22. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2019

Bemerkungen

Herbstbild

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
die schönsten Früchte ab von jedem Baum.

O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält;
denn heute löst sich von den Zweigen nur
was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.

Friedrich Hebbel (1813–1863)

Kranker Zeitgeist

„Der Zeitgeist erschreckt sogar die Atheisten“, äußerte schon Stanisław Lec. Und er hatte völlig Recht, wie kürzlich einmal mehr ein Essay von Kathrin Schmidt mit dem Titel „Gesucht: Zeitgeist_In (M/W/D)“ eindrücklich vor Augen geführt hat. Darin nahm die Autorin unter anderem die Bildersturm-Groteske um ein Gedicht von Eugen Gomringer an der Außenfassade der Alice-Salomo-Fachhochschule für Sozialarbeit im Berliner Stadtbezirk Hellersdorf ins Visier. (Siehe Das Blättchen 5/2018; das Gedicht wurde inzwischen getilgt.)
Schmidt verweist zunächst auf den Beginn der Auseinandersetzungen: „Am Anfang der Ablehnung dieses Gedichtes stand ein ‚komisches Bauchgefühl‘, nachzulesen in einer Stellungnahme des Allgemeinen Studierenden-Ausschusses vom September 2017.“ Drei weibliche Studierende hatten im April 2016 in einem Brief an die Hochschulleitung moniert, dass Gomringers Gedicht „unangenehm an sexuelle Belästigung“ erinnere sowie daran, dass „wir uns als Frauen nicht in die Öffentlichkeit begeben können, ohne für unser körperliches ‚Frau(*)-Sein‘ bewundert zu werden“.
Die Skandalisierung nahm Fahrt auf.
Später, so Schmidt weiter, als „ein Wettbewerb um die künftige Fassadengestaltung ausgeschrieben war, legte der Studierendenausschuss nach: ‚Das eingereichte Werk darf in keiner Hinsicht diskriminierend sein. Sexistische, rassistische, ableistische, lookistische, klassistische, ageistische […] Bezüge werden nicht akzeptiert.‘ Eine Aneinanderreihung derartiger Wörter trägt wohl selbst Züge des Klassismus und Ableismus, weil sie Menschen, die diese Wörter nicht kennen oder des Englischen unkundig sind, vom Verstehen ausschließt. Das sind meist Ältere unter uns, weswegen man auch Ageismus unterstellen kann. […] Haben wir sie hier nicht wieder, die selbstgefällige Selbstversicherung eines pauschalen Anstands? […] Und wo schon […] ein ‚komisches Bauchgefühl‘ ausreicht, einen beliebigen Gegenstand unter Diskriminierungsverdacht zu stellen, heißt es aufpassen. daß das Konzept der diversity, des modernen Gegenbegriffs zur Diskriminierung, nicht Freifahrtschein für ein absolutes Nebeneinander von Individuen wird, die einen wirklichen Konsens weder aushandeln müssen noch können und sich über nichts anderes mehr sicher sind als über ihre individuellen Besonderheiten“.
Von Betroffenheitshysteriker_*Innen (m/w/d) umringt – das wäre ja nun wirklich zum Fürchten und Sich-Grausen.

Kathrin Schmidt: Gesucht: Zeitgeist_In (M/W/D), Sinn und Form – Beiträge zur Literatur, 4/2019, S. 437-456. Einzelhefte 11,00 Euro zzgl. 2,00 Euro Versand; zu beziehen über das Internet.

