26. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2023

Bemerkungen

Verlorene Paradiese

 

Der bekannte französische Schriftsteller elsässischer Abstammung Éric-Emmanuel Schmitt ist ein über Denis Diderot promovierter Philosoph. Schmitt ist heute einer der weltweit meistgelesenen und meistgespielten französischsprachigen Autoren. Er lebt in Brüssel. Der Durchbruch gelang ihm in verhältnismäßig kurzer Zeit.

International bekannt wurde er zunächst als Bühnenautor, vornehmlich mit dem Theaterstück „Der Besucher“ (Le Visiteur) und später mit „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ (Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran). Das letztgenannte Stück hatte als Erzählung einen äußerst großen Erfolg in Deutschland und wurde 2004 mit dem „Deutschen Bücherpreis“ (Publikumspreis) ausgezeichnet, nachdem es 2003 die Spiegel-Bestsellerliste anführte. Die Verfilmung im gleichen Jahr mit Omar Sharif war ein internationaler Erfolg und brachte Sharif ein spätes Comeback und mehrfache Auszeichnungen als bester Hauptdarsteller. Der Film war ein sympathisches, zwischen Märchen und Realität angesiedeltes Plädoyer für Menschlichkeit, Toleranz und Hoffnung, erzählt in schönen Bildern mit viel Sinn für den Zeitgeist.

Viele weitere Bücher und Theaterstücke folgten. 2021 erschien in Paris sein Roman „La Traversée des temps – Paradis perdus“ (Der Wandel der Zeiten – Verlorene Paradiese). Schmitt hat ihn als ersten Teil eines als Trilogie geplanten Zyklus angelegt. 2023 liegt nun die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Noams Reise – Der Morgen der Welt“ vor.

Der französische Weltautor bezeichnet den Zyklus als sein Lebensprojekt. Es ist eine Zeitreise durch die Geschichte der Menschheit vom Neolithikum bis in die Gegenwart. Wir lernen die Hauptfigur Noam bei seiner Wiedergeburt in der versteckten Jeita-Grotte im Libanon kennen, begleiten ihn, der zwanzig Sprachen, auch die der Tiere, spricht, nach Beirut. „‚Klimaerwärmung‘ Noam hat keine Ahnung, was das bedeutet. […] Während seines Winterschlafes hat die Menschheit ihre Auslöschung provoziert.[…] Was für einen Sinn hat es, in eine solche Welt zurückzukehren?“ Die Feuer um die Stadt lodern.

Am Ende des Prologs setzt er sich an den Schreibtisch: „Ich wurde vor Tausenden von Jahren geboren, in einem Land mit Bächen und Flüssen, am Ufer eines Sees, der zu einem Meer geworden ist.“ So beginnt nun der erste Teil des Romans, „Der See“ genannt. Der zweite Teil wird „Die Sintflut“ heißen. Noam berichtet über eine Zeit in der die Menschen noch im Einklang mit der Natur lebten, aber auch über Liebe und Hass zwischen den Menschen in der Jungsteinzeit, über Nura, die Liebe seines Lebens, und über seinen Vater, den Dorfältesten, vom tödlichen Duell mit diesem wegen seiner Liebe. Er berichtet vom großen Regen, der den Spiegel des Sees immer weiter anschwellen lässt. Das Ereignis wird bald zum Mythos werden. Noam muss für sein bedrohtes Dorf einen Ausweg finden – da trifft ihn ein Blitzschlag. Er ist seiner Sterblichkeit beraubt. Die Reise durch die Zeiten beginnt.

Die Handlung des Romans verschränkt die heutige Gegenwart Noams immer wieder mit seinen Erlebnissen in den vergangenen Jahrtausenden. Im Epilog des Romans begreift er, die Sintflut schuf das Schwarze Meer, das aus seinem See der Kindheit und Jugend entstand. Die mythische Sintflut war bereits die Folge einer Klimaerwärmung. Jetzt lernt er Survivalisten kennen und wird Zeuge einer terroristischen Verschwörung …

Le Figaro schrieb: „Ein echter Abenteuerroman voller Tragik und alttestamentarischer Wucht. Meisterhaft.“ In Frankreich wurde er schnell zu einem gefeierten Bestseller.

Henricus Schwertfeger

Eric-Emmanuel Schmitt: Noams Reise (1) – Der Morgen der Welt. Roman, aus dem Französischen von Michael v. Killisch-Haorn, C. Bertelsmann Verlag, München 2023, 528 Seiten, 24,00 Euro.

