27. Jahrgang | Nummer 6 | 11. März 2024

Nochmals zur nuklearen Abschreckung*

von Wolfgang Schwarz

Effektive Abschreckung

ist unsere Lebensversicherung.

 

Boris Pistorius,

Münchner Sicherheitskonferenz 2024

 

 

Die Abschreckung ist wahrscheinlich

das einzige politische Konzept, das total versagt,

wenn es nur zu 99,9 Prozent erfolgreich ist.

 

Leon Wieseltier, 1983

 

Ob man dem amtierenden Bundesverteidigungsminister zu nahe tritt, wenn man nach einem Blick auf seine berufliche Vita, die ihn zuvor bis auf den Stuhl des niedersächsischen Ministers für Inneres und Sport getragen hatte, Anlass zu der Vermutung sieht, dass vor seinem Amtsantritt im Berliner Bendlerblock keine Veranlassung für ihn bestand, sich dezidiert mit dem Konzept, den wechselnden Strategien und dem operativen Handling der nuklearen Abschreckung zu befassen, geschweige denn sich damit kritisch auseinanderzusetzen?

Die Frage muss an dieser Stelle offenbleiben.

Zur einführenden Lektüre vorbehaltlos empfohlen werden kann dem Minister gleichwohl Peter Rudolfs Studie „Welt im Alarmzustand. Die Wiederkehr der nuklearen Abschreckung“. (Rudolf ist Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik/SWP, dem Think Tank der Bundesregierung und des Bundestages.) Bei dieser Schrift handelt sich um den seit Leon Wieseltiers 120-Seiten-Essay „Nuclear War, Nuclear Peace“ von 1983 (Titel der deutschen Ausgabe, 1984: „Frieden durch Abschreckung. Strategische Überlegungen zur Verhinderung eines Atomkrieges“) profundesten Abriss zum Thema nukleare Abschreckung.

Konkret befasst sich Rudolf mit den wechselvollen Metamorphosen des vor allem US-amerikanischen Abschreckungsdenkens während der Jahrzehnte des ersten Kalten Krieges und bis in unsere Tage hinein sowie mit dessen inhärenten, teils unaufhebbaren Dilemmata.

„Bei der nuklearen Abschreckung“, so fasst Rudolf deren Wesensinhalt zusammen, „handelt es sich im Kern um die Drohung, einem Gegner in großer Schnelligkeit einen siche­ren Schaden großen Ausmaßes zufügen zu können, um seine Absichten zu beeinflussen und ihn von bestimmten Aktionen abzuhalten.“

Das klingt ebenso abstrakt wie es semantisch den Sachverhalt kaschiert, worum es tatsächlich geht: nämlich „um“, mit Rudolfs Worten, „die mas­senhafte Tötung von Menschen“ mittels Atomwaffen. Auch die Debatten unter im Wesentlichen westlichen Experten werden ja seit vielen Jahrzehnten in einer vergleichbar kaschierenden Sprache geführt. Rudolf nennt sie Nukespeak. Da ist von allem Möglichen – der Autor verweist exemplarisch auf Begriffe wie Counterforce, Countervalue, Menü von Optionen, Eskalationsdominanz, Präemptivschlag, Kollateralschäden – die Rede, nur nicht vom gegebenenfalls inklusiven zig-millionenfachen Atomtod. Selbst wenn beispielsweise ein nuklearer Angriff der USA „sich ‚nur‘ gegen russische Atomwaffen und ihre Infrastruktur (darunter Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssysteme) richten würde […], sei mit 8 bis 12 Millionen Toten unter der russischen Bevölkerung […] zu rechnen“.

