25. Jahrgang | Nummer 26 | 19. Dezember 2022

25 Jahre Das Blättchen

Im Gespräch mit – Jörn Schütrumpf, Gründer und Blättchen-Verleger, 1997 bis 2009

Am 21. Dezember 1997, dem 62. Todestag von Kurt Tucholsky, erschien das Probeheft von Das Blättchen. Zweiwochenschrift für Politik Kunst Wirtschaft – im klassischen Format und Layout angelehnt an die vormalige Weltbühne. Das war vor einem Vierteljahrhundert. Allein schon das Durchhalten in einer von wirtschaftlichen Zwängen geprägten Medienlandschaft, in der Titel nicht nur gelegentlich so rasch vergehen wie Eintagsfliegen, rechtfertigt es, sich der Anfänge und der ersten Jahre zu erinnern. Doch kann man übers Blättchen schwerlich reden, ohne mit der Weltbühne zu beginnen. Was bedeutete Ihnen das Kind von Siegfried Jacobsen, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky, das – erst von den Nazis und dann im französischen Exil mit Kriegsbeginn auch von der dortigen Regierung verboten – 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone neu ins Leben gesetzt worden war?

Jörn Schütrumpf: Ich bin mit Tucholsky aufgewachsen und habe in meiner Jugend meine Umgebung ständig mit Tucholsky-Zitaten genervt. Da war es in der DDR relativ naheliegend, dass man Die Weltbühne las. Die war schwer zu bekommen, doch ich hatte sie schon als Zwölfjähriger im Abo. Die roten Hefte waren – neben dem Horizont – noch mit das Vernünftigste, was man lesen konnte. Als Die Weltbühne 1993 eingegangen wurde, hinterließ sie eine Lücke. So habe ich das jedenfalls empfunden.

Die Weltbühne wurde mit der Ausgabe 27/1993, im 88. Jahrgang, sang- und klanglos eingestellt, weil der damalige Verleger entschieden hatte, dem Begehren des Sohnes von Weltbühne-Gründer Siegfried Jacobsohn stattzugeben, die Rechte am Titel an ihn zu restituieren. Wann und bei wem kam denn die Idee auf, die Weltbühne-Tradition unter verändertem Titel fortzuführen?

JS: Mich hat die damalige Aufgabe durch den Aufbau-Verleger Lunkewitz geärgert, zumal sich recht bald abzeichnete, dass das Vorhaben des Jacobsohn-Erben, eines 78-jährigen alten, in den USA lebenden Herrn, den Titel in eigener Regie weiterzuführen, auf Sand gebaut war. Sobald die potenziellen Geldgeber, die es durchaus gab, realisiert hatten, dass der Erbe tatsächlich in persona in die übergroßen Fußstapfen seines Vaters zu treten gedachte, sprangen die schnell wieder ab. Mein Ärger blieb und führte irgendwann zu der Reaktion: Also wenn’s jetzt gar keiner machen will, mache ich es halt. Ich hatte da bereits einige Jahre Erfahrung mit einer anderen Zeitschrift – Utopie kreativ –, Erfahrung, wie man ein nicht auf finanziellen Erfolg ausgerichtetes Druckprodukt in die Welt bringt und dort hält, ehrenamtliche Arbeit natürlich inklusive. Ich verdiente im Übrigen seinerzeit gutes Geld und hatte einigen finanziellen Spielraum. Also besprach ich die Idee mit Marion Kunze, meiner damaligen Frau. Die kam ursprünglich vom Horizont und war auch bei Utopie kreativ dabei. Wir haben dann beschlossen, dass wir das Projekt gemeinsam in Angriff nehmen wollen. Sie mit Schwerpunkt Redaktion, ich mehr auf der verlegerischen Seite.

Auf welchen gesellschaftspolitischen Punkt lassen sich Ihre damaligen journalistischen Intentionen bringen?

JS: Nach sieben deutschen Einheitsjahren war der Westen wieder unter sich – und der Osten saß in der ersten Reihe und nahm übel. Diese Dichotomie hatte sich bereits festgefressen. Geredet wurde viel, aber fast nichts mehr gesagt. In diese Aufführungen wollten wir uns keinesfalls einreihen, vielmehr dem Blick aus dem Osten auf Deutschland deutlicher Gehör verschaffen. Die Medien im Osten bis hin zur Jungen Welt waren ja komplett unter Westkuratel geraten, und bei denen im Westen fand der Osten nicht statt. Wir wollten uns also einmischen. Schließlich hatten wir dem Westen ja zumindest eines voraus: Die Erfahrung des Scheiterns und die des Lebens danach.

Die Weltbühne war eine Wochenzeitschrift. Das Blättchen wurde von Anfang an als Zweiwochenschrift konzipiert. Was waren die Gründe?

JS: In erster Linie musste ich natürlich arbeiten, um Geld zu verdienen. Und dann war da noch die Arbeit für Utopie kreativ. Mehr ging beim besten Willen nicht. Ein Wochenblatt wäre arbeitsseitig nur hauptamtlich zu machen gewesen …

Der neue Titel Das Blättchen löst wegen seines diminutiven Understatements bis heute gelegentlich Befremden aus. In der Regel allerdings nur so lange, bis erläutert ist, dass dies der Kosename für die Weltbühne war, den Jacobson und Tucholsky in ihrer wechselseitigen Korrespondenz gelegentlich verwendeten. Wem ist der Geniestreich dieser Titelfindung zu danken?

JS: Mir, nachdem klar war, dass auf den inzwischen von Jacobsohn junior patentrechtlich als Marke geschützten Titel Weltbühne nicht mehr zurückgegriffen werden konnte. Da war der von Tucholsky ursprünglich für die Schaubühne, Jacobsohns Titelvorläufer der Weltbühne, kreierte Nickname natürlich allererste Wahl!

Parallel zu den damaligen Vorbereitungen für die Herausgabe des Blättchens schob der westdeutsche Journalist Eckhart Spoo ein vergleichbares Projekt an. Wie erfuhren Sie davon?

JS: Das war im September 1997. Da machte mich jemand auf ein Interview von Karlen Vesper im ND aufmerksam, wo die Rede davon war, dass wer Die Weltbühne machen wolle. Das war Eckhart Spoo, der natürlich ebenso wenig Zugriff auf den Titel hatte und sein Produkt schließlich Ossietzky taufte.

In der Folgezeit kam es zu persönlichen Begegnungen und Gesprächen über eine mögliche Kooperation. Wie hätte die aussehen können?

JS: Unsere Idee war, alle zwei Wochen alternierend einmal Ossietzky und einmal Das Blättchen herauszugeben. Jede Redaktion hätte ihre Selbständigkeit bewahrt, beide hätten aber unter einem gemeinsamen Projektdach firmiert. Zwei Zeitschriften also, die sich als Tandem verstehen, die Ost-West-Debatte miteinander führen und sich aufeinander beziehen. Jeder hätte seinen Verlag und seine Abonnenten behalten.

Warum wurde nichts daraus?

JS: Um es freiweg zu sagen – Spoo wollte ein reines West-Projekt. Den interessierte der Blick aus dem Osten überhaupt nicht. Als ich ihn damals in Hannover besuchte, hat er mir das ziemlich unverblümt, um nicht zu sagen arrogant, zu verstehen gegeben und uns en passant gleich noch das eigenständige Existenzrecht abgesprochen. Unseren Abonnentenvorlauf hätte er wohl ganz gern übernommen, womöglich auch eine begrenzte redaktionelle Mitarbeit eingeräumt. Mehr nicht. Das war’s dann auch. Obwohl wir in unserer Probenummer unsere Idee nochmals in aller Offenheit angeboten haben.

Wer gehörte eigentlich alles zum Startteam des Blättchens?

JS: Neben Marion und mir war das zunächst Ulrich Backmann. Zuvor Redakteur beim Magazin, war er – wie fast alle Ost-Journalisten – dem rigorosen personellen Kehraus zu Nachwendezeiten zum Opfer gefallen.