 

Mottogedicht und Lesebuchgeschichten

Ich möchte Leuchtturm sein
in Nacht und Wind –
für Dorsch und Stint –
für jedes Boot –
und bin doch selbst
ein Schiff in Not!

 

Lesebuchgeschichten

 

Zwei Männer sprachen miteinander:
Na, wie ist es?
Ziemlich schief.
Wieviel haben Sie noch?
Wenn es gut geht: viertausend.
Wieviel können Sie mir geben?
Höchstens achthundert.
Die gehen drauf.
Also tausend.
Danke.
Die beiden Männer gingen auseinander.
Sie sprachen von Menschen.
Es waren Generale.
Es war Krieg.

 

Zwei Männer sprachen miteinander.
Freiwilliger?
’türlich.
Wie alt?
Achtzehn. Und du?
Ich auch.
Die beiden Männer gingen auseinander.
Es waren zwei Soldaten.
Da fiel der eine um. Er war tot.
Es war Krieg.

 

Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Haus. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot.
Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter.
Warum nicht, fragte der Soldat.

 

Als die Friedenskonferenz zu Ende war, gingen die Minister durch die Stadt. Da kamen sie an einer Schießbude vorbei. Mal schießen der Herr? riefen die Mädchen mit den roten Lippen. Da nahmen die Minister alle ein Gewehr und schossen auf kleine Männer aus Pappe.
Mitten im Schießen kam eine alte Frau und nahm ihnen die Gewehre weg. Als einer der Minister es wiederhaben wollte, gab sie ihm eine Ohrfeige.
Es war eine Mutter.

Wolfgang Borchert (1921-1947)

Krieg oder Frieden

 

Alle Menschen wollen Frieden und trotzdem sind viele im Krieg. Dieser Satz ist formal unlogisch, aber vollkommen logisch, wenn man begründet, warum seit 1945 bis heute das militärische Wettrüsten die Gestaltung einer Weltkriegsordnung nachhaltig aufrecht erhält und die Schaffung einer Weltfriedensordnung verhindert.

Der Begriff Weltkriegsordnung bezieht sich nicht auf die naheliegende Assoziation Dritter Weltkrieg. Den wollen alle vermeiden, weil der auf jeden Fall ein atomarer Weltkrieg mit allen schon berechneten Folgen werden würde.

Im Prozess der Digitalisierung der modernen Waffensysteme ist ein lokal begrenzter Krieg mit Atomwaffen durchaus denkbar und auch führbar und scheint in Europa durch die Eskalationsmöglichkeiten im Ukrainekrieg immer möglicher. Aber auch die über einhundert Atomkraftwerke in der EU sind eine potentielle atomare Bedrohung.

Letztlich ist es egal, wer mich früher oder später in den Tod durch Krieg bringt, ob Putin mit seinem Angriffskrieg oder Selenskyj mit seinem Verteidigungskrieg bis zum letzten Ukrainer. Denn wenn ich im Krieg sterbe, sterben auch alle geflüchteten Ukrainer hier in Deutschland und in den anderen europäischen Staaten.

Mit dem Blick aus ihren Kontinentalstaaten in Afrika, Asien, Süd- und Nordamerika sowie Australien blicken alle diese Menschen genauso nach Europa, wie wir EU- und Nato-Europäer auf und in diese Kontinentalstaaten blicken.

Entscheidend ist in unserem individualisierten Egoismus doch die Tatsache, dass man nicht selbst von den dort stattfindenden natürlichen und sozialen Katastrophen betroffen ist. Die Sehnsucht einiger weniger, aber einflussreicher Elite-Europäer aus den unterschiedlichsten Motiven nach einer militärischen Eskalation des Ukraine-Krieges verstärkt in mir die Angst, doch noch vor meinem natürlichen Tod im Krieg sterben zu müssen.

Die Ausweitung der Kriegsführungsfähigkeit der Ukrainer in die Tiefen des russischen Territoriums hinein fördert die Bereitschaft der Russen zum massiven Vergeltungsschlag, um militärischer Sieger in der Verteidigung des russischen Territoriums zu bleiben. Mit katastrophalen Folgen für die Menschen in Europa. Würde Putin diese strategischen Überlegungen nicht anstellen, würde er seine Glaubwürdigkeit in der eigenen Bevölkerung verlieren.

Jeder Krieg ist ein Verbrechen, weil ein Angriffskrieg immer in dieses Verbrechen an den Menschen als Individuum einmündet. Das aber wird sich solange fortsetzen, solange konfrontative und eskalierende Konfliktlösungsorientierungen dominieren. Alle Menschen wollen Frieden, aber nicht alle wollen deeskalierende Konfliktlösungen.