am

Krautgetöne von Ronja Räubertochter

Ist es frauenfeindlich, wenn man feststellt, dass die nicht männlichen musikalischen Spezies im Pop, Soul und vor allem im jammernden Jazzbereich anzutreffen sind? Wann schreit schon mal eine Frau ihren Weltschmerz heraus, wann krächzt und grunzt sie zu todesmutigen Melodien, zupft die Gitarre mit Mordslust im Tal der Haudrauf-Genossen oder spielt avantgardistisches Zeugs, das mit selbst gebauten und in Reihe geschalteten Instrumenten erzeugt wird? Es sind nur Wenige die es wagen, fremdartigen Beat durch die Boxen zu jagen. Zu ihnen gehört die 1988 in der nicht existierenden Stadt Bielefeld geborene Musikerin, Künstlerin, Komponistin und Sängerin Fee Ronja Kürten. Mit zahlreichen Kollaborationen und musikalischen Auftragsarbeiten fürs Theater machte sie bereits auf sich aufmerksam, bevor sie das Soloprojekt Tellavision gründete. Das ist nun auch schon wieder 12 Jahre, drei Alben und zwei EPs her. Mit ihrem vierten Werk knüpft sie nahtlos an ihren individuellen Stil an, der eigenartig, körperergreifend, maschinenhaft-motorisch ist. Sie singt über die Ängste, initiiert mit beseeltem Spiel und scharf geschnittenem Klangbildern deren Lösung: „you can’t walk on water / but you can swim in it / the coast is clear / add land from here.“ Es handelt sich bis zum Schluss um einen krautigen Trip, der einzigartig durch die deutsche Musiklandschaft steuert, mit futuristischem Sound gegensteuert und Ronja Räubertochters expressionistische Stimme in den Vordergrund pumpt. Hört man da bei „Gone To Stay“ etwa die schlecht gelaunte Kate Bush, oder gar durch weitere Songs Björk randalieren? Doch nein, da ist das ultra-melodiöse Lied „Matchbox“, das sogar zu einer spontanen Party verleitet, da sich die Musik permanent aufbaut, dann zusammenfällt und schließlich zu den sanften Anfangstönen zurückkehrt.
Tellavision ist eine Klangerfinderin, die neben dem Krautgetöne Techno und Noise einfließen lässt, sich selbst im Chor begleitet und den Mut zum neuen Anfang („Hat Makers“) beschert. Das ganze Album scheint von erhaschten Stimmungen geprägt zu sein oder als würden kleine Phantomgeister mit Perkussionsinstrumenten den avantgardistischen Sound in Schutt und Asche legen, während ihnen bewusst wird, dass sie dazu die Beine und den Kopf bewegen müssen. Dreizehn Songs klingen wie ein Produkt vieler zeitgenössischer Musiker, wie Klänge von Existenzen, die aus dem Inneren der tönenden Dimension den immer noch den Markt überschwemmenden Popschlager an das Kreuz des schlechten Geschmacks nageln.

Thomas Behlert

Tellavision: „Add Land“, Bureau B.

Gut gesagt

Fälle nicht den Baum, der dir den Schatten spendet.
(aus Arabien)

Alle wollen zurück zur Natur –aber keiner zu Fuß.
(anonym)

Schade, dass die Weltverbesserer nie bei sich anfangen.
Mark Twain

Je schlechter die Straße,
desto schöner die Gegend.
Lord Hutton

WeltTrends aktuell

Vor kurzem stand das G7-das Treffen der westlichen Hauptmächte im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Andere wichtige Mächte blieben außen vor, darunter auch Indien. Im Thema geht es um dessen internationale Rolle nach der Wiederwahl des hindu-nationalistischen Präsidenten Narendra Modi. Indien versteht sich als globaler Akteur und als Ordnungsmacht im südasiatischen Raum. Es geht um Einflussnahme, oft auch um Druck auf die Nachbarn. Vor allem aber geht es um China. Indien sieht in China den Rivalen in der Region und versucht, Allianzen gegen das Reich der Mitte zu schmieden, sei es mit Japan, den USA oder mit der EU.
Im WeltBlick untersucht Hans-Jochen Luhmann den Fall des von britischen Truppen am 4. Juli vor Gibraltar gekaperten, inzwischen aber wieder freigegebenen Supertankers Grace 1.
Mit der Lage im Libanon, das 2018 seinen 75. Nationalfeiertag beging, beschäftigt sich die Nahost-Expertin Karin Kulow.
In der Analyse stellen Joachim Poweleit, Wilfried Schreiber, Jochen Weichold und Lothar Winter Thesen über die Lage der Europäischen Union zur Diskussion, ein Thema, das in den nächsten WeltTrends-Ausgaben seine Fortsetzung finden wird.
Um die EU geht es auch im Kommentar. Als Gewinner im Verhandlungsmarathon um die EU-Spitzenpositionen sieht Sabine Ruß-Sattar den französischen Staatspräsidenten Macron, der dank seines Vorschlags, Ursula von der Leyen zur Kommissionsvorsitzenden zu machen, die amtierende IWF-Präsidentin Christine Lagarde als neue Chefin der Europäischen Zentralbank platzieren konnte.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 155 (September) 2019 (Schwerpunktthema: „Großmacht Indien?“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Blätter aktuell

