Frieden ist nicht alles,
aber alles ist ohne Frieden nichts.
Willy Brandt
Das Papier „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“ ist ein Manifest der Friedenskreise der SPD*. Unter den über 100 Erstunterzeichnern finden sich neben dem ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich mit Sanae Abdi, Nina Scheer, Ralf Stegner und Maja Wallstein noch vier weitere SPD-Bundestagsabgeordnete.
Kaum war das Manifest publiziert, sah es sich heftiger Kritik von Politik und Medien ausgesetzt:
- „Der grüne Außenpolitiker Robin Wagener unterstellt Ralf Stegner und Rolf Mützenich, russische Propaganda nachzuplappern und einen Angriffskrieg zu legitimieren.“ (taz)
- Roderich Kiesewetter (MdB-CDU): „Ungeheuerlich.“ Die Verfasser des Manifestes wollten die Ukraine „der Vernichtungsabsicht Russlands ausliefern & uns mit!“. (X)
- Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD): „Dieses Papier ist Realitätsverweigerung. Es missbraucht den Wunsch der Menschen in unserem Land nach Ende des furchtbaren Krieges in der Ukraine. Nach Frieden.“ (tagesschau)
Am tiefsten unter die Gürtellinie langte der Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete und Ex-Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Parlaments, Michael Roth: „Dieses ‚Manifest‘ ist kein spannender Debattenbeitrag, sondern eine weinerliche Melange aus Rechthaberei, Geschichtsklitterung und intellektueller Wohlstandsverwahrlosung.“ (FOCUS)
Auffällig allerdings: Vorherrschend sind Pauschalverdikte ohne substanzielle Auseinandersetzung in der Sache. Daher zunächst die Frage: Was steht denn nun konkret Schlimmes in dem Papier? Beim Lesen (zum Wortlaut hier klicken) wird schnell klar: Jedenfalls nicht der sicherheitspolitische Sermon, den der politische und mediale Mainstream hierzulande im Hinblick auf Russland seit Jahren predigt.
Das beginnt mit folgender Zustandsbeschreibung der aktuellen mentalen Verfasstheit des Westens: „In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten haben sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen. Frieden und Sicherheit sei nicht mehr mit Russland zu erreichen, sondern müsse gegen Russland erzwungen werden. Der Zwang zu immer mehr Rüstung und zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Krieg wird beschworen, statt notwendige Verteidigungsfähigkeit mit einer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen, um gemeinsame Sicherheit und gegenseitige Friedensfähigkeit zu erreichen.“
Der anschließende Blick auf die Vorgeschichte fällt entschieden differenzierter aus, als man es von den erwähnten Predigern seit Jahr und Tag hört oder liest: „Die auf den Prinzipien der KSZE Schlussakte basierende europäische Sicherheitsordnung wurde schon in den letzten Jahrzehnten vor dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine immer mehr untergraben – auch durch den ‚Westen‘ – so etwa durch den Angriff der NATO auf Serbien 1999, durch den Krieg im Irak mit einer ‚Koalition der Willigen‘ 2003 oder durch Nichteinhaltung der 1995 bekräftigten nuklearen Abrüstungsverpflichtungen des Atomwaffensperrvertrags, durch Aufkündigung oder Missachtung wichtiger Rüstungskontrollvereinbarungen zumeist durch die USA oder auch durch eine völlig unzureichende Umsetzung der Minsker Abkommen nach 2014.“
Zur inzwischen bereits ritualisierten Beschwörung einer militärischen Bedrohung NATO-Europas durch Moskau seitens Politik und Medien, deren Hinterfragung übrigens grundsätzlich unterbleibt (siehe dazu auch Blättchen 7/2025), weicht das Manifest ebenfalls vom offiziellen Mantra ab: „Tatsächlich sind allein die europäischen Mitgliedsstaaten der NATO, selbst ohne die US-Streitkräfte, Russland konventionell militärisch deutlich überlegen.“ (Siehe dazu ausführlich Blättchen 15/2022**.) Folglich gäbe es für „eine auf Jahre festgelegte Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 oder 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts […] keine sicherheitspolitische Begründung“.