Rudolf unterscheidet zwei grundsätzliche Varianten von nuklearer Abschreckung, von denen die eine auf atomare Kriegsführungsfähigkeit fokussiert ist – der Gegner soll gegebenenfalls durch einen Überraschungsangriff, auch als Erstschlag bezeichnet, besiegt werden können. Die andere Variante „begnügt“ sich damit, den Gegner im Falle seines Erstschlages durch einen Zweitschlag mit in die atomare Vernichtung zu reißen. Zur Bezeichnung dieser Variante als Vergeltungsabschreckung verweist Rudolf auf Dieter Senghaas, der die betreffende Unterscheidung bereits zu Beginn der 1980er Jahre getroffen hatte. Im Hinblick auf Washington konstatiert Rudolf im Übrigen: „Die nukleare Abschreckung der USA beruht auf der Fähigkeit zur nuklearen Kriegführung.“ Dazu passt dann, dass Nuklearwaffen „aus amerikanischer Sicht nicht als Waffen mit einzigartigen Eigenschaften bewertet [werden], sondern eher als konventionelle Waffen mit größerer Sprengkraft“.

Deutschland, wiewohl Teilnehmerstaat des Atomwaffensperrvertrages (NPT), der den direkten wie auch den mittelbaren Besitz von und Umgang mit Kernwaffen untersagt, ist durch die sogenannte nukleare Teilhabe in die US-amerikanische atomare Abschreckung eingebunden – in Gestalt der Bereitstellung von Trägerflugzeugen der Bundesluftwaffe zum Einsatz US-amerikanischer Atombomben, die unter Washingtoner Aufsicht auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagern. Ein gängiges Argument für dieses Konstrukt, etwa aus den Reihen der CDU/CSU, lautet, dass Deutschland sich auf diese Weise das Recht auf Mitsprache beim Einsatz von Atomwaffen sichere. Dies, so Rudolf, „hält Hans Kristensen, einer der profiliertesten Nuklearwaffenexperten der USA, für ‚komplette Fantasie‘.“

Ausführlich befasst sich Rudolf mit den Fallstricken und Dilemmata der atomaren Abschreckung in Theorie und Praxis. Hier ist lediglich Raum, um einige der gravierendsten herauszugreifen:

Nimmt man die von Bernhard Brodie und anderen 1946 publizierte Schrift „The Absolute Weapon. Atomic Power and World Order“ zum Ausgangspunkt, so dauern die westlichen Debatten um atomare Abschreckung, wenn auch in einzelnen Perioden mit unterschiedlicher Intensität geführt, seit nunmehr fast 80 Jahren an. Und obwohl die dazu erschienenen Hekatomben an Büchern, Studien, Sammelbänden, theoretischen Aufsätzen und sicherheitspolitischen Essays ganze Bibliotheken füllen, bleibt, so Rudolf, „ein Problem in diesem Denken nicht gelöst: das der Kontrolle einer einmal begonnenen atomaren Eskalation“. Das liegt nicht etwa an mangelnder Sachkenntnis der Diskutanten, sondern schlicht und ergreifend an dem unveränderlichen Sachverhalt, auf den der frühere US-Sicherheitsberater McGeorge Bundy bereits 1983 verwiesen hat, dass nämlich „niemand sagen kann, was geschehen wird, nachdem auch nur eine einzige Atomwaffe eingesetzt worden ist. […] Niemand weiß, wie irgendein ‚begrenzter‘ Einsatz beantwortet werden würde.“ Daher kann prinzipiell nicht ausgeschlossen werden, dass ein atomarer Ersteinsatz nicht zum Auftakt allgemeiner atomarer Vernichtung würde.

Hinzu kommt – die USA und Russland „halten daran fest, notfalls unter höchstem Zeit­druck die Entscheidung zum Einsatz ihrer Arsenale treffen zu können, sobald die Frühwarnsysteme den Abschuss gegneri­scher Raketen melden“. Im schlimmsten Falle blieben „dem US-Präsidenten 6 Minuten [etwa beim Start eines U-Boot-gestützten russischen nuklearen Marschflugkörpers im küstennahen Bereich der USA – W.S.], um über einen Atomwaffeneinsatz zu entscheiden“.

In einer solchen Konstellation könnte ein technischer Fehlalarm – historisch sind etliche derartige dokumentiert – die atomare Apokalypse auslösen.

