26. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2023

„Ich würde mir wünschen …“*

von Gabriele Krone-Schmalz

Normalerweise würde ich nicht auf einer Kundgebung sprechen. Als Journalist empfiehlt sich eine gewisse Zurückhaltung. Aber in diesen Zeiten käme mir Zurückhaltung so vor, als wolle man sich vor der Verantwortung drücken. Das ungenierte Kriegsgeschrei kann ich so nicht hinnehmen.

Und ich habe den Eindruck, dass sich die Mehrheit in unserer Gesellschaft – schon gar die schweigende – weniger Kriegsrhetorik wünscht und dafür mehr ernstzunehmende diplomatische Ansätze. Das ist das Kerngeschäft von Politik. Waffenlieferungen sind eher eine Bankrotterklärung derselben.

Es reicht nicht einen militärischen Plan zu haben. Ein politischer Plan ist das Entscheidende. Und der fehlt, sowohl mit Blick auf Russland und die Ukraine als auch mit Blick auf Israel und den Nahen Osten.

Es wird in Kategorien von Sieg und Niederlage gedacht und argumentiert. Es wird von wertegeleiteter Außenpolitik gesprochen, die offenbar kein Problem damit hat, die zivilen Opfer je nach Täter als Kriegsverbrechen oder Kollateralschaden zu verbuchen.

Mir geht die Heuchelei gehörig auf die Nerven und auch, immer Bekenntnisse abgeben zu sollen, bevor man zum Punkt kommt.

Natürlich ist der russische Angriff auf die Ukraine völkerrechtswidrig. Aber was folgt denn daraus? Rache, Vergeltung, wie Du mir so ich Dir? Kampf bis zum letzten Blutstropfen? Das lässt sich leicht fordern, wenn man nicht selbst an die Front muss.

Dieser fatale Bekenntniszwang, der sowohl in der Politik als auch in den Medien üblich geworden ist, verhindert eine sachorientierte Auseinandersetzung über die besten Wege, wie wir da wieder rauskommen. Ein „Ja, aber…“ oder „Nein, obwohl…“ – das hat doch nichts mit Relativierung zu tun oder gar mit Rechtfertigung, sondern spricht dafür, dass derjenige zur Differenzierung fähig ist und sich nicht mit platten Gut-Böse-Schemata zufriedengibt, die der Realität im Übrigen selten standhalten. Weder in der Ukraine noch in Israel.

Eines der überzeugendsten „Ja, aber…“ stammt von Klaus von Dohnanyi, diesem besonnenen SPD-Politiker, der in den 80er Jahren Erster Bürgermeister in Hamburg war. Er hat sinngemäß gesagt: Ja, der Krieg, den die Russen angefangen haben, ist ein Verbrechen, aber dass der Westen ihn nicht verhindert hat, ist eine Sünde.

Es geht im Moment gar nicht darum, Schuldzuweisungen hin und her zu schieben – waren es die Entspannungspolitiker, die den russischen Überfall erst möglich gemacht haben, oder doch eher diejenigen, die den Entspannungspolitikern immer wieder Knüppel zwischen die Füße geschmissen haben – es geht jetzt darum, die Ausweitung von Kriegen zu verhindern beziehungsweise laufende Kriege zu beenden.

Dass das nicht einfach ist, weiß ich auch. Aber es wird ja gar nicht erst versucht. Der politische Wille fehlt. Die politische Analyse sowieso. Stattdessen gibt’s Ideologie und Moral, und Gedankenspiele sogenannter Experten, wie jetzt in der ZEIT, in denen Horrorszenarien ausgebreitet werden, für den Fall, dass Russland nicht besiegt wird. Verantwortungslose Angstmacherei von Leuten, die behaupten, ganz genau zu wissen, was Putin will und denkt, und die sich in einer grenzenlosen Arroganz hinstellen und einen Mentalitätswechsel in der deutschen Gesellschaft fordern.

Unsere Demokratie wird nicht in der Ukraine verteidigt, genauso wenig wie damals am Hindukusch. Das ist nur eine besonders hinterhältige Form, Kriegseinsätze zu rechtfertigen und moralischen Druck aufzubauen. Der Kampf um unsere Demokratie findet nicht im Ausland statt, sondern innerhalb unserer Landesgrenzen.

Und deshalb braucht es wieder so etwas wie eine Friedensbewegung. Die Menschen sollten sich nicht ins Bockshorn jagen lassen, von den Salon-Intellektuellen, die von Lumpen-Pazifisten reden, und auch nicht davon, als gefallene Engel bezeichnet zu werden.

