14. Jahrgang | Sonderausgabe | 17. März 2011

Eine neue Klassenfrage

von Günter Hayn

Der Titel macht neugierig: „Deutschland 2.0“ heißt eine neue Schrift des WELT-Redakteurs Hans Christian Malzahn, die dieser Tage bei dtv premium erscheint. Der Autor verspricht „eine vorläufige Bilanz der Einheit“. Das ist seit einiger Zeit Mode. Wer sich augenblicklich in Form einer politischen „summa theologica“ äußern möchte, kommt anscheinend um den Verdammungschoral des finsteren SED-Regimes und das erlösende große Halleluja der Einheit nicht herum. Das geht quer durch die Parteienpräferenzen der diversen Autoren und kann, wenn diese ehrlich sind, durchaus lehrreich sein. Malzahn ist ehrlich und er schreibt mit lockerer Feder. Streckenweise ist diese zu locker und er kolportiert in seinem Bemühen, die „Mythen von links“ und von „Ewiggestrig“ zu demontieren, frisch-fromm-fröhlich-frei manch andere: von der „mit Fleiß und großem Bemüh´n“ faustisch um die maroden DDR-Betriebe ringenden Treuhandanstalt bis hin zum „Soli“, der den „Wessis“ zum Zwecke der Alimentierung des Ostens vom Gehalt abgezogen werde. Mir übrigens auch und ich bin weder „Wessi“ noch „Wossi“. Lesenswert ist aber sein Versuch, das „Wende“-Geschehen (durchaus richtig als „Implosion“ qualifiziert, eine „Revolution“ ist wirklich etwas anderes) und das politische Geschehen der 1990er Jahre in West wie Ost in Form eines Abrisses darzustellen. Über viele Wertungen muss man sich streiten und manches ist Klischee. Aber ich halte es für wichtig, dass gerade „links denkende“ Leserinnen und Leser nicht nur zur Kenntnis nehmen, was das eigene Weltbild bestätigt.
„Deutschland 2.0“ ist eine Anspielung auf die neue Generation des Internets. Malzahn will mehr als ein bloßes Rekapitulieren eines Geschichtsprozesses, dessen Ergebnis er unter dem Strich als gelungen betrachtet. Er wähnt sich auf der Seite der „Sieger der Geschichte“ und so schreibt er auch. Der in vier politische Essays gegliederte Band endet mit einem unter dem Titel „Einsichten, Aussichten“ stehenden Text. Der Autor verspricht dem Leser, sich „auch mit Zukunftsprognosen“ zu beschäftigen (eben dem „2.0“), weil „der Blick zurück oft genug weniger auf die historischen Fakten als vielmehr auf opportune Interessen der Gegenwart“ gerichtet sei. Dabei übersieht er, dass er selbst zuvor gut 100 Seiten lang nur wenig anderes getan hat. Was dann kommt, ist ein spekulativer geopolitischer Parforceritt, der in einem „unerfreulichem Sichtflug Richtung Nordost“ die Wiederauferstehung der russischen Gefahr beschwört, um anschließend die „politische Klasse“ (so nennt die sich selbst) der Bundesrepublik und deren Handlungspotentiale zu analysieren. Das ist nun wieder lesenswert und bestätigt Willy Brandt, der wohl als erster davon sprach, dass das vereinigte Deutschland – nicht das „vereinte“, da ist schon ein Bedeutungsunterschied! – nicht die territorial erweiterte alte Bundesrepublik sein werde. Ja und dann? Dann beschreibt der Printmedienmacher Malzahn die Gefahren der elektronischen Medien. Das ist ob der durchscheinenden eigenen Betroffenheit nicht sonderlich originell. Der Ost-West-Komplex, so dann die „vorläufige Bilanz“, werde sich per Binnenwanderung verlaufen. Da hat der Autor Recht. Die Ursachen der Abwanderung, eher der Flucht inzwischen einer zweiten Generation aus der blühenden Landschaft östlich des „grünen Bandes“, wie der ehemalige