Der Vertrag
Der am 26. Dezember 2023 verstorbene CDU-Spitzenpolitiker Wolfgang Schäuble hat es in seiner politischen Karriere, während der er unter anderem über 50 Jahre dem Bundestag angehörte, bis auf den Sessel des zweithöchsten Amtes im Lande (Bundestagspräsident) gebracht. Bundeskanzler (dritthöchstes Amt) wäre er gern geworden, doch da stellte er sich durch Fragwürdigkeiten im damaligen CDU-Spendenskandal selbst ein Bein und musste als seinerzeitiger CDU-Vorsitzender im Jahr 2000 zurücktreten. Ihn beerbte Angela Merkel, wurde Kanzlerin und hatte später etwas dagegen, dass Schäuble auch noch das höchste Staatsamt (Bundespräsident) bekleidete …
Der Tagesspiegel nannte Schäuble in einem Nachruf einen „Statiker der Macht […], was zu seinem Ehrentitel ‚Architekt der Einheit‘“ passe. Und die Allgemeine Zeitung vermerkte: „Der Vertrag zur deutschen Einheit bleibt sein Meisterstück und Vermächtnis.“
Wie dieser Vertrag zustande kam, darüber hat Schäuble bekanntlich selbst ein Buch geschrieben, in dem er durchaus auch aus dem Nähkästchen plauderte: „In aller Heimlichkeit hatten wir im Bundesinnenministerium schon im Februar 1990 […] damit begonnen, die Wiedervereinigung Deutschlands rechtlich vorzubereiten.“ Auch um die Frage, wer bei den späteren Verhandlungen zum Einigungsvertrag Koch und wer Kellner war, machte Schäuble keinen Bogen: „In den internen Unterhaltungen ließ ich die DDR-Partner nie im unklaren über meine Prioritäten. Meine stehende Rede war: Liebe Leute, es handelt sich um einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, nicht um die umgekehrte Veranstaltung. Wir haben ein gutes Grundgesetz, das sich bewährt hat. […] Wir wollen nicht kaltschnäuzig über eure Wünsche und Interessen hinweggehen. Aber hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt. Wir fangen nicht ganz von vorn bei gleichberechtigten Ausgangspositionen an. Es gibt das Grundgesetz, und es gibt die Bundesrepublik Deutschland. Laßt uns von der Voraussetzung ausgehen, daß ihr vierzig Jahre lang von beiden ausgeschlossen wart. Jetzt habt ihr einen Anspruch auf Teilnahme, und wir nehmen darauf Rücksicht.“ Ausdrückliches Lob spendete Schäuble seinem DDR-Gegenüber Günter Krause: „Im Gegensatz zu dem Ministerpräsidenten [de Maizière – die Redaktion] ließ Kraus nie den Drang verspüren, irgend etwas aus der alten DDR in das neue Deutschland retten zu wollen. Das erleichterte mir die Kooperation mit ihm.“
Aus zeitgeschichtlicher Sicht ist Schäubles Buch auch heute durchaus noch aufschlussreich.
Wolfgang Schäuble: Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1993 (Taschenbuchausgabe), 320 Seiten; antiquarisch über Plattformen wie ZVAB oder Booklooker.
Kalter Krieg in Wort und Bild
Die Systemauseinandersetzung mit Schriften und Büchern sowie per Rundfunk und Fernsehen wurde nicht nur vom Westen aus geführt – hier zumeist mit finanzieller Unterstützung amerikanischer Geheimdienste, nach Gründung der Bundesrepublik mit Mitteln mehrerer Bundesministerien oder auch vom sogenannten Ostbüro der SPD –, sondern auch aus dem Osten. Aus der DDR kamen Unmengen von Offenen Briefen, Reden, Erklärungen und Beschlüssen. SPD-Funktionäre erhielten die Zeitschrift Sozialistische Briefe, Kulturschaffende waren die Adressaten verkleinerter, ungehefteter und nicht mit dem markanten roten Umschlag versehener Sonderausgaben der Weltbühne. Hinzu kam die finanzielle Unterstützung der KPD und anderer Organisationen sowie linker Verlage.