Es gibt in der Geschichte genug Figuren, die bewiesen haben, dass Gewaltfreiheit, intelligentes Selberdenken und Mut, sich dem entgegenzustellen, was man nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, letztlich zu besseren Lösungen geführt hat als das Kriegsgeschrei von denjenigen, die sich stets auf der „moralisch richtigen“ Seite wähnen.

Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet in unserem Land die Hardliner und Scharfmacher so viel Gehör finden. Vielleicht liegt ein Grund darin, dass vielen von denen aufgrund ihres Alters – oder besser gesagt ihrer Jugend – die eigene Erfahrung fehlt, was Krieg bedeutet. Das ist keine aseptische Joystick Operation, die punktgenau militärische Ziele ohne Menschen trifft. Krieg – ganz gleich welcher – ist Barbarei. Krieg ist das Kriegsverbrechen.

Ich würde mir wünschen, dass junge Menschen, die mit ihrem Engagement im Kampf gegen den Klimawandel Gesellschaften weltweit aufgerüttelt haben, das Thema Frieden entdecken und sich dafür mit der gleichen Kraft einsetzen. Über die Meinungen, wie man das konkret am besten macht, darf und muss gestritten werden. Aber angstfrei und respektvoll und natürlich faktenbasiert. Denn Propaganda können sie alle, das ist kein Privileg Moskaus.

Ich weiß nicht, wer hier alles auf dem Platz steht. Ich kann mir gut vorstellen, dass einige darunter sind, mit deren politischen Überzeugungen ich nicht einverstanden bin. Aber soll ich mich deswegen davon abhalten lassen, hier zu sprechen? Wie dumm wäre das denn?

Der Kabarettist Andreas Rebers hat mal gesagt: Wenn ich etwas Richtiges sage, was den falschen Leuten gefällt, dann wird das Richtige dadurch nicht automatisch falsch. – Menschen, die sich wehren, müssen mutiger werden. Mutig in dem Sinne, dass sie gegen all das argumentieren können, was in unserem demokratischen System nichts zu suchen hat.

Es wird Zeit, dass der Kampf um Frieden und politische Pläne – nicht militärtaktische – in die Mitte der Gesellschaft zurückkehrt und nicht an irgendwelche Ränder abgedrängt wird.

Was die Bürger der DDR damals geschafft haben, das sollten wir im vereinten Deutschland jetzt vielleicht doch auch hinkriegen: auf friedliche Weise den politisch Verantwortlichen klarmachen, dass dieses Konfrontationsdenken in die Sackgasse führt. Das hatten wir doch alles schon mal. Und ich möchte mich nicht auf das Glück verlassen, das wir im Kalten Krieg hatten, das Glück, mit dem uns ein heißer Krieg erspart geblieben ist.

Den Druck von unten sollte man nicht geringschätzen. Michail Gorbatschow, der Architekt von Entspannung und Abrüstung und der Mann, dem wir im Wesentlichen die deutsche Vereinigung zu verdanken haben – man vergisst diese Dinge so schnell – Michail Gorbatschow hat immer wieder die Rolle der Öffentlichkeit betont. Die Stimme der Friedensbewegung gegen Krieg und Atomwaffen war eine starke. Diese Stimme wurde gehört.

Und dann ist alles zu selbstverständlich geworden.

Das Brandenburger Tor ist ein guter Ort, sich der Verantwortung bewusst zu sein oder zu werden, die man als sogenannt mündiger Bürger in einem demokratisch verfassten Staat hat. Mündige Bürger sind nämlich systemrelevant. Sie müssen so gut wie möglich Bescheid wissen, sie müssen Stellung beziehen, also entscheiden, die Konsequenzen ihrer Entscheidung überblicken und dafür dann die Verantwortung übernehmen. Eigentlich simpel, aber irgendwie aus dem Blickfeld geraten.

Es ist an der Zeit, dass die schweigende Mehrheit sieht, wie wichtig es ist, sich zu Wort zu melden, sich nicht mundtot machen zu lassen und sich mit aller Kraft dafür einzusetzen, was bislang bei uns selbstverständlich schien: Frieden.

 

* – Manuskript der Rede, die Gabriele Krone-Schmalz auf der Friedensdemonstration am Brandenburger Tor (25.11.2023) gehalten hat. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin.