entstand eine Gesellschaft der Gleichheit, allerdings einer Gleichheit in Unfreiheit, einer Gleichheit in der Angst, einer Gleichheit in der Bindungslosigkeit – letztlich eine Nichtgesellschaft, der alle Insignien einer Zivilgesellschaft fehlten, allen voran die politischen Freiheiten, beschützt durch einen Rechtsstaat. Hier herrschte der Maßnahmestaat – in seiner totalen Entfesselung. Die Nachwachsenden, vom bisherigen Leben „unbeschmutzt“, sollten die „neuen Menschen“ stellen; um die „Alten“ war es nicht schade.
Die Funktionsweise der modernen Gesellschaft, ihre Gesetze, versuchte die Stalinsche Führung zu überlisten – indem sie sie außer Kraft zu setzen schien und ein neues Gesetz setzte. Die Revolution hatte ihr Flussbett verlassen, das Wasser sollte künftig bergauf fließen. Es war letztlich der Versuch, Gott zu spielen.
Der „Sozialismus in einem Land“ funktionierte nur als „Sozialismus der Galgen“, um ein Wort von Albert Camus aufzunehmen. Die Abschaffung aller Klassenmerkmale durch die Beseitigung ihrer Träger – sei es per Lager, sei es per Exekution – wurde zur Grundbedingung von Herrschaft. Es fand nicht die Emanzipation vom Klassendasein und von Klassenherrschaft statt – wie sie einem Karl Marx, einer Rosa Luxemburg und bis zu einem gewissen Grade auch einem Lenin vorgeschwebt hatte –, hier wurde Gesellschaft ersetzt durch ein Oben und Unten, vielleicht besser sogar, durch ein Drinnen und Draußen, zwischen dem der einzelne willkürlich hin- und hergeworfen werden konnte: heute Wärter, morgen Sklave; heute Sklave, morgen General; gestern Chef der Politischen Polizei, morgen Folteropfer. Die Rollen waren austauschbar und wurden getauscht.
Klassenlosigkeit nicht als Resultat großer Klassenauseinandersetzungen, sondern als Resultat des Wirkens eines allgegenwärtigen Polizeistaates, der als „Hauptinstrument der herrschenden Klasse“ – gemeint ist hier nicht die stets vorgeschobene „Arbeiterklasse“, sondern die tatsächlich herrschende Klasse: die „neue Klasse“ der Partei- und Staatsbürokratie – eine angeblich sozialistische Gesellschaft „schuf“. Diese Gesellschaft musste „geschaffen“ werden, weil unter den obwaltenden Bedingungen eine Gesellschaft, die das Etikett „sozialistisch“ rechtfertigte, sich nicht entwickeln konnte.
Entwickeln konnte sich nur eine kapitalistische Produktionsweise – und zwar eine in sehr roher Form. Aber eben diese Produktionsweise mit all ihren Weiterungen für die Gesellschaft galt es zu unterbinden – durch die Schaffung einer Staatswirtschaft und durch die Unterdrückung jeglicher Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft, wie sie in den Revolutionen des 18. Jahrhunderts wenigstens als Garant der individuellen Freiheitsrechte erstritten worden waren. Der Staat schuf sich eine Basis; nicht die Basis einen Staat. Der Staat als Schöpfer, als Gott – der immer nur ein Teufel sein kann.
Marx und Engels hatten einst einen Kasernenkommunismus als Karikatur auf die Idee einer von Ausbeutung und Unterdrückung befreiten Gesellschaft antizipiert und sich darüber lustig gemacht. An der russischen Variante war jedoch überhaupt nichts lustig. Dass der Hitlerfaschismus noch schlimmer wütete und an den Völkern der Sowjetunion – und keineswegs am „Organisator des Sieges“ – scheiterte, machte den russischen Kasernenkommunismus nicht besser.
Nikita Chruschtschow – auch er ein blutbesudelter Massenmörder von Stalins Gnaden – und seine Verbündeten hatten immerhin so viel Vernunft, die Entwicklung zurück ins alte Flussbett zu lenken: Der Kasernensozialismus wandelte sich in eine staatskapitalistisch verfasste Gesellschaft. Am Ende warf die herrschende politische Klasse die staatliche Form des kapitalistischen Eigentums ab und privatisierte es. Boris Jelzin war der Vollstrecker einer Entwicklung, die trotz allen Blutes und Terrors nicht hatte verhindert werden können. Er machte den letzten Schritt der Oktoberrevolution, deren Exponenten geglaubt hatten, eine bessere Welt zu finden, und in Russland doch nur eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft hatten freisetzen können.
Ein solches System konnte keine sozialistische Gesellschaft freisetzen, ein solches System war nur in engen Grenzen reformierbar. Das, was leistbar war, hatten Chruschtschow, Gomulka, Kádár, Ulbricht – auch der sich ständig selbst nachfolgende Ulbricht, während in allen anderen Staaten für die jeweils neuen Rollen jeweils neues Personal bemüht werden musste – nach 1953 geleistet: den Übergang von einer totalitären zu einer autoritären Diktatur. Mit ihm wurde ein halbwegs geordneter Rückzug eingeleitet. Alle Gegner waren niedergeworfen, und trotzdem war nichts gewonnen, außer einer Weltmacht, die aber nicht das Ziel der Revolution gewesen war.