In der Großen Koalition ab 1966 sorgte der neue Gesamtdeutsche Minister Herbert Wehner für die Einstellung der von seinem Ministerium bislang geförderten Kampfliteratur. Und in einem gesonderten Briefwechsel zum Grundlagenvertrag von 1972 verpflichtete sich die DDR, den Deutschen Freiheitssender 904 und den Soldatensender abzuschalten. Die Bundesrepublik beendete im Gegenzug den Abwurf von Propagandaschriften mittels Ballons, und die SPD löste 1971 ihr Ostbüro auf.
Klaus Körner: Trojanische Pferde. Politische Verlage im Kalten Krieg, Lehmstedt Verlag,
Leipzig 2023, 544 Seiten, 58,00 Euro.
Kognitive Kriegsführung
Mit der Darstellung neuer und alter Manipulationstechniken der transatlantischen Propaganda belegt das Buch, wie die NATO-Lobby die Psyche der Menschen „direkt ins Visier“ nimmt. Die Einflussnahme der Militärs auf die Menschen nutzt bewährte und die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften, damit die Betroffenen den Gedankenkrieg möglichst nicht bemerken. Der Feldzug auf die Gehirne erfolgt mit „Soft Power-Techniken“ durch psychologische Indoktrination. Viele Menschen gehen davon aus, dass derartiges nur in Staaten wie Russland oder China stattfindet und haben deshalb ihren Abwehrschirm gegen diese Steuerung ihrer Wahrnehmung von Informationen nicht aktiviert.
Jonas Tögel: Kognitive Kriegsführung. Neueste Manipulationstechniken als Waffengattung der NATO, Westend Verlag, Frankfurt/Main 2023, 256 Seiten, 24,00 Euro.
Vor dem Gesetz sind alle gleich?
Das behauptet zumindest Artikel drei, Absatz eins des Grundgesetzes.
Das vorliegende Buch ist ein Ausflug in die davon nicht selten abweichende Praxis bundesdeutscher Strafgerichtsbarkeit. Der Autor räumt mit weit verbreiteten Klischees auf, wie beispielsweise, dass jeder, der es verlangen würde, Anspruch auf einen Pflichtverteidiger habe und auf diese Weise nicht ohne Beistand vor Gericht stehe. Doch die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür sind streng geregelt und liegen nur bei einem Bruchteil der betroffenen Fälle vor. Auf eine finanzielle Bedürftigkeit kommt es dabei nicht an. Der Bedürftige geht deshalb oft leer aus, weil er sich einen Wahlverteidiger nicht leisten kann. Er weiß nicht, was ihn erwartet, wie die Abläufe sind und welche Möglichkeiten er hat, um sich gegen die Klage zur Wehr zu setzen. Demgegenüber stehen reiche Angeklagte, die mitunter mit zwei oder gar drei Anwälten vor Gericht erscheinen, um dadurch nicht nur besonderen Eindruck zu machen, sondern auch um das Gericht nachhaltiger von der eigenen Position zu überzeugen. Nicht immer gelingt das. Wenn die Dinge schlecht stehen, sind die Beteiligten aufgeschlossener dafür, einen „Deal“ – der Gesetzgeber spricht lieber euphemistisch von „Verständigung“ – zu machen. Lange Zeit war dieser Bereich eine Grauzone, die sich allmählich entwickelte und erst vor einigen Jahren Eingang in die Strafprozessordnung fand.
Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Über soziale Ungerechtigkeit in der Strafjustiz, Berlin Verlag, Berlin 2022, 272 Seiten, 20,00 Euro.
