Der verregnete Sommerbeginn bot in diesem Jahr mehr Gelegenheit für ausgiebige Lektüre als sonst. Dadurch bekamen auch dickere Bücher, die als Strandkorb-, Liegestuhl- oder Campinglektüre weniger geeignet sind, eine Chance. Unter ihnen befand sich der im Frühjahr 2025 erschienene 750-Seiten-Roman „Das Narrenschiff“ von Christoph Hein. Das opulente Werk ist ein Gesellschaftsroman, kein historisches Fachbuch. Da hierin neben fiktiven Gestalten aber auch historische Persönlichkeiten vorkommen und erfundene Handlungen vor dem Hintergrund realer Ereignisse spielen, ist es zugleich ein Dokument aktueller historischer Aufarbeitung von knapp einundvierzig Jahren DDR-Geschichte. Und damit der Lebensgeschichte des 1944 in Schlesien geborenen und in der DDR beheimateten Autors – sowie eines Großteils seiner Leser.
Warum der Autor seinem Buch den an Sebastian Brants divina satira aus dem Jahre 1494 erinnernden Titel „Das Narrenschiff“ gegeben hat, wollte sich mir trotz einiger Bemerkungen im Text nicht gänzlich erschließen. Das Werk ist schließlich keine Gesellschaftssatire. Vielleicht sah Hein im Staatsschiff „DDR“ tatsächlich so etwas wie ein von Narren gesteuertes und daher von vornherein zum Untergang verurteiltes Projekt. Die Charakterisierung führender SED-Funktionäre wie Erich Honecker und Egon Krenz als „Piefkes“ und „Jungpioniere“, als inkompetente „Idioten“ und „Kretins“ würde dafür sprechen. Ebenso wie die bitteren Erfahrungen, die eine seiner Hauptgestalten, der Ökonom Karsten Emser, während der 1930er und 1940er Jahre in der Sowjetunion machen musste. Aber gilt dies auch für das Gesellschaftsexperiment des Sozialismus insgesamt? Mit dieser Frage sieht man sich als Leser konfrontiert.
Tatsache ist, dass das realsozialistische Experiment in der Sowjetunion, der DDR und anderswo gescheitert ist. Über die Ursachen des Scheiterns und über den „Kipppunkt“, von dem aus es keine Überlebenschance, keine Rettung mehr gab, kursieren aber recht unterschiedliche Auffassungen: So vertritt zum Beispiel der antikommunistische Marxologe Konrad Löw den Standpunkt, dass „das Ende“ des Sozialismus bereits „vor dem Anfang“ desselben, also schon 1849, feststand, da das „Kommunistische Manifest“ auf Denkfehlern und unzutreffenden Voraussetzungen beruhte. Im vorliegenden Buch datiert der Ökonom Kremser den Wendepunkt in der UdSSR auf das Jahr 1937, den Zeitpunkt der Moskauer Prozesse. Die DDR als ein von der Sowjetunion abhängiger Staat hätte demnach nie eine wirkliche Chance gehabt. Eingekeilt zwischen Ost- und Westblock hing ihre Existenz von der Interessenlage der Sowjetunion, der USA und der Bundesrepublik Deutschland ab. Allein und auf sich gestellt aber war die DDR chancenlos und ihr Staatsschiff drohte auf seinem Kurs an den Klippen der Weltpolitik zu zerschellen.
Dem steht die Auffassung gegenüber, dass es in der DDR während der Reformphase von 1963 bis 1971 durchaus Chancen gab, das Ruder herumzureißen, mit dem Stalinismus zu brechen und eine ökonomisch effiziente und demokratische Gesellschaft aufzubauen. Diese Option wurde allerdings mit der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 und der Ablösung Walter Ulbrichts durch Honecker im April 1971 zunichte gemacht. Beide Ereignisse spielen im Buch eine zentrale Rolle, die Reformphase selbst aber und die daran geknüpften Hoffnungen und Reformideen bleiben in der Darstellung bemerkenswert unterbelichtet. Dies hat konzeptionelle Gründe, denn Hein glaubte offenbar nicht an eine von der Ökonomie ausgehende und von wirtschaftlichen Reformen getragene Wende in der Gesellschaft. Für ihn zählten eher Kultur und Politik. Dagegen spricht auch seine dem Ökonomen Karsten Emser in den Mund gelegte Verspottung der These Ulbrichts vom „Überholen, ohne einzuholen“ als jahrzehntelang verkündeter „reiner Unfug“.