Dass der Weg von einer autoritären Diktatur nicht zu einem Sozialismus mit menschlichem Wesen weiterging, hatte wenig mit dem autoritären, jähzornigen und zum Größenwahn neigenden Chruschtschow zu tun. Die Abschaffung aller politischen Freiheiten schon zu Beginn der russischen Revolution hatte Strukturen hervorgebracht, die nur funktionieren konnten, wenn die politischen Freiheiten abgeschafft blieben. Die politische Unfreiheit war dem real existierenden Sozialismus strukturell tief eingeschrieben. Jeder Versuch, sie zu beseitigen, musste nicht nur die Strukturen, sondern das ganze System wegfegen.
Mitunter wird in diesem Zusammenhang von „strukturellen Defiziten“ gesprochen – ein Euphemismus. Diese Strukturen hatten keine Defizite, die „Defizite“ waren ein konstituierender Bestandteil, ohne den nichts ging. Die langen Jahre zwischen 1953 und 1989/91 vollendeten die absteigende Phase der Revolution von 1917, in der sich die Erben der weitgehend ermordeten Bolschewiki auf ihre neue Rolle in einem entfesselten russischen Kapitalismus vorbereiteten. Und wieder folgten sie sich selbst nach. Gorbatschow – der viel politischen und unpolitischen Unsinn getrieben hat und deshalb Verantwortung für die Gestalt des russischen Kapitalismus von heute trägt – jedoch für den russischen Kapitalismus an sich verantwortlich zu machen, hieße, diesem Mann etwas anzudichten, was selbst weniger schlichte Geister unmöglich vermocht hätten.
Die Erblast, die der Versuch produziert hat, durch eine Partei Sozialismus von oben in eine Gesellschaft einzuführen, wird die Linke, auch die nichtleninistische und antistalinistische, nicht los. Jeder Hinweis darauf, „schon immer dagegen gewesen zu sein“, ist in vielen Einzelfällen zwar zweifellos richtig, ändern aber nichts an dem Umstand, dass alle Linken für die Verbrechen, die im Ostblock im Namen des Sozialismus vorsätzlich geschahen, in Haftung genommen werden. Darüber war sich übrigens eine Rosa Luxemburg – nachdem sie die ersten Nachrichten vom Terror der Bolschewiki erreicht hatten – schon im Sommer 1918 im Klaren. Ihre so oft und vor allem gern missverstandene Schrift zur russischen Revolution18 war im Kern eine Selbstverteidigungsschrift; in ihr beschrieb sie, was sie, sollte sie in die Situation der Bolschewiki geraten, nicht tun würde. Trotzdem wurde sie nach Ausbruch der Novemberrevolution als Bolschewistin wahrgenommen, gejagt und ermordet. (Daran hätte auch nichts geändert, wenn der Text zuvor erschienen wäre.)
Über dieses Niveau, das sich die Luxemburg schon nach wenigen Wochen Revolution erarbeitet hatte, ist die Linke auch neunzig Jahre danach noch nicht hinausgelangt. Ja, viele haben noch immer nicht einmal dieses Niveau erreicht; nicht wenige sind sogar stolz darauf.

Exkurs 3: Herrschaftstechnik Angst
Das Ende des Kalten Krieges, verursacht durch den Zusammenbruch des Ostblocks 1989 und den der UdSSR 1991, wurde in der alten Bundesrepublik Deutschland in den ersten anderthalb Jahrzehnten vielfach missverstanden. Weit verbreitet war die Ansicht: Im Osten ändert sich alles, im Westen nichts.
