28. Jahrgang | Nummer 7 | 7. April 2025

Märchenonkel Masala

von Sarcasticus

In den vergangenen 200 Jahren ist russisches Militär nur zweimal massiv in Zentraleuropa aufgetaucht und kam einmal davon sogar bis Paris, aber beide Male nicht aus Daffke (um ein Wort des Kolumnisten André Mielke aufzugreifen) sowie jeweils im Bunde mit westlichen Alliierten. Beim ersten Mal wurde Napoleon zur Abdankung gezwungen, beim zweiten Mal die faschistische deutsche Wehrmacht zur bedingungslosen Kapitulation. Für beide Male sollte ewiger Dank Resteuropas eine Selbstverständlichkeit bleiben.

Trotzdem ist seit 1945 im Westen die Mär nicht totzukriegen: Wenn jener sich nicht bis an die Zähne rüstet, würde zunächst die Sowjetunion samt Warschauer Pakt und heute Russland bei erster passender Gelegenheit wenn schon nicht über die USA, so doch über seine europäischen Nachbarn herfallen, um diese zu erobern, sich einzuverleiben und der freiheitlichen Demokratie den Garaus zu machen. So sind sie halt, die imperialistischen Großrussen. Und wenn es zeitweise mal nicht den Anschein hat – das geht vorüber …

Vereinzelt gab es auch andere Stimmen. Schon 1969 hatte der westdeutsche Publizist Helmut W. Kahn in einer Art Zwischenbilanz – betitelt „Die Russen kommen nicht. Fehlleistungen unserer Sicherheitspolitik“ – versucht, einen Kontrapunkt zu setzen. Der Autor resümierte bezüglich der zurückliegenden Jahrzehnte, „daß die Sowjets in der Vergangenheit häufig hätten kommen können, wenn sie es gewollt hätten“. Und fügte hinzu: „Der Lohn der Bürgerangst vor den Russen wird […] den ‚Sicherheitspolitikern‘ und ihrem ‚militär-industriellen Komplex‘ schon heute bar – in Herrschafts- und materiellen Vorteilen – ausge­zahlt: Eine geängstigte Bevölkerung läßt sich leicht manipulieren und beherrschen. Sie nimmt auch die schlimmsten Regierungspannen hin und vergißt sie schnell wieder. Ihr kann man Opfer auferlegen für Dinge, die sie gar nicht haben will, und Dinge verweigern, die sie haben will: Gesundheit, ein billigeres Leben, Bildung […]. Ihr kann man insbesondere einen aufgeblähten Militärapparat aufbürden, der durch seine Struktur und Bewaffnung provozierend wirkt und damit Spannung und Angst aufrechterhält. Im Militär wiederum erwachsen den Herrschenden […] Interessenten an der Beibehaltung des aufgeblähten Apparats und damit an der Aufrechterhaltung der Angst […] der Wohlstand des eigenen Landes wird dadurch zwar zugunsten anderer abgeschöpft – aber wir haben es ja!“

Sechzehn Jahre nach dem Erscheinen von Kahns Buch begann der Dritte Weltkrieg dann doch: „Es gab nicht viele Menschen in Westeuropa oder den Vereinigten Staaten, die sonderlich überrascht waren, als sie am Morgen des 4. August 1985 […] erfuhren, daß sich die Streitkräfte der beiden großen Machtblöcke, der Vereinigten Staaten und ihrer Alliierten einerseits und der Sowjetunion samt Verbündeten andererseits, in erbittertem, heftigem Kampf gegenüberstanden.“ Der Weltkrieg sei unausweichlich „geworden, seit die Sowjetunion am 27. Juli in Jugoslawien eingefallen war, was den ersten direkten Zusammenstoß zwischen sowjetischen und US-Truppen auf dem Schlachtfeld überhaupt zur Folge gehabt hatte. Moskau hatte lange nach einer günstigen Gelegenheit gesucht, Jugoslawien nach dem Tode Titos wieder in den Warschauer Pakt zu integrieren […].“ Mal abgesehen davon, dass Jugoslawien nie Mitglied des Warschauer Vertrages gewesen ist, so begann der Reißer „Welt in Flammen. Der Dritte Weltkrieg. Schauplatz Europa“. Hauptverfasser war der britische Ex-General Sir John Hackett. (Im Februar 1968 wegen Insubordination gegenüber seinem Verteidigungsminister in den Ruhestand versetzt.) Der Spiegel, seinerzeit ein mediales Flaggschiff der BRD, der Hacketts Horrorvision einen Dreiteiler widmete, in dem die Inhalte nicht etwa kritisch hinterfragt, sondern weitgehend unreflektiert referiert wurden, berichtete: „Hackett gewann ehemalige NATO-Kameraden als Koautoren […].“ Und: „Monatelang durchlief das Hackett-Manuskript die Planungsreferate der Brüsseler NATO-Zentrale, wo sich Offiziere gerne bereitfanden, die Kenntnisse des Ex-Generals auf den neuesten Stand zu bringen.“

Das Pamphlet von Hackett & Co. erschien 1982 in London und praktisch zeitgleich auf Deutsch. Was 1985 dann tatsächlich passierte, war allerdings nicht der Dritte Weltkrieg, sondern – Gorbatschow.