Ulbricht hatte diese These erstmals 1957 formuliert und sie in den 1960er Jahren mehrmals wiederholt. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die DDR, sofern sie sich als echte gesellschaftliche Alternative zur kapitalistischen BRD versteht, dem westlichen Wirtschafts-, Kultur- und Konsummodell nicht nur nacheifern dürfe, sondern auch eigene, sozialistische Konzepte entwickeln und realisieren müsse. Diese Aussage ist, sofern man sie nicht bloß auf Jugendmode, Haartracht und Unterhaltungsmusik bezieht, sondern auch auf Technologien, Produktionsmethoden, Mobilitätslösungen und Konsummuster, keineswegs so absurd, wie mitunter unterstellt wird. Sie besitzt neben ihrer Begründung als Gesellschaftsalternative überdies eine logische Rechtfertigung. Die geht auf das populäre Paradoxon des griechischen Philosophen Zenon vom Wettlauf des Achilles mit der Schildkröte zurück. Das Paradoxon besagt, dass Achilles, obwohl er viel schneller ist als die Schildkröte, sie nicht einholen kann, sofern ihr anfangs ein Vorsprung eingeräumt wird. Dies liegt daran, dass Achilles, wenn er die Schildkröte einholen will, immer erst den Punkt erreichen muss, an dem sie schon war, während sie sich in der Zwischenzeit weiterbewegt. Er kann sie daher auf diese Weise niemals einholen. Würde er jedoch darauf verzichten, jeden Schritt der Schildkröte nachzuvollziehen und stattdessen mit großen Schritten an ihr vorbeilaufen, so würde er sie bald überholt haben.
In der Ökonomie firmiert dieses Problem als Unterschied zwischen einer Vorauswirtschaft und einer Nachholwirtschaft, wobei letztere immer dichter an erstere herankommt, sie aber niemals einholt, geschweige denn überholt. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der „Aufbau Ost“, der trotz Wirtschaftsförderung und beachtlicher Investitionen in den ostdeutschen Bundesländern seit 1991 nur zu einer Verringerung des Abstands gegenüber dem Westen, nicht aber zu einem wirtschaftlichen Gleichstand geführt hat. Ökonomen sprechen von einem „Aufholen, ohne einzuholen“. Um in Ostdeutschland zu einer selbsttragenden und niveaugleichen Wirtschaft zu kommen, müsste man zumindest auf einigen Gebieten den Westen überholen, statt zu versuchen, ihn Schritt für Schritt einzuholen. Dies aber würde andere Methoden des Wirtschaftens, bessere Technologien, alternative Wirtschaftsformen, wirksamere Forschung und mehr Innovationen voraussetzen. Zum Beispiel in der Energiewirtschaft, im öffentlichen Personennahverkehr, im Bildungswesen, in der Lebensweise und im Konsum. Ulbricht hatte das begriffen, andere wohl nicht. Seine These sollte deshalb nicht von vornherein als „reiner Unfug“ abqualifiziert werden, wie Hein es tut. Lediglich die damit verfolgte Zielstellung wäre zu hinterfragen und auf ihre Tragbarkeit zu überprüfen gewesen.
Vielleicht lag die Narretei der DDR weniger in dem missglückten Versuch, eine Alternative zu wagen, als im Verzicht darauf und dem unter Honecker unternommenen Versuch, den Westen einzuholen, indem man ihn kopiert. Zumal die DDR dabei Schiffbruch erlitt und unterging.
Schlagwörter: Christoph Hein, DDR, Ökonomie, Ostdeutschland, Ulrich Busch, Walter Ulbricht