Jeder Krieg, den nie jemand will und der trotzdem stattfindet, liefert jedesmal den praktischen Beweis für die Sinnhaftigkeit von Kriegen für eine Minderheit von Menschen. Rüstungsproduktion für raumgreifende Offensivkriege, immer als Verteidigungskriege beschrieben, um konfrontativ und eskalierend Interessenkonflikte in Staaten und zwischen Staaten mit einem Feindbild zu eigenen Gunsten zu lösen, sind ein Absurdum: Alle wollen nur den Frieden verteidigen und alle sind die Guten.

Nur: In sich aufgespaltene Gute. Die Logik: Wir sind die Guten ist untrennbar an die Logik gefesselt, dass die Anderen die Bösen sind. Diese Einheit von Guten und Bösen impliziert dominierendes Feinddenken innerhalb des Beziehungsgeflechtes der knapp 200 UNO-Mitgliedsstaaten.

Ade Völkerrecht und komplementäres System Menschenrechte? Das Wettrüsten, die Rüstungsproduktion, bleibt eine nachhaltige Verteidigung der Weltkriegsordnung.

Sich auf Menschheitsinteressen berufen ist Nonsens, weil die Menschheit als gestaltendes Individuum nicht existiert und deshalb auch keine Menschheitsinteressen existieren können.

Interessen haben nur Menschen. Ein gemeinsames Interesse an Frieden, an einer Weltfriedensordnung? Wie soll das gehen, wenn das ökonomische Interesse Weniger am Krieg durch die Gestaltung einer Weltfriedensordnung massiv bedroht wird?

Bernd Gappa

Der Text ist ein streitbarer und strittiger Debattenbeitrag des Autors, der ursprünglich für das Forum im Blättchen geschrieben wurde, dort aber wegen seines Umfangs nicht hineinpasste.

 

Die unmögliche Tatsache

Palmström, etwas schon an Jahren,
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge
überfahren.

„Wie war“ (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
„möglich, wie dies Unglück, ja –:
daß es überhaupt geschah?

Ist die Staatskunst anzuklagen
in bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Trift?

Oder war vielmehr verboten,
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln, – kurz und schlicht:
Durfte hier der Kutscher nicht–?“

Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!

Und er kommt zu dem Ergebnis:
„Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil“, so schließt er messerscharf,
„nicht sein kann, was nicht sein darf.“

 

Christian Morgenstern

SPEXIT wegen Döner-Biss

 

Der Ur-Döner, vom Weddinger Postboten Kalle als archäologischer Fund entdeckt, wurde in New York zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. Doch auf dem Rückflug entfesselt Kalle mit einem heimlichen Biss in den vergammelten Spieß einen steinalten Fluch, in dessen Folge Spandau von einer biblischen Heuschreckenplage heimgesucht wird. Das ist Wasser auf die Mühlen der Abspalter. Spandau löst sich von der Umgebung. Der SPEXIT zeitigt irre Konsequenzen.

Wer, wie der Rezensent, längere Zeit nicht mehr die Bühnen-Soap „Gutes Wedding – schlechtes Wedding“ im Prime Time Theater an der Weddinger Müllerstraße verfolgt hatte, mag viel verpasst haben, kommt aber auch ganz schnell wieder in die aktuelle Handlung. Zwar entsteht immer großes Tohuwabohu, aber aktuelle Anspielungen auf Spandaus jahrzehntelang geforderte Eigenständigkeit von Berlin, die analog zu Großbritannien in den SPEXIT mündet – einschließlich Grenzkontrollen unseligen Angedenkens, auf Bürokratie und die moderne Suche nach ökologisch wirkenden Pflanzen machen wieder viel Spaß. Einen Seitenhieb auf den betagten Busen von Desirée Nick, der sich angeboten hätte, gab es bei der Premiere noch nicht, aber das Haus verfügt mit Josefine Heidt, Esther Leiggener, Kilian Löttker und Sascha Vajnstajn über ein improvisationsbegabtes Ensemble. Im Mittelpunkt steht Hausherr Oliver Tautorat, dessen Bühnenpräsenz phänomenal ist, ohne, dass er seinen Mitspielern den Raum streitig macht. Als Kalle nimmt er ebenso für sich ein wie mit seiner Parodie als Manolo auf Jorge González. Ryan Wichert, sonst als Schauspieler auf der Bühne, hat das Stück mit viel Tempo inszeniert und auch selbst zusammen mit Noémi Dabrowski geschrieben.