Darüber hinaus dürften weitere Passagen des Manifestes auf den Mainstream wie das sprichwörtliche rote Tuch auf den Stier gewirkt haben:
- „Wir sind davon überzeugt, dass das Konzept der gemeinsamen Sicherheit der einzige verantwortungsbewusste Weg ist, über alle ideologischen Unterschiede und Interessen-Gegensätze hinweg Krieg durch Konfrontation und Hochrüstung zu verhindern.“
- „Eine Rückkehr zu einer Politik der reinen Abschreckung ohne Rüstungskontrolle und der Hochrüstung würde Europa nicht sicherer machen.“
- „Militärische Alarmrhetorik und riesige Aufrüstungsprogramme schaffen nicht mehr Sicherheit für Deutschland und Europa, sondern führen zur Destabilisierung und zur Verstärkung der wechselseitigen Bedrohungswahrnehmung zwischen NATO und Russland.“
- „Keine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Die Stationierung von weitreichenden, hyperschnellen US-Raketen-Systemen in Deutschland würde unser Land zum Angriffsziel der ersten Stunde machen.“
- „Schrittweise Rückkehr zur Entspannung der Beziehungen und einer Zusammenarbeit mit Russland […].“
Mit dem von der NATO auf deren jüngstem Gipfel in Den Haag weiter forcierten Kurs der militärischen Konfrontation und Hochrüstung gegenüber Russland – bis 2035 sollen die Militärausgaben sämtlicher 32 Paktstaaten auf jeweils fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes gesteigert werden – wird es gewiss gelingen, den laufenden zweiten Kalten Krieg zu intensivieren und zu zementieren. Eine fundamentale Lehre aus dem ersten jedoch besagt, dass durch Brinkmanship, ständiges Lavieren am Rande eines (dann in letzter Konsequenz auch nuklearen) Krieges sicherheitspolitische Antagonismen geradezu zwangsläufig verstärkt werden, eine Entschärfung hingegen nur auf politischem Wege, durch Verhandlungen, Kompromisse und Kooperation zu erreichen ist. Diese Lektion haben die Verfasser und Unterzeichner des Manifestes offenbar nicht vergessen.
Aber auch das wird ihnen von Kritikern vorgehalten, etwa wenn der der SPD angehörende Historiker Jan Claas Behrends behauptet, dass es dem Manifest an „an jeglicher Expertise“ fehle, „weil die Unterzeichner mit Kategorien aus dem späten Kalten Krieg arbeiteten, die aus den achtziger Jahren stammten und mittlerweile überholt seien“. Michael Roth assistiert: „Man darf die Sowjetunion nicht mit dem heutigen Russland vergleichen. Die Sowjetunion wollte den Status quo bewahren, Putin hat imperialistische Ziele.“ Der wolle durch militärische Eroberungen das alte Sowjetreich wiedererrichten.
Mal ganz abgesehen davon, dass, wenn letzteres stimmte, in der Ukraine gerade der Beweis dafür erbracht worden wäre, dass dies offenbar noch nicht einmal direkt vor der russischen Haustür klappt – diese Betrachtungsweise funktioniert nur bei historischer Ignoranz ihrer Verfechter und des Publikums. Denn wann immer der Status quo im Kalten Krieg ins Rutschen kam – 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der ČSSR – intervenierte Moskau völkerrechtswidrig militärisch. In Bezug auf die Ukraine hatte die NATO auf ihrem Gipfel in Bukarest 2008 offiziell verkündet, den von Russland hinsichtlich des Nachbarlandes gewünschten Status quo (keine NATO-Mitgliedschaft, keine westlichen Militärstützpunkte in der Ukraine) beseitigen zu wollen: „Die NATO begrüßt die euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine und Georgiens auf eine Mitgliedschaft in der NATO. Wir haben heute vereinbart, dass diese Länder Mitglieder der NATO werden.“ (Gipfel-Kommuniqué). Und sowohl die USA als auch die NATO haben dies danach immer wieder bekräftigt und entsprechend agiert. Bis hin zur Unterstützung des antirussischen Staatsstreiches in Kiew 2014. Angesichts dieser Historie ist eigentlich eher verwunderlich, dass Moskau mit seiner völkerrechtswidrigen Militärintervention dieses Mal noch Jahre, bis 2022, gezögert hat. Selbst dann aber stand keine vollständige Eroberung der Ukraine auf dem Programm. Dazu wären die in Marsch gesetzten Streitkräfteformationen entschieden zu gering gewesen, auch wenn der westliche Propagandabegriff „der russischen Vollinvasion der Ukraine“ (O-Ton Auswärtiges Amt) das Gegenteil suggerieren soll.