Plädoyer für Entspannung
Der Krieg in der Ukraine hat in Deutschland bisher zu keiner kontroversen Debatte geführt, in der Vertreter unterschiedlicher Positionen um die Zustimmung des Publikums ringen. Die Debatte ist im Gegenteil gekennzeichnet durch die nahezu vollständige Vorherrschaft jener Bellizisten, deren Motto ist: Waffen und noch mehr Waffen in die Ukraine, dann wird Russland besiegt werden. Die Fokussierung auf die Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld kennzeichnet die öffentliche Befassung mit diesem Thema. Positionen, die vorherrschende Narrative infrage stellen, sind zwar vorhanden, aber in der öffentlichen Wahrnehmung, insbesondere in den etablierten Medien, nicht präsent. Wer Alternativen zur Kriegsführung einfordert, wird wahlweise als „Lobbyist des Feindes“, als „Lumpenpazifist“ oder als „Putinversteher“ diffamiert.
Die Herausgeber des Sammelbandes „Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ haben zehn weitere Autoren gewonnen, die aus der Perspektive ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Fachrichtungen oder professionellen Erfahrungen verschiedene Aspekte des Krieges und seiner Geschichte analysieren. Zwei Autoren sind ehemalige Politiker – Klaus von Dohnanyi (SPD) und Willy Wimmer (CDU). Der thematische Rahmen des Bandes ist gespannt von der Geschichte der russisch-europäischen Beziehungen der letzten Jahrhunderte über Analysen zur Vorgeschichte des Krieges, zu den Erfahrungen mit Sanktionen und Wirtschaftskriegen, zur Rolle der Medien in der Kriegsberichterstattung und zur Rolle der Partei Bündnis 90/Die Grünen bis hin zu Lehren für zukünftige Entspannungspolitik.
Sandra Kostner / Stefan Luft (Hrsg.): Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2023, 352 Seiten, 24,00 Euro.
Wissen versus Glaube
Bertrand Russell hat diesen Text, der ursprünglich 1927 als Vortrag vor der National Secular Society gehalten wurde, erstmals 1957 zusammen mit etlichen anderen seiner religionskritischen Schriften herausgebracht. Seither ist er in immer neuen Ausgaben zu einem Klassiker der modernen Religionskritik avanciert. Nun ist die Schrift bei Matthes & Seitz als kleines, schmales Taschenbuch erschienen.
Russell beschreibt die Geschichte des Christentums als eine Abfolge von flächendeckender körperlicher und seelischer Grausamkeit, von Machtpolitik und Unterdrückung. „Es ergibt die seltsame Tatsache, dass die Grausamkeit umso größer und die allgemeine Lage umso schlimmer waren, je stärker die Religion und je fester der dogmatische Glaube war.“
Dass es beinahe einhundert Jahre nach Russells Befund kein Ende damit hat, zeigen die jüngsten Aufdeckungen weltweit verübter Missbrauchsverbrechen von Priestern an Schutzbefohlenen. Eine Kontinuität Grauens. Die Russell’sche Kritik gipfelt im Vorwurf, dass „die christliche Religion in ihrer kirchlich organisierten Form der Hauptfeind des moralischen Fortschritts in der Welt war und bis heute ist“.
Stattdessen setzt der Aufklärer Russel seine Hoffnung auf Rationalität und Intelligenz, um angstfrei im Diesseits zu leben. Wer Gott neben sich wünscht, der sollte dazu bereit sein, den eigenen Verstand abzuschalten und zum Beispiel die ungelöste Grundfrage auszuklammern, warum es so viel Grausamkeit und Ungerechtigkeit, Barbarei und Elend auf der Welt gibt, wenn doch alles von einem liebenden und allmächtigen Gott geschaffen wurde.
Bertrand Russell: Warum ich kein Christ bin, Matthes & Seitz, Berlin 2023, 188 Seiten, 12,00 Euro.
