23. Jahrgang | Nummer 18 | 31. August 2020

Brandts Vermächtnis. 50 Jahre Moskauer Vertrag:
Von der Sprache der Macht zur Grammatik des Vertrauens

von Bernd Greiner

Berlin im Sommer 2020: Zu vernehmen ist ein nimmermüdes Wehklagen über Deutschlands außenpolitische Bedürftigkeit. Wir müssen Verantwortung übernehmen. Wir müssen aus unserem Dornröschenschlaf erwachen. Wir müssen endlich aus dem Windschatten des großen Bruders aus Übersee treten. Wir müssen eigenständig denken, gestalten und zusätzliche Lasten schultern, so die Tonlage. Bonn im Sommer 1970: Bundeskanzler Willy Brandt und seine Delegation treffen letzte Vorbereitungen für einen Schritt, der aus den gerade genannten Gründen aufhorchen lässt. Es geht um Aufbruch, um Mut zu Neuem, um Zukunft. Also darum, mehr Verantwortung zu wagen. Dafür steht der Moskauer Vertrag, der am 12. August 1970 von Willy Brandt und dem sowjetischen Ministerpräsidenten Alexej Kosygin im Katharinensaal des Kreml unterzeichnet wurde – und der bis heute wegweisend, nämlich beispielhaft für einen fundamentalen Politikwechsel ist.

In fünf kurzen Artikeln und einer Präambel verpflichteten sich damals beide Staaten, ihre Beziehungen ausschließlich am Prinzip eines friedlichen Miteinanders auszurichten. Weder sollte mit Gewalt gedroht noch sollte Gewalt angewandt werden. Was sich heute beinahe selbstverständlich anhört, klang damals in vielen Ohren skandalös. Denn die Bundesregierung hatte Neuland betreten: Schließlich bedeutete Gewaltverzicht auch die Anerkennung aller nach dem Krieg in Mittel- und Osteuropa gezogenen Grenzen – vorab der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße, sodann der Grenze zwischen der Bundesrepublik und der jahrzehntelang als „Provisorium“ geschmähten DDR. Mit der Zauberformel „unverletzlicher Grenzen“ konnte man den deutsch-deutschen Status quo akzeptieren und zugleich dessen Überwindung im Blick behalten. Denn eine mit friedlichen Mitteln herbeigeführte Vereinigung würde diese Grenze nicht verletzen, sondern im beiderseitigen Einvernehmen lediglich korrigieren.[1]

Trotzdem schrie die Opposition Zeter und Mordio: Wie konnte sich Brandt erdreisten, dermaßen vorzupreschen? In eigener Regie und ohne die Schutzmacht USA um Erlaubnis gebeten zu haben?

Zwar redete bei der CDU/CSU niemand einem gewalttätigen Revisionismus das Wort. Der eigentliche Skandal bestand aus Sicht der Konservativen jedoch in der Zumutung, sich von alten Denkgewohnheiten und verkrusteten Dogmen verabschieden zu müssen. Vorbei waren die Tage, in denen Bonn allen Staaten, die in der DDR eigene Botschaften eröffnen wollten, mit politischer Quarantäne drohte. Und vorbei war das bloße Warten auf eine Klimaverbesserung zwischen den Supermächten oder die Suche nach bequemen Ausreden für die eigene Passivität. Dem blutleeren „Keine Experimente wagen“ der Christdemokraten setzte Brandt sinngemäß ein fast jugendliches „Kein Fortschritt ohne Risiko“ entgegen. Eine derart beflügelte Phantasie hielt die Erregung über das unerhörte Wagnis in Schach. Am Ende ebnete sie einer außenpolitischen Neugründung der Bundesrepublik den Weg.