Die ökonomischen Eliten teilten diese Meinung nicht. Schon seit Mitte der siebziger Jahre kamen sie mit ihrem eigenen „Modell Bundesrepublik“, dem Rheinischen Kapitalismus, nicht mehr zurecht und waren deshalb zu Anfang der neunziger Jahre fest entschlossen, die sich ändernde Situation zu nutzen und ihre Probleme auf Kosten derjenigen zu lösen, die nicht von der Arbeit anderer leben. Das sogenannte Wirtschaftswunder, die lange, bis 1973 dauernde Nachkriegskonjunktur hatte sie mit überdurchschnittlich hohen Wachstumsraten, anfangs mit mehr als acht, später immer noch mit fünf Prozent verwöhnt. Ermöglicht worden waren diese Raten durch ein günstiges Zusammenwirken von fünf Faktoren: der Rekonstruktion der durch Krieg und Nachkrieg gestörten Wirtschaft, des Willens einflussreicher Eliten in den USA, den Fehler von 1919 ff. nicht zu wiederholen (als man Deutschland vorsätzlich im sozialen Ruin gehalten und damit dem Nationalismus in die Arme getrieben hatte), der international dominierenden, auf innergesellschaftlichen Ausgleich zielenden, Idee einer„sozialen Marktwirtschaft“ sowie der Neuordnung des Welthandels und damit der Öffnung des Weltmarktes auch für deutsche Waren; letzteres war Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend verwehrt geblieben. Unter diesen Bedingungen, zu denen die Konkurrenz mit dem Ostblock um das lebenswertere Gesellschaftssystem hinzutrat, hatten sich die ökonomischen Eliten der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren auf ein an sich „undeutsches“ Gesellschaftsmodell eingelassen: „Leben und leben lassen.“
Seit Anfang der neunziger Jahre befindet sich Deutschland nun auf dem Rückweg zur „deutschen Klassengesellschaft“ mit vielen ihrer heute schon vergessenen Widerwärtigkeiten. Natürlich gibt es keine schlichte Neuauflage, sondern es geht um die erneute Ausformung einiger Grundzüge, die dem Kapitalismus auf deutschem Boden schon einmal, zwischen 1850 und 1950, innewohnten, die Herausbildung eines „modernen“ Lumpenproletariats inklusive.
Die Anwendung des Begriffs Lumpenproletariat auf heutige Zustände gilt als unfein. In den vergangenen Jahren ist mit der Forderung nach „political correctness“ eine neue Herrschaftstechnik erfolgreich etabliert worden, durch die jedem Stigmatisierung droht, der Missstände nicht mit Euphemismen oder wenigstens pseudowissenschaftlichem Verschleierungsvokabular im Herrschaft stabilisierenden Nebel belässt, sondern wagt, die Dinge beim Namen zu nennen. Neu ist der Vorgang nicht. Auch die Restauration nach der Niederwerfung Napoleons, das deutsche Kaiserreich, der Nationalsozialismus und der reale Sozialismus kannten ihre Spielarten von Sklavensprache. Um Begriffe wie Lumpenproletarisierung bzw. Lumpenproletariat zu vermeiden, wird heute selbst vor absurdesten Verballhornungen nicht zurückgeschreckt. Im Moment ist das Vokabelkastrat Prekarisierung besonders en vogue. Nur die Betroffenen verstehen es nicht und verweigern sich seiner Verwendung; womit es seine Aufgabe erfüllt hat.
Während die normalen Medienkonsumenten noch ab und an zumindest ausschnittweise mit dem politisch gewollten Absturz ganzer Menschengruppen konfrontiert werden, erfahren sie über die Lage vieler Zuwanderer aus den ärmsten Teilen der Welt zumeist nichts, es sei denn, sie suchen sehr gezielt nach Information. Zwar herrschen in Deutschland keine Zustände wie in Frankreichs Trabantenstädten; aber wie die Lebenslage vieler der mehrfach ausgegrenzten Ausländer, vor allem der Frauen und Kinder, ist – darüber schweigen die Medien aus gutem Grund, und eigentlich will es eine Mehrheit der Deutschen auch nicht wissen.
Zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem haben die politischen und wirtschaftlichen Eliten Deutschlands einen großen Teil der Jugend gemacht. Wurden die nachwachsenden Generationen von den verschiedenen Systemen seit 1933 – aus zweifellos sehr unterschiedlichen Motiven – stets umworben, erleben nun große Teile einer jungen Generation erstmals seit der Weltwirtschaftskrise wieder, dass niemand auf sie wartet, dass niemand sie braucht – bestenfalls, wenn überhaupt, dann als das wehrlose Ausbeutungsobjekt „Praktikant“, das jederzeit weggeworfen werden kann. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten wurden in der Großindustrie mit der Umstellung auf eine ausschließlich am Aktienkurs orientierte Betriebswirtschaft nicht nur systematisch Arbeitsplätze, sondern auch Ausbildungsplätze vernichtet. Hinzu kommt: Nirgends in den entwickelten kapitalistischen Ländern hängt der Bildungsweg eines Kindes so sehr vom Einkommen und vom Status der Eltern ab wie in Deutschland; in diesem Punkt ist die klassengesellschaftliche Restrukturierung der deutschen Gesellschaft besonders stark fortgeschritten. Die Massenuniversität verkommt zur Warteschleife, mit der der individuelle Eintritt in die Hartz-IV-Karriere verzögert wird; wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf Privatuniversitäten, die neuen Rekrutierungsstationen für die künftigen „Eliten“.
Eine besondere Note erhält das Ganze im Nordosten Deutschlands, besonders in dessen ländlichen Gebieten, die seit mehr zwanzig Jahren als Laboratorien für die Zurichtung einer neuen deutschen Asozialität dienen. In Mecklenburg-Vorpommern östlich von Wismar und südlich der Ostseeküste, in vielen Randbezirken des Landes Brandenburg von der Prignitz über die Uckermark und das Oderbruch bis zur Lausitz, in den Industriebrachen der Länder Sachsen-Anhalt und Sachsen herrscht nicht nur schlicht Bevölkerungsschwund. Wie stets in Elendsgebieten wandern vor allem die ab, die anderswo auch nur eine minimale Chance zu sehen glauben. Zurück bleiben die Rentner, die Chancenlosen und ein paar Beamte. Wie zuletzt in dieser Gegend während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) hat ein „Rückbau“ des Bildungs- und Qualifizierungsniveaus große Flächen erfasst. Brachten in den Jahrhunderten nach dem Dreißigjährigen Krieg holländische Handwerker und hugenottische Emigranten einen Teil dieser Gebiete zurück in die europäische Wirtschaft, werden es in den nächsten fünfzig Jahren wohl osteuropäische Einwanderer richten müssen; den endogenen Kräften ist jedenfalls vorsätzlich das Rückgrat gebrochen worden.
Das „moderne“ Lumpenproletariat, das sich aus all diesen Quellen speist, wirft bisher mehr seine Schatten an die Wand, als dass es schon tatsächlich existiert. Trotzdem ist es längst zu einem gesellschaftlich relevanten Faktor geworden. Keine Diktatur kann so effizient, flächen- und jede Tages- und Nachtzeit deckend eine Gesellschaft mit dem Lähmungsgift Angst kontaminieren wie das Wissen um eine „Unterwelt“ des Lumpenproletariats – eine „Unterwelt“, vor der nichts verlässlich schützt, nicht einmal die Abstinenz von Unbotmäßigkeit, und die trotzdem stets als erstes erzeugt wird. Die christliche Hölle wird säkularisiert; jeder Unternehmer darf sich im Nebenamt als Ablasshändler gerieren: Tausche Wohlverhalten gegen vorläufige Weiterbeschäftigung.
Angst zerstört jede Zivilcourage, verwandelt die Gesellschaft in eine Agglomeration bindungs- und damit hilfloser, das heißt zu jeder Form von Widerstand unfähiger Individuen. Die deutschen Eliten haben den Schierlingsbecher randvoll mit Angst gefüllt und der Gesellschaft gereicht; ob er auch der parlamentarischen Demokratie angeboten oder sein Inhalt doch weiterhin als Kontaktgift verabreicht wird, ist noch nicht entschieden.
Bei den Reichstagswahlen 1930 meldeten sich das Lumpenproletariat und mehr noch diejenigen, die sich und ihre Nachkommen von einem Absturz in diese „Unterwelt“ bedroht fühlten, massiv in der Gesellschaft zurück: politisch, mit der NSDAP. Die konnte ihre Mandate gegenüber den Wahlen von 1928 auf 107 verneunfachen. Mit ihrer Ablehnung des gesamten „Systems“ war die NSDAP zum adäquatesten Ausdruck des Hasses der Ausgegrenzten und noch mehr der von Ausgrenzung Bedrohten geworden. Die Massenbasis von Faschismus und Nationalsozialismus ist, bevor das Verbrechen an die Macht gelangt, weder besonders faschistisch noch nationalsozialistisch, sondern zuallererst verzweifelt. Verbrecher werden gemachtIm Moment haben die Faschisten in Deutschland dort, wo mehrere Schichten an Verelendung ineinander schmelzen, die größten Erfolge: nicht nur im Nordosten, sondern auch in den ländlichen Regionen Niedersachsens und von Schleswig-Holstein.
In Deutschland mit seinem verordneten Antikommunismus ist der Faschismus-Begriff in den vergangenen zwanzig Jahren zielgerichtet aus der Mode gebracht und durch den Begriff „Rechtsradikalismus“ ersetzt worden, weil mit ihm problemlos der begriffliche Bezug zum „Linksradikalismus“, der Lebensquelle jedes Antikommunismus’, latent gehalten werden kann.
Ich beteilige mich bewusst nicht an diesem Verniedlichungs- und Verwischungsspiel und verwende für antidemokratische, völkische und xenophobe Bewegungen den eindeutigeren Begriff Faschismus, wohl wissend, dass aus einem Faschismus der Nationalsozialismus hervor wachsen kann, aber nicht muss.
Ändert sich an all diesen Tendenzen zum Rand der Gesellschaft hin auf absehbare Zeit nichts Grundlegendes, wird dort ein Hass auf die heutigen Zustände und auf die sie verwaltenden Institutionen heranwachsen, für den eines Tages die gesamte Gesellschaft bitter zu bezahlen haben könnte. Freilich ist davon bisher wenig zu spüren; die ins soziale Aus Gedrängten verhalten sich harmlos. Schlimmstenfalls verweigern sie ihre Teilnahme an Wahlen – was den in den Parlamenten vertretenen Parteien nicht ernsthaft wehtut. Gefährlich wird es erst, wenn sich jemand anbietet, der fähig ist, diesen Hass in den Raum der Politik zu tragen.

Exkurs 4: Vor- und Nachkapitalistisches
Während sich die „kleinen Leute“ in die Verbrechen des Nationalsozialismus zumeist verstrickt hatten bzw. in sie verstrickt worden waren, hatten sich die deutschen, insbesondere die wirtschaftlichen Eliten vorsätzlich und absichtsvoll als Hauptnutznießer des Angriffskrieges betätigt. Sie waren führend an der Ausplünderung Europas durch den Nationalsozialismus beteiligt – im besonderen an der Ausbeutung von Zwangsarbeitern, wenngleich sich ihre Verbrechen darauf nicht reduzierten. 1945 verkleinerte sich durch die Niederlage und den Verlust der Ostgebiete mit dem oberschlesischen Industriegebiet und der Sowjetischen Besatzungszone mit großen Teilen der Berliner Wirtschaft und dem sächsischen Industriegebiet zwar ihre industrielle Basis spürbar. Aber sie konnten vieles vom Zusammengeraubten in die Nachkriegszeit retten, mit dem Ergebnis, dass die entstehende westdeutsche Wirtschaft trotz Kriegszerstörungen und Besatzung gestärkt – ja mehr noch: modernisiert – aus dem Krieg hervorging.
Durch ihr Bündnis mit dem Nationalsozialismus waren allerdings große Teile der deutschen Eliten sowohl international als auch national desavouiert. Gefährlich waren für sie besonders die im Potsdamer Abkommen niedergelegte Absicht, die deutsche Wirtschaft zu entflechten und zu schwächen – von den Westmächten aus dem Motiv heraus betrieben, den deutschen Konkurrenten endgültig auszuschalten – sowie ein auch in der westdeutschen Gesellschaft verbreitetes antikapitalistisches Klima. Selbst die CDU propagierte nach dem verlorenen Kriege offiziell Planwirtschaft und Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Viele von Hitlers „Wehrwirtschaftsführern“ wurden von den Westalliierten entmachtetDoch die Rettung kam bald: mit dem Kalten Krieg. Die deutschen Industriepotentiale und damit die deutschen Eliten wurden wieder benötigt. Allerdings ging es ohne einen „Kulturwandel“ nicht ab.
Sollte der Kapitalismus innenpolitisch wieder Akzeptanz finden, musste der von den deutschen Eliten bis 1945 gepflegte Herr-im-Hause-Standpunkt einer bis dahin unbekannten Demut und einer Kultur des Klassenkompromisses weichen. Der Kalte Krieg beförderte diesen Wechsel zusätzlich, denn die Systemkonkurrenz mit dem die soziale Gerechtigkeit herausstellenden Ostblock verlieh dem Wandel im Politikstil von Konfrontation und Dünkel zu Kooperation und Weltoffenheit Nachhaltigkeit. Die Arbeiterproteste gegen die sozialen Auswirkungen der unternehmerfreundlichen Währungsreform vom Sommer 1948 und namentlich deren Niederschlagung durch die mit Panzern auffahrenden US-Truppen am 12. November 1948 in Stuttgart taten ein Übriges. „Leben und leben lassen“ wurde zum Grundgefühl einer Epoche, die am 9. November 1989 endete.
Seit Anfang der neunziger Jahre erlebt die Bundesrepublik erstmals in ihrer Geschichte beinahe Jahr für Jahr einen Reallohnrückgang. Die großen deutschen Industrie- und Finanzunternehmen haben in dieser Zeit Gewinne wie sonst in den vergangenen 150 Jahren nur in der Kriegszeit zwischen 1940 und 1944, als sie billige Zwangsarbeiter ausbeuten konnten, gemacht. Die Gewerkschaften, die anderthalb Jahrzehnte lang diese Entwicklung in der Erwartung tolerierten, dass ihre Zugeständnisse bei der Einkommensentwicklung durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze belohnt werden würden, haben jüngst das Scheitern ihrer Politik eingestanden.
Zugleich schenkten die regierenden Parteien den oberen Zehntausend durch Steuersenkungen – mehrere zehn Milliarden Euro. Das Muster war denkbar schlicht: Kaum war eine Steuersenkung – Spitzensteuersatz, Körperschaftssteuer etc. – beschlossen, stellten mit schöner Berechenbarkeit die Vertreter der Wirtschaftsverbände die nächsten Forderungen auf – die wiederum prompt erfüllt wurden. Unter Rot-Grün (1998–2005) hat die Bundesrepublik den Weg zu einem Steuerparadies für Reiche eingeschlagen.
Eingebettet war das international in den Übergang zu einem neuen, besonders gesellschaftszerstörenden Kapitalismustyp: Finanzspekulationen gehörten zwar als Sektor schon immer zur kapitalistischen Wirtschaft, mit der Unterwerfung der gesamten Wirtschaft unter die „Logik“ der Finanzspekulationen und dem Aufblähen einer nicht mehr beherrschbaren Spekulationsblase wurde jedoch die Mehrwertproduktion – einst der Motor dieser Produktionsweise – als Profitquelle zumindest für einige Zeit in den Hintergrund gedrängt. Kommt es zu einem Totalkollaps des Weltfinanzarchitektur, kann sich das allerdings ganz schnell wieder ändern.
