von Wolfgang Brauer
Mit Grausen erinnere ich mich an meinen Erdkundeunterricht: Grundmoräne, Endmoräne, Sander, Urstromtal – die „glaziale Serie“. Das ließe sich, wie ich heute weiß, erweitern durch Oser, Kame, Drumlins und einige andere Sand- und Schottergebilde mehr. Dazu kamen noch die Namen der Eiszeiten: Elster, Saale, Weichsel, Günz, Mündel, Riss und Würm. Die Warmzeiten zwischen den Kaltzeiten mussten wir nicht lernen, die Hirnverfitzung wäre perfekt gewesen. Mit entsprechendem Misstrauen näherte ich mich denn auch Beate Witzels Buch „Steine, Mammuts, Toteislöcher“ über die Spuren der Eiszeit in Berlin. Das Misstrauen war vollkommen unberechtigt. Selten habe ich ein Sachbuch gelesen, das im wahrsten Sinne des Wortes staubtrockene Dinge auch dem geologisch nicht vorbelasteten Leser so lebendig und vergnüglich nahebringt. Wer sich die vielen, fast kreisrunden Wasserlöcher in und um Berlin nicht erklären kann: Unter dem Stichwort „Eiszeit ausprobiert“ gibt die Autorin einen Tipp, wie man das im Blumentopf zu Hause nachvollziehen kann. Nur für das Gletscherzungen-Experiment braucht man wahrscheinlich ein außergewöhnliches Maß Entdeckerlust. Wer will schon einen ganzen Eimer Götterspeise auf dem Küchentisch auskippen?
Ansonsten erklärt sie sehr geduldig – auch anhand vorzüglicher Bildbeigaben, Karten und Grafiken – wie die Eiszeiten, insbesondere die letzte, die „Weichsel-Eiszeit“, das Berliner Landschaftsbild prägten und ihm seine mitunter traumhafte Unverwechselbarkeit bescherten. Ignorante Stadtplaner und noch ignorantere Architektur- und Bauingenieurbüros drohen das immer wieder zu demolieren. Gehen ihre Planungen schief, schieben sie die Schuld gerne auf die „unerwarteten Schwierigkeiten des Berliner Baugrunds“. Den Turmbau zu Babel kann man tagtäglich im Berliner Urstromtal beobachten. Diesen Leuten gehört Beate Witzels Buch als Pflichtlektüre auf den Tisch gepackt. Allen anderen möge es zur vergnüglichen Belehrung nützlich sein. Und haben nun ihre Sprösslinge Probleme mit einem langweiligen Erdkundeunterricht, dann nehmen sie die bei der Hand, und lassen sie sich von diesem schönen Buch durch das eiszeitliche Berlin führen. Beate Witzel macht es ihnen leicht. Die Adressen der schönsten Toteislöcher (im Sommer die Badesachen nicht vergessen!) und des gegenwärtigen Aufenthaltsortes des Höhlenlöwen vom Alexanderplatz liefert sie gleich mit.
Beate Witzel: Steine, Mammuts, Toteislöcher. Auf den Spuren der Eiszeit in Berlin, Edition Stadtmuseum Berlin, Berlin 2016, 120 Seiten, 18,50 Euro.
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Angesichts der im öffentlichen Bewusstsein inzwischen weitgehend durchgesetzten Reduzierung der Geschichte der DDR auf die eines gigantischen Repressionsapparates zwischen Mauer und Stasi-Knast nimmt das konkrete Wissen um dessen Strukturen im reziproken Verhältnis zur stetig wachsenden Gesamttonnage der gedruckten „Aufklärungsliteratur“ ab. Auffällig wurde dies jüngst während der in dieser Hinsicht skurrilen „Holm-Debatte“, der die Berliner Rathauskoalition fast zerrissen habenden Auseinandersetzung um die Bewertung der Biografie eines nun ehemaligen Staatssekretärs. Selbst dem Protagonisten dieser „Geschichtsaufarbeitung“, eben jenem Andrej Holm, unterliefen dabei Erinnerungsfehler in Sachen „Wachregiment Berlin ‚F. Dzierzynski‘“. Das ist jene Anfang der 1950er Jahre gegründete Truppe, die oft und gern als „Mielkes Privatarmee“ verunglimpft wurde und wird. Zumindest über die Strukturen und Aufgabenstellungen des ursprünglichen „Wachbataillons“ war die Einheit zum Zeitpunkt ihrer Auflösung 1989/1990 weit hinausgewachsen. Sie entsprach in ihrer zahlenmäßigen Stärke (11.000 Mann!), der Struktur und ihrer Bewaffnung durchaus einer motorisierten Schützendivision der NVA. Nur Kampfpanzer und schwere Artillerie fehlten. Der Berliner Autor Lothar Tyb’l befasst sich seit vielen Jahren mit der Geschichte dieser von Mythen umwaberten Truppe. Wie er dürften nur wenige deren Innenleben kennen. Er gehörte ihr 28 Jahre lang bis 1986 an, zuletzt als „Stellvertreter Propaganda“ im Range eines Oberstleutnants in der Politabteilung des Regiments. Dann wurde er aufgrund „ideologischer Abweichungen“ zur Archivarbeit abgeschoben. Bereits 2010 hatte Tyb’l ein Buch über die Einheit vorgelegt („Auf Posten“). Dieses erweiterte er jetzt um acht Texte zur Geschichte der Formation und deren Bewertung, zu den politischen Auseinandersetzungen, die zu seinem de-facto-Rauswurf führten und zur wahrscheinlich ekelhaftesten Begleiterscheinung des DDR-Militärs, dem „EK“-Unwesen. Seine Befunde – man muss sich erst in die Sprache und „Denke“ des ehemaligen Polit-Offiziers einlesen, das fällt manchmal schwer – werden nicht allen gefallen. Den einen nicht, weil Tyb’l der militärischen Verteidigung des Staates DDR nach wie vor Legitimität bescheinigt. Den anderen nicht, weil er zu den wenigen Autoren gehört, die konsequent den sich von der SED selbst auf ihrem letzten Parteitag im Dezember 1989 ausgestellten Ablasszettel in Frage stellen. Man hatte sich „beim Volk der DDR für den Machtmissbrauch“ entschuldigt und ansonsten klargestellt, dass die SED das Eine und Erich Mielkes Imperium das Andere gewesen seien. Damit war der Sündenbock definiert – und der Parteiapparat fein raus. Tyb’l betont dagegen, dass „das ganze Militär, die Staatssicherheit und die Polizei de facto zu SED-Organen beziehungsweise – Bereichen“ geworden wären. Das ist nur scheinbar eine den Positionen des Stasi-Chef-Austreibers Hubertus Knabe ähnliche Sicht. Tyb‘ls Ansatz ist ein grundsätzlich entgegengesetzter. Es geht ihm um einen Beitrag zur Diskussion über die Ursachen des Scheiterns des DDR-Sozialismus – mit Blick auf einen möglicherweise „fortgesetzten Versuch“, irgendwann… Dazu gehöre auch der sachliche Blick auf ihre militärischen Formationen und deren Innenleben. Freunde macht man sich so im politischen Farbenspektrum der Republik weder von rechts noch von links. So richtig gewollt ist dieser sachliche Blick immer noch nicht. Der „Fall Holm“ hat das wieder unter Beweis gestellt.