Hochdurchgeistigtes – garniert mit Klatsch und Tratsch
André Müller und Peter Hacks verband eine lebenslange Freundschaft. Seit den späten fünfziger Jahren bestand ein ununterbrochener Briefwechsel und persönlicher Austausch zwischen dem westdeutschen Schriftsteller, Publizisten und Theatermann aus Köln und dem 1955 in die DDR übergesiedelten Dichter. Ihre Briefe geben Aufschluss über ihre ästhetische Positionierung, oftmals in scharfer polemischer Abgrenzung, über die Geschichte des deutsch-deutschen Literaturbetriebes, die DDR-Kulturpolitik, den Stand der dramatischen Kunst, die Bewusstseinslage in Deutschlandnach ’89; insgesamt sind sie eines der bedeutendsten Zeugnisse für das Niveau marxistischer Kunst- und Gesellschaftsdiskussion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Daneben kommen auch Klatsch und Tratsch über Künstlerkollegen und Politiker – darunter Sahra Wagenknecht – nicht zu kurz. Besonders Hacks fördert die wissbegierige junge Intellektuelle. „Sahra war zu Gast und hat an mir gesaugt wie ein Vampir“, schreibt Hacks im Herbst 1993. „Ich habe sie nach fünf Stunden vor die Tür gesetzt, habe aber noch die Bissmale an der Kehle.“ Im Übrigen lobt Hacks sein „hübsches Pflänzchen“ für ihre Aufsätze, mit denen sie sich unter Linken einen Namen macht. Ein Essay über die Ostpolitik des Imperialismus nennt Hacks „meisterlich“, preist auch ein „erstklassiges Romantik-Massaker“ oder einen Nachruf auf Erich Honecker in der Zeitschrift Konkret, um sich allerdings im Gegenzug zu beschweren: „Ich wollte freilich, sie würde mich nicht so gründlich auswaiden, ohne mich je zu zitieren.“
Peter Hacks / André Müller sen.: Der Briefwechsel 1957-2003, herausgegeben von Heinz Hamm und Kai Köhler, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2021, 1280 Seiten, 58,00 Euro.
Neoliberalismus
Der Begriff Neoliberalismus ist vielen vertraut, dennoch bleibt häufig unklar, welche Bedeutung sich dahinter genau verbirgt. Patrick Schreiner bietet einen grundlegenden Einstieg, indem er den Neoliberalismus allgemein betrachtet und definiert sowie seine historische Entwicklung darstellt. Dabei wird einerseits die Ideengeschichte mit zentralen Vordenkern und zum anderen die Um- und Durchsetzung mit ihren zentralen Entwicklungsschritten beschrieben. Nach der Betrachtung der Pinochet-Diktatur in Chile zwischen 1973 und 1988, die zentral für die Durchsetzung des Neoliberalismus insgesamt war, räumt Schreiner mit einigen Mythen auf. Von einem schwachen Staat und gesellschaftlicher Freiheit, die oft mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht werden, könne in der Militärdiktatur keine Rede sein. Der Neoliberalismus ist autoritär und repressiv in der Aufrechterhaltung und Durchsetzung der Marktordnung, was nicht zuletzt in linken und gewerkschaftlichen Kämpfen zu spüren ist.
Ein weiterer historischer Meilenstein des Neoliberalismus ist zugleich ein trauriger Tiefpunkt der Sozialdemokratie. Seit den 1990er und 2000er Jahren sind sozialdemokratische Parteien in den westlichen Industriestaaten federführend bei der Umsetzung neoliberaler Reformen.
Patrick Schreiner: Unterwerfung als Freiheit – Leben im Neoliberalismus, PapyRossa Verlag, Köln 2020 (6. Auflage), 133 Seiten, 11,90 Euro.
Vom Kampf um Freiheit
Anhand einer Auswahl von Schriften, Gesprächen und Vorträgen untersucht die international bekannte Aktivistin und Wissenschaftlerin Angela Davis die Schnittmengen und Verbindungen von Befreiungskämpfen gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt rund um den Globus. Es geht um die Rolle der Schwarzen Frauenbewegung (Black Feminism), die Zusammenhänge von Ungleichheit in „Rasse“, Geschlecht und Klasse (Intersektionalität), den kapitalistischen Individualismus, die Bewegung gegen Gefängnisse (Prison Abolition Movement) und Polizeigewalt.