Ab November wird das Prime Time Theater ein ganz neues Angebot haben – Kindertheater! Das Stück „Die Nährstoffgeschichte“ wendet sich dann mit ebenso viel Spielfreue an Kinder ab 5 Jahren.

Frank Burkhard

Der Fluch des Döners, bis 15. Oktober mittwochs bis sonntags 20:15 Uhr (Einlass 19:00 Uhr), Prime Time Theater in Berlin-Wedding, Müllerstraße 163.

 

Aus anderen Quellen

 

„[…] der einstige Exportweltmeister ist zum Abstiegskandidaten geworden“, fasst Reinhard Mohr die aktuelle Lage zusammen und fährt fort: „Auf einem Gebiet aber bleibt Deutschland unschlagbar, einzigartig, auf Weltniveau: In Sachen Moral und politischer Rhetorik macht den Deutschen so schnell keiner was vor. Egal, wie die graue Realität aussieht: Deutschland ist Vorbild für den Rest der Welt. Das bleibt der eherne Anspruch, dessen historische Begründung komplex ist, sich aber dennoch in einem Satz zusammenfassen lässt: Wer früher das absolut Böse verkörperte, muss heute für das absolut Gute stehen.“

Reinhard Mohr: Neue deutsche Achtsamkeit, oder: Wie die politische Dauerberieselung die ganze Gesellschaft lähmt, nzz.ch, 01.09.2023. Zum Volltext hier klicken.

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„Die jungen Menschen“, konstatiert Wolfgang Harnischfeger mit Blick auf die Aktivisten der Bewegung Letzte Generation, „machen ausnahmslos nicht den Eindruck, als hätten sie die Existenzangst, die aus ihren Augen spricht, schon einmal am eigenen Leibe erfahren, sie sind Mittel- bis Oberschichtkinder, die ihr Kinderzimmer nicht mit drei Geschwistern teilen mussten. Anders lässt sich ihr eloquentes und stilsicheres Auftreten in der Öffentlichkeit nicht erklären. Auch das ist, für sich genommen, kein Vorwurf, sondern eine Beschreibung, die aber gewisse Zuordnungen zulässt.“

Wolfgang Harnischfeger: Letzte Generation – „Meine Sorge ist, dass sie ungewollt einen Rechtsruck produzieren“, berliner-zeitung.de, 07.08.2023. Zum Volltext hier klicken.

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„Bei meinen Forschungen über Mikrosystemtechnik und Nanotechnik im Militär“, so Jürgen Altmann über sogenannte autonome Waffensysteme, „hat sich abgezeichnet, dass damit Kampfsysteme möglich werden, die ihre Ziele selbst auswählen und bekämpfen. Deshalb habe ich mich mit Kollegen vernetzt und mit ihnen 2009 in Sheffield diese Initiative gegründet. Wir wollen, dass sich die internationale Gemeinschaft mit den Gefahren dieser Technologie beschäftigt und die Frage beantwortet, ob es im Sinne des Weltfriedens wäre, wenn sich diese Systeme durchsetzen.“

Flavio von Witzleben: „Autonome Waffensysteme sind eine Gefahr“, freie-medienakademie.de, 05.07.2023. Zum Volltext hier klicken.

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Über US-amerikanische Aktivitäten zur Entwicklung von Drohnenschwarmwaffen, schreibt Gabriel Honrada: „Die USA haben gerade ein ehrgeiziges Programm vorgestellt, das darauf abzielt, eine große Anzahl von Drohnen einzusetzen, um potenzielle Gegner durch die schiere Masse an Drohnen zu überwältigen. Ein solches Programm könnte den Wettbewerb der Großmächte verändern und die Möglichkeit groß angelegter industrieller Zermürbungskriege heraufbeschwören.“ Ein konkretes Beispiel: „Autonome Drohnenschwärme könnten mit getarnten bemannten Plattformen wie F-35 und F-22 zusammenarbeiten, um chinesische Kriegsschiffe, Flugzeuge und Raketenbatterien zu treffen. Die vernetzten Drohnen würden das Situationsbewusstsein und die Fähigkeit zur Zielerfassung verbessern und gleichzeitig die gegnerischen Radarschirme mit mehreren Zielen überfluten.“

Gabriel Honrada: US drone swarm program could redefine modern war, asiatimes.com, 01.09.2023. Zum Volltext hier klicken. Zur deutschen Übersetzung hier klicken.

Zusammengetragen von Wolfgang Schwarz.