Lothar Tyb’l: Ausgemustert. Diskussionsbeiträge zur Geschichte des Wachregiments Berlin „F. Dzierznkski“, Lothar Tyb’l, Berlin 2016, 312 Seiten, 19,90 Euro.
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Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ erregte im vergangenen Jahr Aufsehen und fand auch unter Linken zunächst reflexhafte Zustimmung. Die wich bald ernüchterter Distanz, man begriff, dass man möglicherweise selbst im kritischen Fokus des Autors stehen könnte. Eribon beschreibt anhand autobiografischer Erfahrungen, weshalb ein großer Teil der französischen Arbeiterklasse zum Front National übergelaufen und die Linke – egal in welcher Schattierung – bei ihr abgeschrieben ist. Sie selbst, so Eribons Mutmaßung, hatte sich längst von ihrer ureigensten Klassenbindung abgewendet. Der Verlust der sozialen Basis schlug und schlägt auf die Wahlergebnisse durch. Didier Eribons Befunde lassen sich in vielen Ländern Europas bestätigen.
Christian Baron wurde 1985 geboren, er ist Journalist bei einer linken Tageszeitung und lebt in Berlin. Barons Reims heißt Kaiserslautern. Er entstammt dem dortigen „Unterschichtenmilieu“, hatte aber das Glück frühzeitig von Lehrerinnen gefördert zu werden, die ihre Berufung ernst nahmen, und geriet dann unter emanzipatorische, akademisch orientierte Linke. Die hatten (und haben!) zumeist einen gänzlich anderen sozialen Erfahrungshorizont als der Autor, der erst einmal – er beschreibt das so ausführlich, dass es teilweise schmerzt – deren Sprache lernen musste. Er war der weiße Rabe und wurde recht schnell auf die Hauptursache dieses brutalen Kulturkonfliktes gestoßen: Die akademische Elite reproduziert sich überwiegend aus sich selbst. Der Anteil der studierenden Arbeiterkinder nimmt in Deutschland seit Jahren kontinuierlich ab. „Nur sieben Prozent der Juniorprofessuren in Deutschland sind mit Arbeiterkindern besetzt“, fasst er eine aktuellere Studie der Uni Potsdam zusammen. Diese Leute bestimmen zunehmend Alltag und Programmatik auch der linken Parteien in Deutschland. Sie besetzen Führungspositionen und Parlamentsmandate. Mit den „Unterschichten“ haben sie weder real noch auf kommunikativer Ebene etwas zu tun. Im Gegenteil, sie wollen es auch nicht, sie halten bewusst Abstand. Mit großer Zielsicherheit wählte Baron für seine Bestandsanalyse linken Denkens und Tuns in Deutschland den Untertitel „Warum die Linken die Arbeiter verachten“. Auch wenn sich der Autor in seinen Fallbeispielen vorzüglich an den Grünen reibt – was zum Teufel ist an dieser Partei noch „links“? –, mit seinem Fazit trifft er auch bei der Partei, die sich das Linkssein in den Namen gebrannt hat, voll ins Schwarze: „Die Schwerpunktsetzung der Linken geht an der Lebensrealität ihrer natürlichen Klientel vorbei.“ Dabei ist es viel schlimmer. Die Linke empfindet die Arbeiterklasse nicht mehr als „natürliche Klientel“. Die sich in diesem Spektrum verortenden Parteien konkurrieren um die Gunst einer akademisch geprägten Mittelschicht. Das Ergebnis ähnelt dem in Frankreich. Die deutsche Arbeiterschaft tendiert zunehmend zur AfD. Christian Barons Befunde sollten unter linken Politikern und in deren Stäben sehr ernst genommen werden. Die Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion ist in dieser Kaste allerdings nicht sehr ausgeprägt.
Christian Baron: Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten, Das Neue Berlin, Berlin 2016, 288 Seiten, 12,99 Euro.
Schlagwörter: AfD, Beate Witzel, Berlin, Christian Baron, DDR-Geschichte, Eiszeit, Linke, Lothar Tyb’l, Unterschichten, Wachregiment, Wolfgang Brauer