Selbstbewusstsein ohne Überheblichkeit

Der Wille zum Risiko schloss auch die Bereitschaft zum Konflikt mit den USA ein. Ein knappes Jahr zuvor und kurz vor dem Amtsantritt der sozial-liberalen Koalition war Egon Bahr – designierter Staatssekretär im Bundeskanzleramt und künftiger Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt – nach Washington gereist, um das Kommende zu erläutern. Im Grunde wusste die dortige Regierung Bescheid. Willy Brandt hatte seit Mitte der 1950er Jahre mehrfach von der Notwendigkeit gesprochen, „gestützt auf die Freundschaft mit dem Westen […] doch auch das andere Bein – und das heißt Ostpolitik – herunterzusetzen“.[2] Auch Egon Bahr war in diesem Sinne aktiv gewesen, zuletzt im April 1965, als er in den USA über die kurz- und langfristigen Schritte zu einem neuen Sicherheitssystem sprach. Von Bonner Schaukelpolitik zwischen Ost und West konnte keine Rede sein. Im Gegenteil: Brandt wie Bahr betonten bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Westbindung der Bundesrepublik – nicht aus taktischer Rücksichtnahme, sondern aus ehrlicher Überzeugung.[3] Es waren Reizworte anderer Art, die in Washington seit Jahren für Misstrauen sorgten, allen voran „Abrüstung“ und die Vision eines geeinten Deutschlands inmitten einer „atomwaffenfreien Zone Mitteleuropa“. Deshalb reagierte Henry Kissinger, Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, merklich nervös auf Bahrs neuerliche Ausführungen am 13. Oktober 1969. „Als die Fragen nicht enden wollten“, so der deutsche Emissär im Rückblick, „sagte ich ihm, ich sei nicht gekommen, um zu konsultieren, sondern um zu informieren. Wir würden unsere Pläne umsetzen. Das war eine neue Sprache.“[4]

Eine neue Sprache? Bei diesem Satz führte wohl noch immer der zur Untertreibung geneigte Diplomat die Feder. Bahrs „nicht konsultieren, sondern informieren“ signalisierte den Abschied aus einem Vormundschaftsverhältnis.

Die sozial-liberale Bundesregierung wusste ganz genau, dass sich ein Fenster der Gelegenheit geöffnet hatte. Weil die Regierung Nixon in ihren ersten Amtsjahren noch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, genauer gesagt mit dem Krieg in Vietnam und der Frage, ob und wie sich eine offenkundige militärische Niederlage noch in einen politischen Sieg ummünzen ließ, konnte Bonn aufs Tempo drücken. In Moskau hingegen standen viele Türen offen, zumindest jene in der unmittelbaren Umgebung von Leonid Breschnew. Dem Generalsekretär der KPdSU war daran gelegen, so schnell wie möglich aus der außenpolitischen Bredouille herauszukommen, in die man sich im Sommer 1968 mit der Invasion in der ČSSR und der Niederschlagung des Prager Frühlings hineinmanövriert hatte. Davon abgesehen benötigte die Sowjetunion dringend außenpolitische Erfolge, um dem aufdringlichen Konkurrenten China und dessen Anspruch auf die Führungsposition im sozialistischen Lager Paroli bieten zu können. Die hohen, teils illusorischen Hoffnungen auf einen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik taten ein Übriges zur Beschleunigung der Gespräche über den Moskauer Vertrag.

Die Grenzen des Sag- und Machbaren verschieben

Der Clou der Geschichte ist indes ein anderer: Was Willy Brandt und seine Mitstreiter 1970 aufs Gleis setzten, war mehr als eine Verabschiedung muffiger Dogmen, mehr als eine Durchlüftung der deutschen Provinz. Und mehr als bloße Modernisierung. Die Bonner Außenpolitik wurde auf die Höhe ihrer Zeit gebracht, um die Perspektive auf eine andere Zeit zu öffnen – jenseits der scheinbar unverrückbaren Selbstverständlichkeiten des Kalten Krieges und jenseits dessen, was seit 1945 sagbar war oder machbar schien. Genau genommen ging es um drei miteinander verschränkte, sich wechselseitig ergänzende Ideen.[5]

Erstens ging es um die Abwertung des Militärischen. Wollte man das im Kalten Krieg dominante Sicherheitsdenken auf einen Satz verkürzen, so ließe sich sagen: Alle Sicherheit geht vom Militär aus. Rüstung galt als Gradmesser von Glaubwürdigkeit und Durchsetzungskraft, militärische Überlegenheit als Königsweg zur Zähmung von Konkurrenten und Feinden. Selbst die vermeintlichen Auswege waren noch von dieser Prämisse kontaminiert. Die seit Ende der 1960er Jahre verfolgte „Doppelstrategie“ aus Abschreckung und Entspannung krankte an dem Umstand, dass immer neue Waffenprogramme das psychologische Fundament von Friedenspolitik unterspülten – nämlich Vertrauen. Die versuchte Gegensteuerung mittels Rüstungskontrolle blieb gleichermaßen auf halbem Wege stecken, drang sie doch nie zum Kern des Problems vor – der ungebremsten technologischen Innovation samt der Illusion begrenzbarer und damit führbarer Kriege. Zu alldem setzte Willy Brandt einen Kontrapunkt: „Krieg ist nicht mehr die Ultima Ratio, sondern die Ultima Irratio“, lautete sein Leitmotiv, prominent ausgesprochen bei der Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 1971.[6] Womit die Idee, dass moderne Waffen irgendeinen politischen Zweck erfüllen können, blamiert war. Weg von einem Denken, das auf die Macht des Stärkeren und die Effizienz von Drohgebärden setzte, hin zu einer Zivilisierung von Konflikten im Inneren wie im Äußeren – dafür stand der entspannungspolitische Marathon mit dem Moskauer Vertrag als Zwischenetappe.

Zweitens ging es um eine politische Währungsreform. Ob Waffen Misstrauen fördern oder Misstrauen die Quelle von Bewaffnung ist, gleicht der Frage, ob Henne oder Ei zuerst da waren. Darüber lässt sich bekanntlich endlos streiten. Unstrittig dürfte hingegen sein, dass Rüstung in einem Klima des Verdachts prächtig gedeiht. Ebenso, dass Misstrauen die politische Hauptwährung des Kalten Krieges war, geprägt von einer Bereitschaft, der Gegenseite immerzu die übelste aller Absichten zu unterstellen. Der „worst case“ und mit ihm der Reiz zur Pathologisierung nicht nur des Gegners, sondern des Politischen insgesamt schienen überall zu Hause. Im Moskauer Vertrag ist der logische Umkehrschluss hinterlegt: Kooperation kann auf Dauer nur funktionieren, wenn hinreichend Vertrauen vorhanden ist. Und wenn man wie jeder gute Unternehmer bereit ist, einen Vorschuss auf die Zukunft zu investieren – in der Hoffnung, aber eben nicht in der Gewissheit, dass die Investition Gewinne abwerfen wird.

Die „Politik der kleinen Schritte“

Auch so kann die „Politik der kleinen Schritte“, wie die Entspannung bisweilen genannt wurde, verstanden werden. Es war der Versuch, mit Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und Verständnis für die Position des anderen ein vergiftetes Klima Schritt für Schritt zu entgiften – auf Kosten von hochfahrender Propaganda und Maximalforderungen jedweder Art. Die Gleichsetzung von Vertrauensbildung und Gefühlsduseligkeit, von Gegnern der Entspannungspolitik in die Welt gesetzt, greift ins Leere. Willy Brandt wusste sehr wohl, mit wem er es in Moskau zu tun und welche Spuren der Stalinismus hinterlassen hatte. Umso mehr plädierte er für den Mut zum Risiko, für einen dynamischen Lernprozess mit offenem Ausgang und gegen ein reflexhaftes Zurückfallen in alte Gewohnheiten im Falle enttäuschter Erwartungen.[7]

Drittens und letztens ging es um eine Neue Sicherheitsarchitektur. Über eine institutionalisierte Rahmung dieser Politik hatte Willy Brandt bereits in seinem ersten, 1940 publizierten Buch nachgedacht.[8] Dort wandte er sich gegen die seines Erachtens primitive Auffassung, derzufolge die eigene Sicherheit nur im Kampf gegen andere behauptet werden kann. Ein Gedanke, den er zeit seines Lebens immer wieder betonte, etwa in einer Rede aus dem Jahr 1981. „Es [ist] höchste Zeit, das Prinzip der gemeinsamen Sicherheit anzuerkennen. Sicherheit gibt es in den großen Zusammenhängen nicht mehr voreinander, sondern in Wirklichkeit nur noch miteinander.[9] Deutlicher kann man eine Kritik am „Nullsummenspiel“, dem hintergründigen Leitgedanken des Kalten Krieges, nicht vortragen. Primitiv war es in der Tat, was dessen intellektuelle Vervielfältiger zum Besten gaben: Jeder Zugewinn der einen Seite ist ein Verlust für die Gegenseite, entweder man bereichert sich auf Kosten der Konkurrenz oder man steht als Verlierer da, selbst bei Kompromissen empfiehlt es sich, mehr herauszuschlagen als das Gegenüber, kurz: die eigene Sicherheit lebt von der Angst der anderen. Die Bonner Ostpolitik stand im Zeichen einer radikalen Kehrtwende – nämlich Interessen nicht durchzusetzen, sondern auszugleichen, Regeln gemeinschaftlich zu formulieren und Regelverstöße gemeinsam zu sanktionieren.[10] Wie eine künftige Sicherheitsarchitektur aussehen könnte, war 1970 noch längst nicht ausgemacht. Allerdings stand für Willy Brandt fest, dass ein bilateral ausgehandeltes Abkommen wie der Moskauer Vertrag nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer multilateral ummantelten Friedensordnung war. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Maximen lagen allesamt quer zum Sicherheitsverständnis der Administration Nixon in Washington. Dort konnte man mit der Infragestellung militärischer Macht genauso wenig anfangen wie mit der Idee vertrauensbasierter Kooperation und flacher Hierarchien. Dass Bonn seinen Fahrplan vorstellte, aber keine Konsultation wünschte, setzte dem Ganzen die Krone auf. In diesem Sinne war die bundesdeutsche Entspannungspolitik im Allgemeinen und der Moskauer Vertrag im Besonderen eine Art Unabhängigkeitserklärung an die Adresse der westlichen Hegemonialmacht, ohne die Westbindung zur Disposition zu stellen – eine Veränderung des Status quo bei gleichzeitiger Anerkennung seines ideellen Sockels.

Die unbesungene Meisterleistung der Bonner Diplomatie

Ein derartiges Projekt auf Kurs zu halten, erforderte ein hohes Maß an Geschick und Fingerspitzengefühl. Umso mehr, als es nicht allein im Inneren Gegenwind gab. Was Willy Brandt und Egon Bahr in ihren Memoiren über die Reaktionen in Washington berichten, ist nur ein fernes Echo der dortigen Wutattacken.[11] Abseits des diplomatischen Parketts redeten sich Präsident Nixon und sein Sicherheitsberater Henry Kissinger regelmäßig in Rage über die hinterhältige „Echse“ Bahr oder den „versoffenen Trottel“ und „gefährlichen Dummkopf“ Brandt. Vor dem Misstrauensvotum im Bundestag im April 1972 dachten sie laut über eine klammheimliche Unterstützung des christdemokratischen Gegenkandidaten Rainer Barzel nach; Anfang 1973 wünschte Kissinger dem Kanzler gar den Tod an den Hals: „Leider ist die Sache [die Geschwulst an Brandts Stimmbändern] nicht bösartig. Nun, es ist schrecklich, so etwas zu sagen.“ Richard Nixon: „Ich weiß, was Sie meinen. […] Sie meinen, dass er unglücklicherweise bei sehr guter Gesundheit ist.“ Henry Kissinger: „Leider, er wird wahrscheinlich durchhalten, ja.“[12] Bis in die frühen 1980er Jahre echauffierte sich Kissinger über die „revolutionären Schlussfolgerungen“, zu denen sich Brandt in der Außenpolitik seines Erachtens verstiegen hatte.[13] Was immer im Einzelnen den Ausschlag gab, Washington wehrte sich dagegen, den bundesdeutschen Verbündeten aus der Rolle eines Mündels zu entlassen. Folgsam, kleinlaut und bescheiden sollte man in Bonn bleiben und tunlichst am Katzentisch Platz nehmen. „Wenn schon Entspannungspolitik mit der Sowjetunion“, so Kissinger, „dann machen wir sie.“[14] Dieser Vorwurf klebte wie Harz an allen außenpolitischen Initiativen der Bundesregierung. Willy Brandt: „Wir hielten dagegen, dass wir auf weltpolitische Mitsprache nicht zu verzichten gedächten.“[15]