Ein Ergebnis wird jedoch bleiben: Unter den wirtschaftlichen Eliten haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Amoralität und Asozialität entfaltet wie seit dem Dritten Reich nicht mehr.
Mit der Rechtfertigung „Umbau des maroden Sozialstaats“ wurde schon in der Ära Kohl begonnen, die erreichten sozialen Standards aufzuweichen. Unter Rot-Grün nun wurde der Sozialstaat in einen Obrigkeitsstaat rückgebaut, dessen erste Aufgabe es ist, durch „verfolgende Betreuung“ den allseits verfügbaren Menschen zu schaffen: modern, aufgeschlossen, mobil, oder weniger systemfromm formuliert: ohne Bindung, in jede Arbeit hinein zu zwingen, an jedem Ort einzusetzen – in der deutschen Geschichte nur bekannt durch den Reichsarbeitsdienst; bei dem dauerte allerdings der Einsatz lediglich ein Jahr.
Da durch die Automatisierung mit der Mehrwertproduktion allein – und mit Finanzspekulationen auf Dauer – kein Kapitalismus zu machen ist, wird seit den achtziger Jahren ein vorkapitalistischer Ausbeutungstyp neu entwickelt. Die bisherige Infrastruktur – Energieversorgung, Verkehr, Wasser- und Abwasserversorgung, Post, sogar die Bildung und die Behandlung von Kranken und Bedürftigen – wird nicht mehr als gesellschaftlich notwendiges und durch die Gesellschaft als Ganzes zu unterhaltendes Kapilarensystem behandelt, sondern als Quelle von Gewinn. Abgesichert durch selbst herbeigeführte internationale Diktate wie GATS wird eine Monopolisierung aller Ressourcen betrieben, mit dem Ziel, eine moderne Wegelagerei zu etablieren. Nicht mehr nur der einzelne Lohnabhängige, sondern die gesamte Bevölkerung wird zum Ausbeutungsobjekt – wobei es die „Bedarfsgemeinschaften“ mit geringem Einkommen existentiell trifft.
Für die künftige politische Entwicklung dürfte diese Ausplünderung von einiger Relevanz sein, denn neben den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit tritt nun endgültig der Widerspruch zwischen Kapital und Konsum. Damit entsteht strategisch eine neue Konfrontationslinie.
Doch nicht nur die Mehrwertproduktion lahmt, auch die „Wertproduktion“, die durch den Tausch auf dem Markt stattfindet, fängt an zu stottern. Selbst im lange Zeit kaum innovationsanfälligen Verlagswesen beginnen sich Marktstrukturen aufzulösen. Book on Demand kommt, zumindest theoretisch (zunehmend aber auch praktisch) ohne Marktvermittlung aus: Immer häufiger lässt der Endproduzent, der Verlag, die Maschinen nur noch anstellen, wenn es einen Bedürftigen nach einer bestimmten Lektüre verlangt. Zwischenhändler können, müssen aber längst nicht mehr sein.
Noch signifikanter stellt sich die Entwicklung beim E-Book dar. Der Lesestoff wird immateriell aufbereitet und nur bei Bedarf geliefert – im Moment noch über Händler, zunehmend aber durch die Verlage selbst. Endproduzent und Konsument sind unvermittelt – ohne Markt und zudem noch immateriell – miteinander verbunden.
Täglich mehr Produkte haben für ihren Weg zum Verbraucher den höchst unsicheren Irrpfad über den vermeintlichen Königsweg „Markt“ einfach nicht mehr nötig. Das galt bisher nur für Luxusgüter im High-End-Bereich.
Immer häufiger werden Produkte nicht mehr für einen anonymen Markt produziert, auf dem sie sich bewähren müssten. Produktion wird auf die Produktion von Gebrauchswerten zurückgeführt. Hier erfährt der Produzent nicht, wie bisher, erst im nachhinein, ob sein Produkt für andere einen Wert besitzt, es also benötigt wird – und ob seinem Tun, wenn schon nicht Sinn, so doch wenigstens Erfolg beschieden war.
Die Wertstrukturen, die eine große Vergangenheit und einen langen Siegeslauf hinter sich haben, gleiten unversehens ins milde Licht der Abenddämmerung. So wie vor 200 Jahren die industrielle Revolution die Technologien hervorbrachte, die ermöglichten, den Wertzusammenhang als allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhang durchzusetzen, entbindet die digitale Revolution Technologien, die seine Auflösung zwar nicht erzwingen, aber ermöglichen.
Natürlich steht das alles erst am Anfang. Noch ist das Geld das Vermittlungsmedium, wobei die Feststellung des Preises immer schwieriger wird – entfällt doch bei Beziehungen, die nicht durch den Markt entfremdet sind, die Wertbildung, also der Ausgangspunkt für jeden Preis. Denn der Wert klebt an einem Produkt nicht in Form der zu seiner Herstellung benötigten Arbeitszeit – er entsteht erst in der gegenseitigen Spiegelung verschiedener Produkte, die sich im Blind-Date-Verfahren auf dem Markt begegnen. Ohne Marktvermittlung keine Wertentstehung, geschweige denn eine Wertermittlung.
