Wenn wir der Ukraine wirklich helfen wollten,
hätten wir viel früher gehandelt,
um die Lösungen durchzusetzen,
für die wir uns eingesetzt hatten.
Das haben wir nicht getan.
Jaques Baud
Mit wir meint Baud den kollektiven Westen. Und dass der vor dem Ukraine-Krieg gegenüber Russland mit gezinkten Karten gespielt hat, daran lässt Baud bereits im Vorwort der jüngst erschienenen deutschen Ausgabe seines neuesten Buches „Putin – Herr des Geschehens?“ keinen Zweifel, wenn er fragt: „Wer hat unsere führenden Politiker in Frankreich, Deutschland und der Ukraine verurteilt, die zugegeben haben, dass sie nie die Absicht hatten, das Minsker Abkommen, das sie selbst unterzeichnet hatten, umzusetzen?“ Und: „Wir haben die russischsprachigen Menschen im Donbass sterben sehen, in der Hoffnung, dass dies zu einem Krieg führen würde, in dem wir Russland besiegen könnten.“
Minsk-Prozess, man erinnert sich, war jenes mehrjährige Theater in zahlreichen Akten, mit dem Berlin, Paris und Kiew Moskau vorgegaukelt hatten, es könne eine politisch-diplomatische Lösung des Konfliktes in der Ost-Ukraine geben. Abgeschlossen wurden die Vereinbarungen Minsk I und II (2015), für deren Umsetzung durch die Ukraine Berlin und Paris hernach keinen Finger rührten. Vielmehr wurden etliche Jahre gewonnen, um die Ukraine für einen Krieg aufzurüsten. Erst im Februar 2022 verließ Moskau den Rahmen der Minsker Vereinbarungen, erkannte am 22. des Monats die sogenannten Volksrepubliken Donezk sowie Lugansk als selbstständige Staaten an und startete am 24. seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, um eine Gewaltlösung herbeizuführen.
Dezidiert setzt sich Baud in seinem Buch mit vorherrschenden westlichen Ansichten und Behauptungen – in mittlerweile geläufigem semiintellektuellen Neu-Sprech gern unter dem Modebegriff Narrative eher verunklart – über die Ursachen und die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges sowie die russischen Kriegsziele auseinander und kommt dabei ein ums andere Mal zu diametral entgegengesetzten Feststellungen und Bewertungen:
- „Führt Russland einen hybriden Krieg gegen den Westen? Nein. Die hybride Kriegführung ist ein Mythos, der im Westen sorgfältig gepflegt wird […]“ (ausführlich dazu auch Blättchen 12/2019), ein „Sammelbegriff, mit dem man eine künstliche Verbindung zwischen Ereignissen schaffen kann, die a priori nichts verbindet“.
- „Ist Russland ein unzuverlässiger Partner, der die Ausfuhr von Erdgas zu politischen Zwecken nutzt? […] die Wirklichkeit ist eine andere: Selbst während des Kalten Krieges haben die Sowjets peinlich genau ihre Lieferverträge eingehalten und nie versucht, sie als politisches Einflussmittel zu nutzen.“
- „Strebt Wladimir Putin danach, sich die Ukraine anzueignen oder sie zu zerstören? Nein.“
- Was die Putin nachgesagte Absicht einer „Wiederherstellung des ‚Russischen Reiches‘ anbetrifft, so handelt es sich meiner Meinung nach um ein dezidiert westliches Hirngespinst, das weder die russische Regierung noch Putin jemals für sich in Anspruch genommen“ haben.
- „Putin – Herr des Geschehens? Ja, aber nicht aus den Gründen, die unsere Vorurteile uns einreden und die ‚Experten‘ uns ins Gedächtnis rufen. Er ist Herr des Geschehens, weil er uns besser kennt, als wir uns selbst kennen, und besser, als wir ihn kennen.
Baud ist im Übrigen überzeugt, und er fährt dafür einiges an Fakten und Argumenten auf, dass es nicht Putins ursprüngliche Absicht gewesen sei, in der Ukraine militärisch zu intervenieren. Dazu habe ihn erst die Erkenntnis der Aussichtslosigkeit einer diplomatisch-politischen Lösung auf der Basis der Minsker Vereinbarungen gebracht. Dem muss nicht widersprochen werden. Allerdings hat auch Moskau keinesfalls durchgängig auf eine Art und Weise agiert, die einem Gegensteuern gegen die sich zunehmend verschärfende Konfrontation mit dem Westen förderlich gewesen wäre. Ein letztes Beispiel dafür – aus der Zeit vor dem Ausbruch des Ukraine-Krieges – datierte auf den Dezember 2021, als Moskau den USA und der NATO je einen Vertrag „über Sicherheitsgarantien“, respektive „Sicherheitsmaßnahmen“ offerierte – darin unter anderem die Forderung, die NATO solle ihre militärische Infrastruktur in Osteuropa auf den Stand von 1997, also vor der ersten NATO-Osterweiterung, zurückbauen. Moskau machte beide Dokumente – völlig entgegen diplomatische Gepflogenheiten – nicht nur zwei Tage später öffentlich, sondern hatte parallel dazu Stimmen lanciert, dass es darüber nichts zu verhandeln gäbe: Der Westen solle die Verträge einfach unterschreiben. Zum klassischen Ultimatum fehlte seinerzeit bloß eine Strafandrohung für den Fall westlicher Verweigerung. Die mit diesen „Offerten“ natürlich vorsätzlich provoziert wurde und im Januar 2022 auch prompt erfolgte. Im Rückblick kann man diese russische Vorgehensweise durchaus als inszenierten Auftakt für den 24. Februar 2022 interpretieren. Historische Vorläufer von der „Emser Depesche“ über den „Sender Gleiwitz“ bis zum „Tonking-Zwischenfall“ lassen unrühmlich grüßen.
Baud selbst meint darüber hinaus, dass noch „bis Mitte Februar 2022“ keine russischen Angriffsabsichten bestanden hätten. Das ist Spekulation. Zumindest die Angriffsvorbereitungen durch die Konzentration russischer Kampfeinheiten entlang der ukrainischen Grenze waren zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. Anderenfalls hätte am 24. des Monats kein Überfall erfolgen können. Dass die russischen Vorbereitungen sich dann binnen kürzester Zeit als völlig unzulänglich erwiesen, steht auf einem anderen Blatt. Obwohl – natürlich könnten gerade diese Unzulänglichkeiten und das dadurch bedingte desaströse Scheitern des russischen Vormarsches auf Kiew in der Anfangsphase des Krieges durchaus Indizien dafür sein, dass Bauds Mutmaßung doch nicht gänzlich aus der Luft gegriffen ist …
Der Autor des hier besprochenen Buches war Oberst der Schweizer Armee, arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst, die Vereinten Nationen und für die NATO in der Ukraine. Er ist Verfasser weiterer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.
„In jedem Konflikt“, so der erste Satz von Bauds neuestem Buch, „hängt die Lösung davon ab, wie er zu verstehen ist.“ Zu diesem Verständnis ist dem Autor ein überaus informativer Beitrag gelungen.
Jaques Baud: Putin – Herr des Geschehens? Westend Verlag, Frankfurt/M. 2023, 313 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Jaques Baud, NATO, Putin, Russland, Sarcasticus, Ukraine-Krieg, USA