Praktisch vom ersten Heft mit dabei war auch Wolfgang Sabath, ein erfahrener alter Hase. Der hatte bereits vor seinem Studium für die BZ am Abend geschrieben, was heute der Kurier ist. War lange bei der DDR-Studentenzeitschrift Forum, die 1984 nach politischen Querelen eingestellt wurde, später beim Sonntag und schließlich beim daraus hervorgegangenen Freitag. Für Utopie kreativ schrieb Sabath eine ständige Kolumne, Presseanalysen, die in der Regel ziemlich gesalzen waren und gern gelesen wurden. Mit Wolfgang Sabath wurden das sehr, sehr schöne und vertrauensvolle Jahre. Wir konnten uns so herrlich fetzen, da wir politisch nicht selten unterschiedlicher Auffassung waren. Immer auf sehr direkte Art, doch zugleich auf einem Niveau der Kontroverse und der Diktion, dass man sich nie gegenseitig etwas übelnahm.

Ein weiterer Mitstreiter von Anfang an war Heinz Jakubowski, der unter anderem, versteckt hinter diversen Pseudonymen, bisweilen die Hälfte oder gar zwei Drittel der Rubrik Bemerkungen bestritt. Er konnte mit sehr unterschiedlichen Stilen schreiben, so dass das gar nicht auffiel.

Also – in nahezu Tucholskyscher Manier: fünf Pseudonyme mit jeweils eigener Handschrift?

JS: So in der Art …

Woher kamen die Autoren?

JS: Na, erstmal habe ich Weltbühnen vor 1990 und danach durchgesehen nach Autoren, die zu uns passen könnten. Die habe ich angeschrieben. Das ergab sowohl Absagen als auch Zusagen. Fritz Klein etwa, der schon in den 80er Jahren eine gewisse Mentorfunktion für uns Junge an der Akademie der Wissenschaften gehabt hatte, war sofort dabei. Andere meldeten sich nach den ersten Ausgaben von selbst, etliche blieben …

Sind Ihnen aus den Print-Jahren des Blättchens einzelne Beiträge in besonderer Erinnerung?

JS: In der letzten Ausgabe unseres ersten Jahres brachten wir ein Interview mit Ulrich Plenzdorf*, der über Probleme und Konflikte seiner Drehbucharbeit zum ARD-TV-Dreiteiler „Der Laden“ – nach der Trilogie von Erwin Strittmatters – berichtete. Kontroversen, so Plenzdorf, hätten vornehmlich daher gerührt, „dass Regisseur und Autor aus geographisch, politisch, historisch und ästhetisch so unterschiedlichen Richtungen“ kamen. Die Meinungsunterschiede waren „so schwerwiegend, dass einer den anderen nicht überzeugen konnte“. Der Regisseur (West), so Plenzdorf, hat schließlich – bis hin zur Verfälschung der literarischen Vorlage – seine Sicht der Dinge durchgedrückt.

Am Ende des Interviews gestattete Plenzdorf sich überdies die Einschätzung, dass die Wiedervereinigung auf „miesem ethischen Niveau“ stattgefunden habe, und man nun „tagtäglich erlebt, wie der Osten Deutschlands immer wieder den letzten Krieg verliert: einmal mit allen zusammen, dann allein im Nachkrieg und nun, nach der Wiedervereinigung, zum dritten Mal“.

Und?

JS: Plenzdorf, der seit 1990 quasi ein Filmprojekt nach dem anderen realisiert hatte, bekam nach diesem Interview nie wieder ein öffentlich-rechtliches Angebot.

Es hatte sich also alles geändert, wie es war!?

JS: Ganz offensichtlich.

Noch ein Beispiel?

JS: Auch im ersten Jahr schickte uns Jürgen Jessel, der als Journalist in der DDR meines Wissens erhebliche Schwierigkeiten gehabt hatte, einen Text mit dem Titel „Blut und Boden“**, der all jene tumben Toren, die sich den Erhalt der germanischen Reinrassigkeit des deutschen Volkes auf die Fahnen geschrieben haben, wegen ihrer offenkundigen historischen Ignoranz der Lächerlichkeit preisgab: Kein anderes europäisches Volk ist schließlich in seiner Geschichte genetisch so durchmischt worden wie wir. Allein während des Dreißigjährigen Krieges, in dem zum Beispiel auch Söldner vom Balkan, die sogenannten Kroaten, bei Heerführern sehr beliebt waren, und während der napoleonischen Kriege zogen praktisch alle anderen großen europäischen Nationen hier durch und gaben sich außer dem Kriegshandwerk, dem Plündern und Brandschatzen auch immer körperlichen Vergnügungen hin. Solche Tatsachen muss man den nationalistischen Rattenfängern immer mal wieder ins Stammbuch schreiben.