By the way – im ersten Kalten Krieg begann der westliche Schwenk, der schließlich zur Beendigung der Ost-West-Konfrontation führte, mit der neuen Bonner Ostpolitik im Jahre 1969, nur ein Jahr nach dem Einmarsch in Prag. Und im Hinblick auf die häufig zu hörende Warnung, man könne dem Herrscher im Kreml nicht trauen, gibt Nicole Deitelhoff, die Leiterin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung, zu bedenken: „[…] man wird einen Frieden in der Ukraine mit ihm schließen müssen und kann nicht so tun, als ob er nicht da sei. Es ist auch kein Argument, zu sagen, der hat immer schon gelogen, mit dem kann man deswegen keine Verträge schließen, dann könnte man praktisch mit fast keinem Staat irgendwo Verträge schließen. Man kann Kontrollmechanismen vereinbaren oder einbauen und Verstöße umgehend ahnden, das ist alles möglich.“
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Über die Schwierigkeiten und die Länge des künftigen Weges geben sich die Parteigänger des jetzigen Manifestes keinen Illusionen hin: „Vielen scheint gemeinsame Sicherheit heute illusorisch. Das ist ein gefährlicher Trugschluss, weil es zu einer solchen Politik keine verantwortungsbewusste Alternative gibt. Dieser Weg wird nicht einfach sein. Vor echten vertrauensbildenden Maßnahmen braucht es deshalb zunächst kleine Schritte: die Begrenzung weiterer Eskalation, den Schutz humanitärer Mindeststandards, erste technische Kooperationen etwa im Katastrophenschutz oder der Cybersicherheit sowie die behutsame Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte. Erst wenn solche Grundlagen geschaffen sind, kann Vertrauen wachsen – und damit der Weg frei werden für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur.“
Der Vorwurf der Realitätsverweigerung jedenfalls, werter Herr Bundesverteidigungsminister, geht nach hinten los.
* – Die SPD-Friedenskreise sind ein Beratungsgremium. Dazu gehören unter anderem der Erhard-Eppler-Kreis, der Willy-Brandt-Kreis, die Johannes-Rau-Gesellschaft, SPD 60 plus, Mehr-Diplomatie-wagen, Demokratische Linke 21, Entspannungspolitik Jetzt!, Naturfreunde, AK Frieden Bremen und Köln.
** – Auch wenn in Moskau in der Regel nicht offen darüber gesprochen wird: Der aus der eigenen konventionellen Unterlegenheit für den Fall eines Krieges zwischen beiden Seiten drohenden Probleme ist sich die Führung im Kreml durchaus bewusst. Daran lässt die jüngste Modifizierung der russischen Nukleardoktrin keinen Zweifel, sieht diese doch nunmehr ausdrücklich vor, den russischen Nachteil gegebenenfalls durch Ersteinsatz von Kernwaffen auszugleichen (siehe ausführlicher Blättchen 21/2024 und 25/2024).
Schlagwörter: Entspannung, Friedenssicherung, Krieg, Manifest, NATO, Russland, SPD, Wolfgang Schwarz