Von der Schwarzen US-amerikanischen Freiheitsbewegung bis zur südafrikanischen Anti-Apartheid-Bewegung: Davis lässt bedeutende zeithistorische Befreiungsbewegungen Revue passieren, nimmt deren Gemeinsamkeiten unter die Lupe und arbeitet ihre Bedeutung für die aktuellen Bewegungen gegen Staatsgewalt heraus. Davis plädiert dafür, eine weltumspannende Bewegung zur Befreiung der Menschheit aufzubauen.
Angela Davis: Freiheit ist ein ständiger Kampf (übersetzt aus dem Englischen von Sven Wunderlich), Unrast Verlag, Münster 2022 (3. Auflage), 160 Seiten, 14,00 Euro.
Zur Vorgeschichte des Ukraine-Krieges
„Als der Tag anbrach, breitete sich eine Schockwelle über die Welt aus: In Europa tobte fast 23 Jahre nach dem NATO-Angriff auf Jugoslawien wieder ein offener Krieg.“ Diesen einleitenden Worten lässt Jörg Kronauer die Vorgeschichte jenes Waffengangs folgen, in den der Ukraine-Konflikt durch den russischen Angriff im Februar 2022 umschlug: Dabei geht es um einen der beiden Großkonflikte, für die der Westen seit Jahren rüstet. Einmal gegen Russland, das sich nach seinem dramatischen Niedergang in den 1990ern stabilisiert hat und nun auf einer eigenständigen Rolle in der Weltpolitik beharrt. Zum zweiten gegen China, das bei rasantem Aufstieg im Begriff ist, zur Weltmacht zu werden. Dies suchen die transatlantischen Staaten zu verhindern. Der Machtkampf gegen Russland wie gegen China wird politisch, wirtschaftlich und medial geführt. In wachsendem Maß kommt ein militärischer Aufmarsch hinzu. Der Band zeigt: Eine künftige militärische Konfrontation, mit der bei weiterer Brandbeschleunigung auch das Szenario eines allumfassenden Weltkriegs bedrohlich aufscheint, liegt in der Logik dieser Politik.
Jörg Kronauer: Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg. Russland, China und der Westen, PapyRossa Verlag, Köln 2022, 207 Seiten, 14,90 Euro.
Aufklärung, etymologische
Was haben die Worte Eimer, Ferien, Grille, Kohl, sauber und Ulme gemeinsam? Von ihrer jeweiligen Bedeutung her – offensichtlich nichts. Aber vielleicht was Linguistisches: Diese Worte klingen so ur-deutsch wie nur irgendwas! Mag sein. Trotzdem – Irrtum. Die Gemeinsamkeit der fünf Begriffe liegt nämlich in ihrer sprachlichen Herkunft. Sie sind allesamt aus dem Lateinischen auf das Deutsche gekommen, wie noch viele andere Wörter zwischen abkanzeln und Zwiebel.
Klaus Mackowiak, der seit vielen Jahren als Duden-Sprachberater Fragen zu grammatischen, orthografischen und stilistischen Unklarheiten beantwortet, hat dazu ein Kompendium verfasst und schreibt in seiner Einleitung: „Sind wir nun endgültig mit unserem Latein am Ende? Durchaus nicht. Eine ganze Menge Latein steckt etwa in Wörtern wie Flegel und Laune, nüchtern und peinlich, torkeln und waten – aber sie protzen nicht so damit. Solchen Wörtern hört und liest man eigentlich gar nicht an, dass sie aus einer Fremdsprache stammen. Und dennoch: Sie gehen auf das Lateinische zurück. Das Besondere an ihnen ist, dass sie als sogenannte Lehnwörter (anders als Fremdwörter) völlig in die Lautung, Morphologie und Orthografie der deutschen Sprache integriert sind. Daher spürt man das Lateinische kaum oder gar nicht mehr heraus und die genauere Erforschung ihrer Herkunft verspricht viele schöne Aha-Erlebnisse.“ Mit diesem Versprechen hat der Autor nicht übertrieben.