Wie entwickelte sich die wirtschaftliche Lage des Magazins nach der Aufnahme der regelmäßigen Erscheinungsweise im Januar 1998?

JS: Wirtschaftlich war Das Blättchen zunächst ein Steuersparmodell. Die Verluste minimierten im Wege von Abschreibungen die Steuerzahlungen auf meine sonstigen Einkünfte. Doch das sollte natürlich nicht auf Dauer so bleiben. Wir hatten auch anfangs relativ viele Abos. Dafür hatten wir schon vor dem Erscheinen des Blättchens ordentlich Geld investiert. Einige davon waren westdeutsche DKP-Anhänger, wohl in der Annahme, wir würden Das Blättchen im Stile der DDR-Weltbühne fortführen; die waren flugs wieder weg, als sie merkten, dass das nun ganz und gar nicht unsere Absicht war. Auch die durch intensive Reisetätigkeit von Sabath und Jakubowski reanimierten Geschäftsbeziehungen zu Buchhandlungen in den östlichen Bundesländern – in der DDR war Die Weltbühne die einzige Zeitschrift, die auch im Buchhandel vertrieben wurde – trugen zunächst Früchte. Und der Vertrieb über einen Grossisten, um Bahnhofsbuchhandlungen zu beliefern, funktionierte in Berlin zwar ganz gut, in der Fläche schon im Osten jedoch kaum und im Westen noch weniger. Insgesamt gelang es uns leider nicht, kontinuierlichen Umsatzzuwachs im notwendigen Maße zu erreichen. Und dann kam die Finanzkrise von 2008, die Menschen waren verunsichert, hielten ihr Geld zusammen und kündigten in Größenordnungen ihre Abos. Nicht nur bei uns. Der Freiverkauf konnte diese Abgänge bei weitem nicht ausgleichen. Gottseidank wurden wir nicht auch noch vom damaligen massiven Wegbrechen der Werbeeinnahmen in den Printmedien – durch Abwandern ins Internet – getroffen, denn solche Einnahmen hatte Das Blättchen bereits zuvor nahezu keine. Zum Problem war da nicht zuletzt längst geworden, dass ich irgendwann nicht mehr so viel Geld verdiente und immer weniger ins Blättchen reinstecken konnte. Die Kosten für eine Ausgabe lagen trotz aller ehrenamtlichen Arbeit immerhin bei um die 2000 Euro. So war es schließlich nicht einmal mehr möglich, den Jahrgang 2009 komplett zu Ende zu bringen …

Es waren zwölf spannende Jahre mit vielen interessanten Begegnungen, mit Freundschaften, die das Print-Blättchen überdauert haben. Ich habe viel gelernt und hatte reichlich Spaß. Es war eine Phase im Leben, die ich nicht missen möchte.

Aus wirtschaftlichen Gründen musste die Printfassung des Blättchens ihr Erscheinen im zwölften Jahrgang, mit der Ausgabe 20/2009, einstellen. Mit einem erklecklichen Schuss Galgenhumor verabschiedeten sich die Macher um Jörn Schütrumpf von ihrem Publikum und von ihren Autoren: „[…] die Marktgesetze konnten nicht einmal wir außer Kraft setzen …“ Und verwiesen selbstbewusst auf den frei gewählten Status ihres Blättchens: „ein rotes Heft zwischen den Stühlen“.

Darüber hinaus enthielt diese letzte Print-Ausgabe eine Werbung für Ossietzky, dessen rote Hefte bis heute erscheinen, sowie den Hinweis: „Für den Januar 2010 ist eine online-Ausgabe in der Verantwortung von Wolfgang Sabath vorgesehen.“

Diese Ausgabe ging mit der Nr. 1/2010 an den Start und wird – von einem Holperer am Ende ihres ersten Jahres abgesehen – seither alle 14 Tage publiziert. Die vorliegende Ausgabe beschließt mithin den 25. Blättchen-Jahrgang. Oder stößt – zukunftszugewandter formuliert – die Tür zum 26. auf …

Das Gespräch führte Wolfgang Schwarz.

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