Aus ganz anderen Gründen grassierte das Misstrauen innerhalb des Warschauer Pakts. Dass Willy Brandt dem sozialistischen Experiment auf Dauer keine Chance einräumte und vom letztendlichen Zusammenbruch des Sowjetsystems überzeugt war, machte ihn in den Augen mancher Parteigranden im Osten faktisch zu einem Klassenfeind.[16] Die Furcht vor ideologischer Aufweichung und vor dem Gift des konterrevolutionären „Sozialdemokratismus“ blieb allgegenwärtig – gerade in der DDR, die ansonsten auf jede Geste der Anerkennung erpicht war. Einige Mitglieder des Zentralkomitees der SED kramten deshalb im Fundus der Sozialfaschismustheorie und machten aus Brandt den „gefährlichsten und einflussreichsten Führer der internationalen Sozialdemokratie“, den „Chef der aggressivsten imperialistischen Regierung in Europa“.[17] Auf Basis dieses ideologischen Gepolters wurden denn auch just mit dem Beginn der Entspannungspolitik die Organe der Staatssicherheit in nie gekanntem Umfang ausgebaut. Auch in Moskau nutzten Hardliner in Partei, Militär und Geheimdiensten ihren Einfluss für Wachsamkeitsappelle. Leonid Breschnew musste sich ins Zeug legen, um sie zu besänftigen. Wobei ihm zugutekam, dass er im Fall der ČSSR bewiesen hatte, wie man einer „Aggression auf Filzlatschen“ im Zweifel den Garaus machen kann.[18] Die unerwartete Verve, mit der die Bundesregierung ihr Anliegen vorantrieb, die Tatsache, dass man nur neun Monate nach Übernahme der Amtsgeschäfte den Moskauer Vertrag unter Dach und Fach gebracht hatte, erwischte alle Skeptiker – im Westen wie im Osten – auf dem falschen Fuß.

Washington in Zugzwang gebracht zu haben, gehört zu den unbesungenen Meisterleistungen der Bonner Diplomatie. Grummelnd und hadernd fügte sich die Regierung Nixon schließlich in das Unvermeidliche. Angesichts des Chaos in Vietnam und der ungeordneten Beziehungen zur UdSSR und zur Volksrepublik China wollte und konnte sich die westliche Führungsmacht schlicht keinen offenen Konflikt mit der Bundesrepublik leisten. Auf den fahrenden Zug aufzuspringen, war daher die beste Option. Nur so konnte man aus amerikanischer Sicht das Schlimmste verhindern oder zumindest so tun, als hätte man das Heft des Handelns noch in der Hand. Also verlegte sich Nixon mal auf eine argwöhnische Rückendeckung, mal auf stillschweigende Duldung.[19] Dieses Einlenken, obwohl halbherziger Natur, bedeutete für Willy Brandts Politik einen Unterschied ums Ganze. Andernfalls hätte sein Mut zum Risiko schnell ein unberechenbares Abenteuer nach sich ziehen können.

Die Sprache der Macht durch eine Grammatik des Vertrauens ersetzen

Unter dem Eindruck des Moskauer Vertrags kam an allen Ecken und Enden Bewegung in die europäische Politik. Im Warschauer Vertrag, nur vier Monate später abgeschlossen, erneuerte die Bundesregierung ihre Anerkennung der polnischen Westgrenze und verzichtete damit endgültig auf ehemals deutsche Gebiete östlich von Oder und Neiße – ein Schritt, den Willy Brandt am 7. Dezember 1970 durch seinen Kniefall vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Gettos auf ebenso eindringliche wie einmalige Weise beglaubigte. Im Jahr darauf konnten auch die Dauerquerelen über den Status West-Berlins und den Transitverkehr durch die DDR im Rahmen eines Viermächteabkommens zu Berlin beigelegt werden; ein Vertrag mit der ČSSR und der Grundlagenvertrag mit der DDR komplettierten die sogenannten Ostverträge. Damit war der Weg frei für eine multilaterale Variante der Entspannungspolitik, deren Bedeutung nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Gemeint ist die im Dezember 1973 beginnende „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, die weniger eine Konferenz[20] als ein knapp 15jähriges Dauergespräch über vertrauensbildende Maßnahmen war. Ohne diese diplomatische Pufferzone hätte die am Ende der 1970er Jahre erneut eskalierende Fehde zwischen den USA und der UdSSR deutlich tiefere Spuren in Europa hinterlassen. Stattdessen mauserte sich Europa zu einem Laboratorium außenpolitischer Innovationen.

Nicht zuletzt wurde Außenpolitik in der Bundesrepublik zum ersten Mal vergesellschaftet. Aus guten Gründen gilt die quasi plebiszitäre Abstimmung über die Ostverträge – gespiegelt im öffentlichen Widerstand gegen die parlamentarischen Misstrauensmanöver der Opposition und im fulminanten Wahlsieg der SPD im November 1972 – als Sternstunde der Demokratie. Erwähnenswert ist ebenso die Profilierung außenpolitischer Experten in Stiftungen, Medien und Kirchen und die unerwartete Resonanz von Friedens- und Konfliktforschung jenseits akademischer Milieus. Asymmetrische Abrüstung, strukturelle Nichtangriffsfähigkeit, gemeinsame Sicherheit, so lauteten die Schlagworte aus einem Katalog von Ideen, die aus den Denkgewohnheiten der Nachkriegsepoche hinausführten und neue Horizonte eröffneten. Dass ausgerechnet Michail Gorbatschow aus diesem Reservoir schöpfte und damit das Ende des Kalten Krieges besiegelte, schloss den Kreis mit einer bis heute aktuellen Botschaft: Ideen können versteinerte Verhältnisse zum Tanzen bringen, Moral ist eine politische Produktivkraft sui generis.

„Mein eigentlicher Erfolg war, mit dazu beigetragen zu haben, dass in der Welt, in der wir leben, der Name unseres Landes, Deutschland also, und der Begriff des Friedens wieder in einem Atemzug genannt werden können.“[21] Dieser Satz Willy Brandts aus dem Jahr 1988 findet im heutigen Berlin große Zustimmung. Ihm zu applaudieren, ist aber nur dann nicht wohlfeil, wenn zugleich die normativen Voraussetzungen anerkannt werden.

Es ging im damaligen Bonn nicht darum, die Sprache der Macht zu erlernen; angeeignet wurde vielmehr eine Grammatik des Vertrauens. Das war der Kern selbstständiger Ostpolitik, deshalb musste man vor der politischen Gewichtszunahme der Bundesrepublik keine Angst mehr haben.[22]

Daraus aber folgt: Wer heute – durchaus zu Recht – mehr Verantwortung für Deutschland und Europa fordert und nur mehr Rüstung meint, orientiert sich an einer Vergangenheit, die im August 1970 zu den Akten gelegt wurde.

Stattdessen geht es erneut um eine Emanzipation von US-amerikanischer Politik, ohne die Wurzeln der Westbindung zu kappen. Denn in Washington steht die fatale Logik des Kalten Krieges in voller Blüte, wieder einmal und wie zum Hohn auf alle Versuche zur Selbstkorrektur. „America First“ heißt nicht nur, den eigenen Vorteil über alles zu stellen. Es basiert vor allem auf der schier unverwüstlichen Vorstellung, dass Sicherheit von eigener Übermacht und der Angst der anderen abhängt. Mit dieser Logik der Unberechenbarkeit gebrochen und ihr eine Politik des Vertrauens entgegengesetzt zu haben: Das ist das Vermächtnis der Brandtschen Ostpolitik. Es ist aktueller denn je.

Blätter für deutsche und internationale Politik, 08/2020. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.

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[1] – Im „Brief zur deutschen Einheit“, mit der Vertragsunterzeichnung in Moskau übergeben, wurde an diesen unhintergehbaren Auftrag des Grundgesetzes erinnert.

[2] – Rede des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt vor der Steuben-Schurz-Gesellschaft in Berlin, 17.1.1958, zit. nach Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung: https://willy-brandt/reden-zitate-und-stimmen. Vgl. Wolfgang Schmidt, Die Wurzeln der Entspannung. Der konzeptionelle Ursprung der Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts in den fünfziger Jahren, in: „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“, 4/2003, S. 521-565, hier S. 556.

[3] – Gottfried Niedhart, Durch den Eisernen Vorhang. Die Ära Brandt und das Ende des Kalten Kriegs, Darmstadt 2019, S. 185 ff.