Hinter unser aller Rücken treibt die kapitalistische Produktionsweise Prozesse hervor, die über sie hinausweisen – eine Perspektive, die zu ertragen besonders für jene anstrengend ist, die in den jetzigen Zuständen gerade erst, erschöpft, angekommen sind.
Noch läuft das alles ohnmächtig, sich überkreuzend, konterkarierend, manchmal aber auch sich schon gegenseitig verstärkend. Bis jetzt existiert jedoch kein gesamtgesellschaftlicher Wille, auch nur zu reflektieren, was seit einiger Zeit dieser ständig krisengefährdeten Markt-Gesellschaft immer heftiger widerfährt.19

Die Linke ist bunt – oder überflüssig
Während die englische Revolution im Klassenkompromiss der Glorious Revolution von 1689 mündete und seitdem gentry und middle class gemeinsam die Gesellschaft beherrschen, ohne einander weh zu tun, gingen im nachrevolutionären Frankreich die Kämpfe vor allem im bürgerlichen Lager und zwischen seinen verschiedenen Fraktionen munter weiter (1815, 1830, 1848/49, 1870), und zwar so heftig, dass ihr System gleich zweimal durch bonapartistische Diktaturen (1799, 1851) funktionsfähig gehalten werden musste.
Ein Ende fanden diese ständigen Kleinkriege erst mit der Pariser Kommune von 1871 – durch deren Drohung, die gesamte bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft wegzufegen. Erst jetzt setzte sich im bürgerlichen Lager Frankreichs die Maxime durch, dass zwar immer nur eine bürgerliche Fraktion regieren, sie sich aber nur halten könne, wenn sie die Interessen aller Fraktionen berücksichtigt. Kleinster gemeinsamer Nenner ist dabei die Verteidigung des Privateigentums an Produktionsmitteln.
So wie die Revolution der Franzosen von 1789 ff. die Durchsetzung bürgerlich-kapitalistischer Zustände – welthistorisch gesehen – unumkehrbar machte, hat die Kommune diese Maxime endgültig und unvergesslich ins politische Selbstverständnis des bürgerlichen Lagers eingebrannt – ebenfalls weltweit.
Die Linke hingegen steckt trotz vieler sozialdemokratischer Regierungen, trotz russischer Revolution und Stalinismus, trotz 1989 und neoliberaler Gesellschaftszerstörung immer noch dort, wo das bürgerliche Lager Frankreichs bis 1870 stand. Überall in der Welt ist das so, auch im angeblichen Sozialismus des 21. Jahrhunderts.
Solange diejenigen, die in einem Lager stehen, es als wichtigste Aufgabe ansehen, einander zu verachten, zu denunzieren und zu bekämpfen, kann es zwar immer mal wieder vorkommen, dass eine Fraktion die Macht übernimmt, wie gerade in Venezuela, Ecuador und Bolivien geschehen – aber eine Gesellschaft, in der die politischen und sozialen Freiheiten für alle durchgesetzt sind, wird auf diesem Weg nicht freigesetzt werden können. Weitere Ausflüge dieser Art kann man sich getrost schenken.
Nur eine kooperative Linke wird für Mehrheiten, die längst existieren, dauerhaft politisch attraktiv und bündnisfähig. Der erste Schritt wäre ein Diskurs – darüber, ob es einen kleinsten gemeinsamen Nenner gibt, auf den sich alle Linken verständigen könnten.20
Als Alternative bliebe, dass auch weiterhin jeder so Recht hätte.

  1. Kurt Tucholsky:  Das Wirtshaus im Spessart, in: ders.: Gesammelte Werke, hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Bd. 5, Reinbek 1995, S. 376.
  2. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. V/1, Frankfurt a. M. 1991, S. 592.
  3. Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke (MEW); Bd. 8, S. 115.
  4. Alle Zitate aus http://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1891/erfurt.htm; siehe auch: Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1891 (Erfurter Programm), in: Lothar Berthold, Ernst Diehl: Revolutionäre deutsche Parteigprogramme, Berlin 1964, S. 82-86.
  5. Friedrich Engels: Zur Kritik des Sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: http://www.mlwerke.de/me/me22/me22_225.htm; siehe auch Berthold, Diehl: Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, S. 87-100 bzw. in: MEW, Bd. 22, S. 227-238.