Grenzstreifen euphemistisch bezeichnet wird, unterzieht Claus Christian Malzahn aber nur einer äußerst oberflächlichen Analyse. Dabei liegt hier des Pudels Kern hinsichtlich des von ihm heftig beklagten östlichen Missvergnügens am Zustande dieser Republik. Kein Wort vom Ost-West-Lohngefälle bei den Facharbeiterlöhnen industrieller Bereiche von bis zu 40 Prozent, kein Wort über die fortgesetzte Stigmatisierung der Ostdeutschen durch das immer noch praktizierte Tarifgebiet „Ost“ gegen ein Tarifgebiet „West“, deren Diskriminierungen sich perverser weise bis zu den Mindestlöhnen und zur Bemessung medizinischer Leistungen fortsetzen. Allerdings räumt er an anderer Stelle seines Buches ein, dass „über die Lebenswirklichkeit im Osten Deutschlands … heute vor allem mit den Füßen abgestimmt“ werde. Das gab es schon einmal. Auch in den 1950er Jahren stimmte die Lebenswirklichkeit der Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht mit den offiziellen Doktrinen überein und die daraus resultierende „Abstimmung mit den Füßen“ führte schließlich zum Mauerbau. Irgendwann werden zumindest die Populationen von Luchs und Auerhahn und Wolf und Wisent in ganz Ostdeutschland stabil sein. Mit Ausnahme natürlich einiger weniger restaurierter Städte. Malzahn nennt Weimar ein „wahres Wossi-Rentnerparadies“. Da bricht der SPIEGEL-online-Redakteur wieder ihn ihm durch und es sei ihm nachgesehen. Nicht durchgehen lassen darf man Malzahn aber, dass er durchaus die deutschen Problemzonen sieht, um dann mit einer Nonchalance sondergleichen über sie hinweg zu parlieren. Der Autor gehört zu den wichtigen Stichwortgebern der konservativen Meinungsmacherindustrie, da hätte man gern mehr erfahren. Natürlich war zu erwarten, dass er am Ende seiner Zukunftsexpertise das Thema Integration als „größte Herausforderung der nächsten Jahrzehnte“ begreift und wie (fast) alle anderen konservativen Autoren die größten Probleme bei unseren türkischen Mitbürgern sieht. Das ist nicht neu. Verblüffend ist der Schluss seines Buches: Hans Christian Malzahn entlässt die Leser mit der Prognose, dass „in Deutschland eine neue Klassenfrage in den nächsten Jahrzehnten aktuell und brennend werden wird“. Das könnte auch von Oskar Lafontaine stammen. Nur: Warum erst in den „nächsten Jahrzehnten“? Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen stiegen in Deutschland seit 2000 (100 Prozent) auf 140 Prozent im Jahre 2009 (die Krisenfolgen sind hier bereits berücksichtigt), die Beschäftigtenentgelte nur auf 111 Prozent. Die Lohnquote stürzte nach der Jahrtausendwende dramatisch ab (das liegt im EU-Trend), aber die Bundesrepublik ist Schlusslicht in der Reallohnentwicklung. Von 2000 bis 2009 stieg der bei uns um 1,3 Prozent (Großbritannien 14, Frankreich 8,9, Niederlande 12,8 Prozent). Dafür wuchs zum Beispiel die französische (kein „Schwellenland“!) Wirtschaftsleistung um 14 Prozent, die deutsche nur um 10. Im selben Zeitraum stieg die Zahl der Vollzeitbeschäftigten in Frankreich um 7,1 Prozent, in Deutschland ging sie um 0,8 zurück. Nix mit „Deutschland 2.0“, da hilft auch die aufpolierte Infrastruktur (fürwahr eine Leistung) im Osten wenig. Die Realität jenseits der Oberflächendiskurse widerspricht dem Malzahnschen Gesamtbefund eines in der Summe erfolgreichen Einigungsprozesses.

Claus Christian Malzahn: Deutschland 2.0. Eine vorläufige Bilanz, dtv, München 2010, 140 Seiten, 12,90 Euro