[4] – Egon Bahr, „Das musst du erzählen“ – Erinnerungen an Willy Brandt, Berlin 2013, S. 75. Vgl. Henry Kissinger, Memorandum for the President, Visit by Willy Brandt’s Emissary, Egon Bahr, 20.10.1969, in: „Foreign Relations of the United States“, 1969-1976, Vol. XL, Germany and Berlin, 1969-1972, Washington, D.C. 2008, S. 105.

[5] – Vgl. Bernd Rother, Willy Brandts Außenpolitik: Grundlagen, Methoden und Formen, in: ders. (Hg.), Willy Brandts Außenpolitik, Wiesbaden 2014, S. 335-359.

[6] – Vortrag des Bundeskanzlers Willy Brandt zum Thema „Friedenspolitik in unserer Zeit“ an der Universität Oslo, 11.12.1971 anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises, zit. nach Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung, https://willy-brandt/reden-zitate-und-stimmen. Vgl. Schmidt, a.a.O., S. 523, 542, 563.

[7] – Egon Bahr, Berlin, Moskau, Washington: Für eine kooperative Existenz, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2015, S. 87-97.

[8] – Willy Brandt, Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa, Bonn 2018, S. 76-109. Die erste Auflage sollte im April 1940 im norwegischen „Tiden“-Verlag erscheinen, konnte aber wegen des deutschen Überfalls auf das neutrale Norwegen nicht ausgeliefert werden.

[9] – Willy Brandt, Rede auf der Festveranstaltung anlässlich des 100jährigen Bestehens des Verlags J.H.W. Dietz Nachf. in Bonn, 3.11.1981, in: Willy Brandt, Berliner Ausgabe, Bd. 5, Die Partei der Freiheit. Willy Brandt und die SPD, 1972-1992, Bonn 2002, S. 370 (Hervorhebung im Text).

[10] – Rother, Willy Brandts Außenpolitik, a.a.O., S. 336.

[11] – Willy Brandt, Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1989, S. 181 ff., 189 ff., 224-233, 459; Bahr, „Das musst Du erzählen“, a.a.O., S. 73-78, 95, 109-114, 133 ff., 157, 184 ff., 194.

[12] – Henry Kissinger und Richard Nixon, zit. nach Bernd Greiner, Henry Kissinger – Wächter des Imperiums. Eine Biographie, München 2020, S. 86-88, 111, 226.

[13] – Henry Kissinger, Memoiren, Bd. 1: 1968-1973, München 1979, S. 441-444, 565 ff.; ders., Memoiren, Bd. 2: 1973-1974, München 1982, S. 71, 83 ff., 162, 173-176, 185-188, 843; ders., Memoiren, Bd. 3: 1974-1976, München 1999, S. 482.

[14] – Henry Kissinger, zit. nach Brandt, Erinnerungen, S. 189 und Niedhart, Durch den Eisernen Vorhang, a.a.O., S. 173.

[15] – Brandt, Erinnerungen, a.a.O., S. 459. Vgl. ebd., S. 181 ff., 224-233 sowie Peter Merseburger, Willy Brandt, 1913-1992, Visionär und Realist, München 2002, S. 680.

[16] – Schmidt, Wurzeln der Entspannung, a.a.O., S. 524, 540, 555, 561.

[17] – Hanna Wolf, Mitglied im ZK der SED, zit. nach Merseburger, a.a.O., S. 605.

[18] – Susanne Schattenberg, Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie, Köln 2017, S. 464-469.

[19] – Greiner, Wächter des Imperiums, a.a.O., S. 224-227.

[20] – Vgl. Matthias Peter, Die Bundesrepublik im KSZE-Prozess 1975-1983. Die Umkehrung der Diplomatie, München 2015, S. 542; Agnes Bresselau von Bressensdorff, Frieden durch Kommunikation. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg, 1979-1982/83, Berlin und Boston 2015.

[21] – Interview mit Willy Brandt für die ZDF-Sendung „Zeugen des Jahrhunderts“, Dezember 1988, zit. nach Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung, https://willy-brandt/reden-zitate-und-stimmen.

[22] – Vgl. Bernd Greiner und Bernd Rother, Mehr Vergangenheiten wagen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 11/2019, S. 41-45. Auch erschienen im Blättchen 26/2019.