Und nun also Carlo Masala – Professor für Internationale Politik und Militärexperte an der Bundeswehruniversität München, seit längerem sicherheitspolitischer Weckrufer vom Dienst auf vielen Kanälen – mit einem Szenarium. Dazu klärt der Autor zunächst auf: „Szenarien erweitern den Möglichkeitsraum unseres Denkens. […] Mein Szenario orientiert sich an realen Gegebenheiten, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Diskussionen, die ich in den letzten beiden Jahren mit vielen Kollegen und Kolleginnen geführt habe, aber auch mit Menschen, die sich in Ministerien und den Stäben von Streitkräften mit der Frage beschäftigen, welche Auswirkungen ein russischer Sieg in der Ukraine für die zukünftige sicherheitspolitische Entwicklung haben könnte.“ Mit Blick auf die aktuelle Lage raunt der Autor: „Geht es wirklich nur um die Ukraine? Was, wenn das nur der Anfang war? Wenn in Wahrheit die europäische Sicherheit und unsere gesamte liberale Weltordnung auf dem Spiel stehen […]?“ Doch dann bricht das Verhängnis auch schon los: „Narwa, Estland, am 27. März 2028: In den frühen Morgenstunden werden die Menschen durch Explosionen geweckt. Zwei russische Brigaden dringen von Norden und Osten in die Stadt ein.“ Die Angreifer seien maskiert und der „russische Einmarsch geschieht unerwartet“. Gelaufen ist die Sache bei Masala bereits dreit Tage später, am 30. März 2028: Narwa ist wieder russisch „und die chinesische Vorherrschaft über die Welt zum Greifen nahe“.

Masalas Schrift wirkt, als wäre sie von jenen, die am 18. März 2025 noch mit der alten Bundestagszweidrittelmehrheit per Grundgesetzänderung die künftigen deutschen Rüstungsausgaben nach oben entdeckelt haben, als ideologischer Begleitschutz für dieses kontrademokratische Bubenstück in Auftrag gegeben worden. Das stimmt so natürlich nicht, denn Masala hatte sein Manuskript längst abgeschlossen, bevor am 23. Februar 2025 gewählt wurde. Doch allgemeine westliche Aufrüstungsbesoffenheit ist ja spätestens bereits seit Februar 2022 vorherrschend. Hierzulande eingeläutet vom gerade abgewählten Bundeskanzler mit seiner Zeitenwende-Rede vom 27. Februar 2022 und der Verkündung von 100 Milliarden Euro Sonderschulden für die Bundeswehr.

*

„Wenn ich die europäische Presse lese, entsteht ein schizophrener Eindruck. Einerseits hat Russland nach Ansicht westlicher Kommentatoren extrem schlechte militärische Leistungen gezeigt; ständig ist es am Scheitern, mit Blick auf Demografie, Technologie und so weiter. Gleichzeitig soll Russland eine schreckliche Bedrohung Europas und der Freien Welt sein. Mit einer Armee, die nach ihrem Sieg in der Ukraine bis zum Ärmelkanal durchmarschiert. Das passt doch nicht zusammen.“

Diese Sichtweise fällt natürlich unter Fake News und soll den Westen bloß einlullen, sie stammt schließlich von einem Russen: Fjodor Lukjanow, Vorsitzender des russischen Rats für Außen- und Verteidigungspolitik sowie Chefredakteur der Zeitschrift Russland in den Internationalen Angelegenheiten.

Andererseits lässt sich über Russlands Streitkräfte und deren Agieren, respektive deren Probleme an der Front folgendes zusammentragen:

  • Nach Äußerungen von NATO-Generalsekretär Mark Rutte hätte Russland im Ukraine-Krieg bereits Verluste von mehr als 600.000 Mann – „getötet oder verwundet“ – zu verzeichnen und dabei laut Berliner Zeitung „seit Frühjahr 2024 […] zeitweise weit über 1000 Mann pro Tag“.
  • Angaben des Londoner International Institute for Strategic Studies zufolge gingen bereits knapp 3000 Kampfpanzer verloren, mehr als sich vor Kriegsbeginn überhaupt im aktiven Dienst befanden. Die Angaben zu russischen Kriegsverlusten von ukrainischer Seite gehen allerdings weit darüber hinaus; am 26. März 2025 hieß es in der KYIW POST, dass der ukrainische Generalstab bereits im Februar vermeldet habe, „dass die Kiewer Truppen […] den 10.000sten feindlichen Panzer im Kampf zerstört“ hätten.
  • Der Vormarsch auf die ukrainische Hauptstadt Kiew musste schon wenige Wochen nach dem russischen Überfall unter erheblichen Verlusten abgebrochen werden.
  • Die Gebietshauptstadt Cherson, die Moskau zu Beginn des Krieges nahezu kampflos in die Hände gefallen war, musste bereits im November 2022 wieder geräumt werden und die Angreifer mussten sich auf das Ostufer des Dnipro zurückziehen.
  • Seit Kriegsbeginn ist es nicht gelungen, die Lufthoheit über der Ukraine zu gewinnen. Auch ukrainische Drohnen- und Raketenangriffe gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet und auf der Krim finden ihre Ziele bis zum heutigen Tag.
  • An den ostukrainischen Frontabschnitten kommen die Angreifer gegen ausgepowerte, militärisch unterversorgte ukrainische Verteidiger nur im Schneckentempo voran.
  • Monatelang konnte durch ukrainische Kräfte in der Region Kursk besetztes russisches Territorium nicht zurückerobert werden.
  • Westlichen Medienberichten zufolge musste Moskau zwischenzeitlich auf nordkoreanische Hilfstruppen („spricht nicht für Russlands Stärke“, FAZ) zurückgreifen, um eigenen personellen Engpässen gegenzusteuern.
  • Laut Carnegie Foundation handelt es sich bei „der Mehrheit der von Russland an die Front gelieferten Ausrüstung […] um aufgearbeitetes Material. […] Wenn die Verlustraten […] anhalten, läuft Russland Gefahr, dass die verfügbaren Bestände aus der Sowjetzeit für bestimmte Ausrüstungsarten möglicherweise 2026 erschöpft sind“.
  • Zugleich ist die Serienproduktion modernster Waffensysteme – wie etwa des Kampfpanzers Armata (erstmals 2015 bei einer Militärparade gezeigt und „Stolz der russischen Rüstungsindustrie“ – ist aber „auf dem Schlachtfeld […] nicht aufgetaucht“, RedaktionsNetzwerk Deutschland, 05.03.2024) oder des seit langem in der Erprobung befindlichen Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeugs der fünften Generation Suchoi Su-57 („Fighter-Prunkstück der russischen Luftwaffe. Nur wenige der hochmodernen Stealth-Kampfjets sind im Dienst“, Flugrevue, 10.06.2024) – offenbar nach wie vor nicht angelaufen.
  • Und so weiter und sofort …

Wer vor solchem Hintergrund jedoch zu der Schlussfolgerung käme, dass Lukjanow womöglich doch nicht völlig danebenliegt, der sollte wissen, in welcher Schublade er landet – Putin-Versteher, Kreml-Troll.

*

Am 19. März 2025 wusste Masala im Talk maischberger einmal mehr: „Russland bereitet sich auf einen großen Krieg vor“, selbst wenn es sich vorerst auf eine „Mischung aus hybriden Aktivitäten“ und „sehr begrenzten militärischen Aktionen“ beschränke. Die FAZ stellte ihren Bericht über die Sendung unter die Überschrift: „Noch vier Jahre bis zum großen Krieg“. Da hatte der Verfasser des Beitrages wohl Masalas aktuelle Schrift noch nicht zur Kenntnis genommen, denn bei dem Professor sind es ja nur noch drei Jahre – siehe oben.

Maischberger als Top-Moderatorin der ARD, eines aus Steuergeldern finanzierten öffentlichen Senders, dessen Auftrag laut Eigenwerbung darin besteht, „verlässliche Informationen“ zu liefern, hätte natürlich nachhaken können, wenn nicht müssen: „Von welchem Russland sprechen Sie gerade? Von jenem, dass seit Februar 2022 unter Beweis gestellt hat, was es offenkundig nicht kann, weil ihm dazu sowohl die personellen Kräfte als auch die militärtechnischen Mittel und das strategische Know How fehlen: erfolgreich raumgreifende konventionelle Offensivoperationen zu führen?“

Maischberger hätte auch mal nachfragen können, aus welchen belastbaren Quellen sich Masalas profundes Wissen eigentlich speist.

Dass sie – wie praktisch alle ihre Kolleginnen und Kollegen in den hiesigen Leitmedien seit Jahren – nichts dergleichen getan hat, unterstreicht natürlich ihre hohe Professionalität. Nicht unbedingt als kritische Journalistin, aber ganz gewiss als jemand, der bestens mit den Spielregeln vertraut ist, wie man in einem gut dotierten Sessel mit regelmäßiger Sendezeit sicher sitzt.

 

Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario, Verlag C.H. Beck, München 2025, 116 Seiten, 15,00 Euro.