  6. Selbst auf wikipedia sind die Angaben über diese Frau nicht nur unvollständig, sondern in großen Teilen schlichtweg falsch. http://de.wikipedia.org/wiki/Angelica_Balabanova
  7. Angelica Balabanoff: Lenin oder: Der Zweck heiligt die Mittel. Erinnerungen, Berlin 2012 (im Erscheinen).
  8. Das Heidelberger Programm schrieb das Erfurter Programm in wesentlichen Zügen
 fort. In der Frage der Mittelschichten war es zwar etwas realitätsnäher und trotzdem noch 
weit entfernt von der Realität: „Zugleich wächst mit dem Vordringen der Großbetriebe in
 der Wirtschaft Zahl und Bedeutung der Angestellten und Intellektuellen jeder Art. Sie üben in dem vergesellschafteten Arbeitsprozess die Leitungs-, Überwachungs-, Organisations- 
und Verteilungsfunktionen aus, sie fördern durch wissenschaftliche Forschung die Produktionsmethoden. Mit dem Anwachsen ihrer Zahl verlieren sie immer mehr die Möglichkeit des Aufstiegs in privilegierte Stellungen, und ihre Interessen stimmen in steigendem Maße mit denen der übrigen Arbeiterschaft überein.“ http://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/spd/1925/heidelberg.htm
  9. Bei der Analyse der Pariser Kommune ging er dabei sehr ins Detail. Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW, Bd. 17,
 S. 338 ff.
  10. Ebenda, S. 343.
  11. Vollständig lautet das Zitat: „Wir unterschieden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit – nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialem Inhalt zu füllen.“ Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 363.
  12. Ders.: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, S. 385.
  13. Bereits in ihren allerersten Schriften legte Rosa Luxemburg größten Wert auf die Freiheitsrechte, die erst in der bürgerlichen Gesellschaft erkämpfbar sind. Am Ende ihres Weges, im Gefängnismanuskript zur russischen Revolution, schrieb sie den Bolschewiki ins Stammbuch, dass Sozialismus ohne Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Koalitionsfreiheit kein Sozialismus sei, weil die Herrschaft nur mit diktatorischen – also antisozialistischen – Mitteln aufrechterhalten werden könne.
  14. Milovan Djilas: Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München 1958.
  15. Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, S. 118.
  16. Paul Levi: Einleitung zu „Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung. Aus dem Nachlass von Rosa Luxemburg“ [1922], zuletzt in: Rosa Luxemburg und die Freiheit des Andersdenkenden. Extraausgabe des unvollendeten Manuskriptes „Zur russischen Revolution“ und anderer Quellen zur Polemik mit Lenin, zusammengestellt und eingeleitet von Annelies Laschitza, Berlin 1990, S. 177-231, hier besonders S. 217-222.
  17. Unter dem Druck von Volksbewegungen radikalisierten sich in den „reifen“ Revolutionen, der Englischen Revolution des 17. Jahrhunderts und der Großen Revolution der Franzosen von 1789, die Forderungen von der Freiheit und dem Schutz des Privateigentums hin zur demokratischen Teilnahme am politischen Geschehen und sozialer Gleichheit; im Zuge dieser Radikalisierung wurde das Besitzbürgertum, das sich „aufs Pferd der Revolution“ geschwungen hatte, durch immer radikal-demokratischere Fraktionen des Bürgertums verdrängt; jede nachfolgende Fraktion setzte Forderungen durch, die der vorhergehenden zu radikal waren; 1793/94 schlug die Revolution in den Terror der Jakobinerdiktatur um; nach deren Sturz trat die Revolution in ihre absteigende Phase, 1799 in die bonapartistische Phase und 1815 in die Restauration ein. „Damit selbst nur diejenigen Siegesfrüchte vom Bürgertum eingeheimst wurden, die damals erntereif waren, war es nötig, dass die Revolution bedeutend über das Ziel hinausgeführt wurde – ganz wie 1793 in Frankreich und 1848 in Deutschland. […] Auf dies Übermaß revolutionärer Tätigkeit folgte die unvermeidliche Reaktion“. (Friedrich Engels: Einleitung [zur englischen Ausgabe der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“], in: MEW, Bd. 22, S. 301) Die Bolschewiki traten als äußerste linke Fraktion in die Revolution ein, übernahmen im Oktober 1917 zusammen mit den Linken Sozialrevolutionären die Macht und verstanden es, nach deren Ausschaltung auch in der absteigenden Phase ihre Macht zu sichern – um den Preis, dass sie jeweils die Lösung von Aufgaben übernahmen, die mit ihrem ursprünglichen politischen Programm wenig zu tun hatten – folgten sich also „ständig selbst nach“ –, bis 1927 die Revolution in die Stalinistische Restauration mündete, in der versucht wurde, mit Hilfe eines entfesselten Maßnahmestaates eine „sozialistische“ Gesellschaft zu zeugen – ein nicht entwicklungsfähiges Kunstprodukt, letztlich lebensfeindlich.
  18. Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution [1918], in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 332-365.
  19. Erste Anläufe aber gibt es immerhin: Heinrich Harbach: Wirtschaft ohne Markt. Transformationsbedingungen für ein neues System der gesellschaftlichen Arbeit, Berlin 2011.
  20. „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“ Marx an Bracke, 5. Mai 1875, in: MEW, Bd. 34, S. 137.