Klaus Mackowiak: Kann Spuren von Latein enthalten. Kleines Lexikon deutscher Wörter lateinischer Herkunft, C.H. Beck Verlag, München 2023, 174 Seiten, 15,00 Euro.
Wiener Streifzüge
In seinem Einlauf zum Heft schreibt Franz Schandl: „Covid, Ukraine, Israel-Palästina, das sind aktuelle Themen, die allemal eher vorsichtige als überzeugte Statements nahelegen. Es geht nach wie vor um den Abbau der Fronten, nicht um die Besetzung der Schützengräben. Wichtiger als schnelle Antworten zu liefern, ist es die richtigen Fragen zu stellen. Trotz aller infrastrukturellen Defizite: Wir tasten uns voran. Sich nicht irre machen zu lassen in dieser immer mehr aus den Fugen geratenden Welt, ist wichtig, wollen wir nicht im molekularen Bürgerkrieg enden.“
Ebenso von ihm folgt ein längerer sprachkritischer Beitrag „Im Käfig der Sprache“. Die aktuellen Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten beschreibt Lorenz Glatz in „Montagehöllen des Krieges“. Nikolaus Dimmel stellt den Tod der Universitäten als Zentren der Kritik fest: „Tote Pferde kann man nicht reiten“. Unter der Überschrift „Die Progressiven“ verficht Hendrik Wallat seine streitbaren Thesen zur fortschreitenden Regression der Linken. Meinungsverschiedenheiten mit Teilen der Redaktion hinsichtlich des Ukrainekrieges nimmt Peter Klein zum Anlass für seinen Text „Nachsommer der wehrhaften Demokratie“.
Weitere Themen sind „Demontage des bürgerlichen Staats“, „Demokratischer Arbeitszwang“ und als „Märchenunglück“ eine lesenswerte Erörterung von Hermann Engster zu „Frau Trude“ aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm.
Den Auslauf gibt Petra Ziegler über den boomenden Wohnungsbau in Österreich trotz des dortigen riesigen Leerstandes …
Streifzüge, Nr. 88, Herbst 2023, Einzelheft 10,00 Euro, Internet.
Letzte Meldung
In der Senderreihe „Buch der Woche“ von WDR 5 ist gerade „Das Totenschiff“ von B. Traven besprochen worden – ein auch noch fast 100 Jahre nach seiner Erstausgabe bei der Büchergilde Gutenberg (1926) packender Roman. Nur um die gerade beim Diogenes Verlag erschienene Neuausgabe sollte man wohl besser einen Bogen machen, denn das Buch sei, so WDR 5, sprachlich „an den Zeitgeist angepasst“ worden, „indem etwa das N*Wort ersetzt wurde“.
Die zweifache Oscar-Preisträgerin Emma Thompson nannte dergleichen Literaturverhunzung in einem Interview mit dem SPIEGEL kürzlich „schlicht und einfach […] Zensur. Wir müssen Bücher aus der Zeit heraus verstehen, in der sie entstanden sind. Wenn wir stattdessen jedes Unrecht rückblickend ungeschehen machen wollen, wird wenig Literatur übrig bleiben.“
Und was „Das Totenschiff“ anbetrifft, so herrscht an Originalausgaben Gott sei Dank noch kein Mangel – und sei es auf Second Hand-Plattformen wie ZVAB oder Booklooker. Dort womöglich gar aus dem Hause Diogenes …
Schlagwörter: Angela Davis, B. Traven, Bertrand Russell, Das Totenschiff, Entspannung, Glaube, kalter Krieg, kognitive Kriegsführung, Krieg, Latein, Neoliberalismus, Peter Hacks, Propaganda, Religionskritik, Russland, Sahra Wagenknecht, Schäuble, soziale Ungerechtigkeit, Strafjustiz, Streifzüge, Ukraine-Konflikt, Vertrag zur deutschen Einheit, Westen