27. Jahrgang | Nummer 7 | 25. März 2024

Schlachtfeld des geostrategischen Umbruchs

von Jutta Grieser

Hierzulande verweigert eine stetig wachsende Zahl von Menschen die Nachrichtenaufnahme. Ich verstehe das. Immer die gleichen Themen, stets der gleiche uniforme Tenor – das führt zu Überdruss. Denn auch außerhalb des Mainstreams werden die gleichen Kunden durchgehechelt. Nur eben andersrum. Die Botschaft bleibt doch die gleiche. Nichts Neues im Westen also. Wir drohen an Informationsübersättigung zu ersticken, wissen aber zugleich, dass Fasten dieses Problem auch nicht löst. Es existiert objektiv, obgleich menschengemacht. Alternativen sind nicht in Sicht, auch wenn sie sich so nennen. Wo oder was ist der Ausweg?

Derlei Gegrummel kroch mir durchs Hirn, als mir ein Buch mit dem wahrlich originellen Titel „Der Ukrainekrieg“ zur Besprechung angetragen wurde. Nicht schon wieder! Talkshows, Tagesschau und Tagespresse beballern uns täglich damit, und die Bücher dazu füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. Die Nachrichtenflut zum Thema weist Höchststände auf wie weiland 1962 die Sturmflut in Hamburg oder das „Jahrhunderthochwasser“ 2013 in Zentraleuropa. Allenfalls kurzzeitig überlagert durch die Barbarei im Nahen Osten, aber eben nur für wenige Wochen, denn die Sänger der Zeitenwende sorgten mit aller Medienmacht dafür, dass die Ukraine ihren angestammten Platz an der Spitze der Entrüstungsnachrichtenhitparade wieder besetzte. Nawalny, Putin, Pistorius und deutsche Generale, Strack-Zimmermann, Taurus et cetera sei Dank …

Ich war Opfer meines Vorurteils, musste es aber schon nach wenigen Seiten revidieren. Der Militärhistoriker Lothar Schröter, tätig einst am Militärgeschichtlichen Institut in Potsdam, später gleichenorts in der zentralen militärgeschichtlichen Forschungseinrichtung des Bundes, hat eine Analyse dieses Krieges vorgelegt, die ihresgleichen sucht. Der Mann ist bei Clausewitz und Marx in die Schule gegangen und hat sein Handwerk nicht verlernt, er gräbt tiefer als die meisten Autoren und folgt darin dem Römerkaiser Mark Aurel, der nicht nur seinem Geschichtsschreiber auftrug: „Denk an den Ursprung jedes Dinges, aus welchen Stoffen es besteht, in welche Form es sich umwandelt, was es nach seiner Verwandlung sein wird.“

Schröter holt weit aus, nimmt das ganze 20. Jahrhundert ins Visier und beginnt nicht erst am 24. Februar 2022. Darin erweist er sich nicht nur als Jünger Mark Aurels, sondern auch Lenins. (Womit Schröter wohl zu den letzten Intellektuellen gehört, die Lenin für einen bedeutenden Denker halten.) „Man muss untersuchen, aus welchen historischen Bedingungen heraus der betreffende Krieg entstanden ist, welche Klassen ihn führen und mit welchem Ziel sie ihn führen“, hatte jener 1917 geschrieben und damit zugleich das Dilemma benannt, in dem sich heute selbst Linke bei der Betrachtung des Ukrainekrieges bewegen. „Tun wir das nicht, so werden alle unsere Erörterungen über den Krieg nichts als Strohdrescherei, nichts als fruchtlose Wortklauberei sein.“

Für Schröter ist das kein Krieg zweier slawischer Brudervölker, sondern ein blutiger Konflikt im fundamentalen geostrategischen Umbruch, in dem sich die Welt befindet, vergleichbar mit der Teilung der Welt nach 1917. Damals wurde eine Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung geboren, was sich nach 1945 zu zwei antagonistischen Weltsystemen auswuchs. Gegenwärtig, so Schröter, haben wir es zu tun mit einem epochalen machtpolitischen Grundkonflikt, der vielleicht noch viele Jahrzehnte andauern kann: der Westen unter Führung der USA und mit der NATO als weltweit agierendem Militärblock gegen die Volksrepublik China, Russland und den „globalen Süden“. Es gehe um die Verewigung der Unipolarität – der Hegemonie des Westens – gegen die Multipolarität, wonach die Mehrheit der globalen Staatengemeinschaft augenscheinlich strebt. Der Westen könne sich nur durchsetzen, wenn in weiterer Zukunft China bezwungen wird. Dazu aber müsse zuerst Russland ausgeschaltet werden, um sich seine unermesslichen Ressourcen anzueignen. Und zwar bevor Russland gänzlich festen wirtschaftlichen Boden unter die Füße bekommt, meint Schröter, womit er der Argumentation, schließlich sei doch Russland der Aggressor und Putin der macht- und gebietshungrige Imperialist, die demagogische Spitze nimmt. „Das Engagement des Westens, als Solidarität mit einem überfallenen Staat camoufliert, ist ein propagandistischer Nebelvorhang. Es geht nicht um die Verteidigung von Freiheit und Demokratie, wie es heißt, sondern um die Schwächung Russlands. Dieser Staat soll als weltpolitischer Faktor ausgeschaltet werden.“ Manchmal verplappern sich deutsche Politiker und sprechen das sogar aus. (Baerbock: „Wir sind schließlich im Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander“, Januar 2023) Nein, Herr, vergib ihnen nicht, auch wenn sie nicht wissen, was sie sagen und tun …