Des Weiteren besteht „das grundlegende ‚Dilemma der Interpretation‘: […] wenn politische Absichten und militärische Fähigkeiten anderer Staaten eingeschätzt werden. Geht es diesen im defensiven Sinne um die eigene Sicherheit oder hegen sie offensive Absichten?“ – Befinden sich die Kontrahenten in einer antagonistischen Konfrontationslage wie der gegenwärtigen, dann erfolgt die Interpretation jeglicher Schritte der Gegenseite geradezu zwangsläufig als „offensiv“ und führt – so die Erfahrung des ersten Kalten Krieges – jeweils zu Gegenreaktionen, die ihrerseits wiederum eskalationsstimulierend wirken.

Daraus folgt das sogenannte „Sicherheitsparadox“: „Was der Stärkung der eigenen Sicherheit dient“, so Rudolf, „kann am Ende zu mehr Unsicherheit führen.“ – Eines der jüngsten praktischen Beispiele dafür ist die Stationierung US-amerikanischer Raketenabwehrsysteme vom Typ Aegis ashore in Rumänien und Polen, auf die Russland mit der beschleunigten Entwicklung von Hyperschall-Trägersystemen für Atomwaffen reagiert hat, um solche Abwehrsysteme technisch ins Leere laufen zu lassen. Mit der fatalen Folge, dass die durch solche Waffen nochmals drastisch verkürzte Vorwarnzeit im Falle eines Fehlalarms dann keinerlei Zeit zur Klärung eines solchen mehr ließe, weil die Auslösung eines Gegenschlages praktisch sofort erfolgen müsste (siehe ausführlicher Blättchen 22/2020).

Rudolfs abschließendes Fazit lautet: „Bei der nuklearen Abschreckung handelt es sich um ein […] System von nicht verifizierbaren Annahmen, das ge­radezu ideologischen Charakter hat. Abschreckungspolitik beruht auf Axiomen, für die es keine empirische Evidenz im wis­senschaftlichen Sinne gibt, sondern allenfalls anekdotische Evi­denz, deren Interpretation also glaubensgeleitet ist. Der Glaube an die nukleare Abschreckung ist ebendies – ein Glaube.“

Und was die von Politik, einschlägigen Experten und Medien häufig kolportierte Behauptung anbetrifft, die nukleare Abschreckung habe während des ersten Kalten Krieges schließlich den Frieden gesichert, so weicht Rudolf auch in dieser Frage vom gängigen NATO-„Narrativ“ ab: „Für die Behauptung, ohne nukleare Abschreckung wäre es zu einer sowjetischen Aggression gegen Westeuropa gekommen, fehlt, was verfügbare Quellen angeht, der empirische Nachweis.“

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Was Leon Wieseltier mit seiner eingangs zitierten Befürchtung Anfang der 1980er Jahre im Auge hatte war folgendes: Im Falle eines Versagens der Abschreckung zwischen West und Ost musste mit einem Atomkrieg gerechnet werden, der die menschliche Zivilisation (auf der Nordhalbkugel der Erde unmittelbar und auf der Südhalbkugel infolge der klimatischen und sonstigen Langzeitwirkungen massenhafter Atomwaffenexplosionen zeitversetzt) weitgehend vernichten würde. In Bezug auf die angehäuften Kernwaffenarsenale der nuklearen Supermächte USA und Sowjetunion sprachen die Experten in diesem Kontext daher seinerzeit von Overkill. Seither sind diese Arsenale zwar von einst zusammen rund 70.000 Sprengköpfen auf aktuell „nur“ noch knapp 13.000 reduziert worden. Ein Overkill-Potenzial ist das allerdings immer noch …

Peter Rudolf: Welt im Alarmzustand. Die Wiederkehr der nuklearen Abschreckung, J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2022, 138 Seiten, 18,00 Euro.

 

* – Zum Thema dieses Beitrages siehe auch Blättchen, Sonderausgabe vom 08.01.2018.