Lange galten Parteien wie Syriza und Podemos als Hoffnung der Linken. Doch sie alle haben jüngst herbe Rückschläge erleiden müssen. Als Modell ist der Linkspopulismus damit gescheitert, so Blätter-Redakteur Steffen Vogel. Eine linke Erneuerung darf gesellschaftliche Widersprüche nicht ausblenden – und muss Mut zu großen Ideen beweisen.
Allzu gerne inszeniert sich die AfD als Fürsprecherin der sozial Benachteiligten. Diesem Anspruch wird die Partei jedoch keineswegs gerecht, kritisiert der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Vor allem der parteiinterne Streit um ihr Rentenkonzept lege offen, welch unsoziale Ziele die AfD verfolgt – und zwar über alle Flügel hinweg.
Venedig verzeichnet rund 30 Millionen Besucher jährlich – Tendenz: steigend. Angesichts dieser Massen droht nicht nur das Sozialleben der wenigen verbliebenen Venezianer auszusterben, sondern auch das Ökosystem der Lagune, so die Publizistin Susanna Böhme-Kuby. Wer Venedig retten will, muss daher den Tourismus begrenzen.
Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Hongkongs Dilemma: Ein Land, zwei Systeme“, „Andreas Kalbitz: Der neue Rechtsaußen“ und „Nato oder nicht Nato: Schweden zwischen den Fronten“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, September 2019, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

Mely Kiyaks Nachlese zu den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen beginnt so: „Fünfzehn Minuten Wahlabend im ZDF begannen damit, dass Bettina Schausten den Countdown runterzählte, (‚3,2,1‘), als handele es sich um Silvester zur Jahrhundertwende, aber was will man machen, in der ARD ist es auch nicht würdevoller zugegangen. Und als wenig später Jörg Meuthen von der AfD an Schaustens Tresen lehnte, sagte sie nicht etwa: ‚Ein schwarzer Tag für Deutschland, heute hat die Demagogie gesiegt, wie lange, Herr Meuthen wird es meinen Sender hier noch geben, wie lange die Pressefreiheit?‘ Nein, sie sagte, natürlich seine Sicht der Dinge meinend: ‚Ein erfolgreicher Abend.‘ Na, bitte. Hier wird schon antizipierend koreferiert.
(Nur zur Erinnerung: Bettina Schausten war auch jene Befragerin des damals strauchelnden Bundespräsidenten Wulff, die in dessen TV-Interview die Nation wissen ließ, dass sie, wenn sie bei Freunden übernachte, natürlich immer dafür zahle.)
Mely Kiyak: Der Faschismus hat keinen moderaten Flügel, zeit.de, 03.09.2019. Zum Volltext hier klicken.

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„Ganz still ist es in Deutschland zum 75. Jahrestag des Sieges der Roten Armee in der Schlacht von Stalingrad“, vermerkt Michael Schneider und fährt fort: „Mit der Kapitulation von Generalfeldmarschall Paulus endete am 2. Februar 1943 das opferreichste Gemetzel des Zweiten Weltkrieges. Noch bevor US-amerikanische und britische Streitkräfte 14 Monate später mit der Landung in der Normandie endlich die zweite Front eröffneten, leitete die Schlacht von Stalingrad die Wende zum Sieg über den Hitlerfaschismus ein, den die Sowjetunion mit dem ungeheuren Blutzoll von insgesamt 27 Millionen Menschen erkaufen musste.“
Michael Schneider: Die verdrängte Befreiungsschlacht. In Deutschland gibt es noch immer kein öffentliches Gedenken zum 75. Jahrestag des Sieges der Roten Armee bei Stalingrad, rubikon.news, 20.08.2019. Zum Volltext hier klicken.

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„In Deutschland wird seit mehreren Jahren über aktive Cyber-Abwehr oder ‚hack backs‘ diskutiert“, schreibt Matthias Schulze von der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, „die darauf ausgelegt sind, offensiv zu wirken. Gegnerische Netzwerke sollen demnach penetriert werden, um Angriffe in Echtzeit zu stoppen, Daten zu löschen oder Rechner zu deaktivieren. Implizit steckt in der Forderung nach aktiver Abwehr eine weitere Überlegung: Ein Cyber-Angreifer könnte von einem Angriff gegen Deutschland abgeschreckt werden, wenn ihm digitale Vergeltung per ‚hack back‘ drohe. […] Bislang wurde aber für die deutsche Cyber-Sicherheitspolitik nicht analysiert, ob digitale Gegenangriffe überhaupt zur Abschreckung taugen.“
Matthias Schulze: Überschätzte Cyber-Abschreckung: Staatliche „Hack Backs“ sind zum Scheitern verurteilt, netzpolitik.org, 21.07.2019. Zum Volltext hier klicken.

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„[…] hatte Russland einen Grund, den ehemaligen Doppelagenten zu töten?“, fragt Thomas Röper und kommt in seiner Analyse zu dem Fazit: „Aus russischer Sicht ist kein Motiv erkennbar, einen ehemaligen Doppelagenten 14 Jahre nach seiner Festnahme und acht Jahre nach seinem Austausch zu töten. Russland hatte nichts zu gewinnen.“
Thomas Röper: Die Gift-Lügen. Der Fall Skripal vom März 2018 ist ein Paradebeispiel perfider Medien-Manipulation, rubikon.news, 15.08.2019. Zum Volltext hier klicken.