Schröters Rundumsicht, das komplexe Erfassen historischer und gegenwärtiger Prozesse, legt die Wurzeln dieses Krieges frei. Wo andere Betrachter den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen und sich im Dickicht der Informationen verirren (damit Leser und Zuhörer verwirren), sieht Schröter klar. Er hat in seinem Instrumentenkasten ordentliches Werkzeug, oder wie man unter seinesgleichen sagt, er beherrscht die Methodologie, um die Welt zu erkennen. Darum sind auch die Verantwortlichen für die gegenwärtige Situation für Schröter eindeutig verortet. Mit der NATO-Osterweiterung wurde die europäische Sicherheitsarchitektur zerstört, die während des Kalten Krieges auf diplomatischem Wege hart erstritten worden war. Auf diese Weise sei wissentlich und willentlich das militärisch-strategische Gleichgewicht verschoben worden, das entscheidend für die Gewährleistung des Friedens bis zum Ende des Kalten Krieges und danach zwischen dem Westen und Russland war. Ohne das Nuklearpotential Russlands, das müsse man so nüchtern sagen, schreibt Schröter, wäre es völlig aus der Balance geraten. Und er zitiert Egon Bahr, der die NATO-Osterweiterung einen „Jahrhundertfehler“ nannte, und den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt, der in der Zeit seinerzeit dazu bemerkt hatte: „Wenn ich ein sowjetischer Marschall wäre oder ein Oberst, würde ich die Ausdehnung der NATO-Grenzen, erst von der Elbe bis an die Oder und dann über die Weichsel hinaus bis an die polnische Ostgrenze, für eine Provokation und eine Bedrohung des heiligen Russlands halten. Und dagegen würde ich mich wehren.“

Und das taten und tun die Russen, konstatiert Schröter lakonisch. Nicht eben sehr zivil, nicht eben sehr nachsichtig etwa gegenüber Ukrainern und Friedensfreunden in der ganzen Welt. Da sitzt auch den Russen das nationale Hemd näher als der internationale Rock. „America first“ sagen die einen, Russland zuerst die anderen …

Für Schröter steht fest: Auch dieser Krieg wird, wie die meisten Kriege, nicht auf dem Schlachtfeld entschieden, sondern im „Hinterland“, also nicht militärisch, sondern politisch. Aber jedes Ende des Ukrainekrieges, das nicht den Bedingungen Washingtons, der NATO und Kiews entspricht, ist eine militärische, politische und propagandistische Niederlage des Westens. Diese Niederlage allerdings muss sich der Westen erst einmal eingestehen, wozu er noch nicht bereit ist. So lange wird eben weiter geschossen, sterben Menschen, werden Landschaften verwüstet und Siedlungen unbewohnbar gemacht, wird die Umwelt nachhaltig geschädigt – und die Rüstungsindustrie weltweit verdient sich dumm und dusslig.

Ob und wann der Westen bereit ist, seine politische und moralische Niederlage zu akzeptieren, das weiß derzeit niemand. Auch Schröter nicht. Er benennt das wohl größte Problem der Gegenwart, indem er sarkastisch an dieser Stelle aus Shakespeares „König Lear“ zitiert: „Der Fluch der Zeiten halt, wenn Irre Blinde führen.“

Mit seinem Buch hat er zumindest jenen, die lesen können und verstehen wollen, die Augen geöffnet. Der Verlag spricht in seiner Werbung von einem „Standardwerk“. Ich kann mit diesem Begriff wenig anfangen. Wohl aber mit Schröters Argumenten.

Lothar Schröter: „Der Ukrainekrieg. Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der NATO“. edition ost, Berlin 2024, 348 Seiten, 32,00 Euro.