von Wolfgang Schwarz
Am 23. Juli hatte es auf Spiegel Online geheißen: „USA haben keine Beweise für russische Mitschuld“. Fünf Tage später allerdings erschien Der Spiegel mit einem Titelbild, das rund vier Dutzend Konterfeis von Opfern der über der Ost-Ukraine verunglückten malaysischen Passagiermaschine zeigte – gruppiert um die Headline „STOPPT PUTIN JETZT!“ Der Leitartikel der betreffenden Ausgabe forderte: „Europa muss Putin für den Abschuss von Flug MH 17 zur Rechenschaft ziehen.“ Dieser sei „ein Symbol für die Ruchlosigkeit“ des russischen Präsidenten.
Inzwischen sind weitere reichlich vier Wochen vergangen, und es liegen unverändert keine Beweise für eine wie auch immer geartete direkte oder indirekte Schuld Russlands oder gar seines Präsidenten an dieser Katastrophe vor. Deren bedurfte der heutige Spiegel – mit einem früheren stellvertretenden BILD-Chefredakteur in der Leitung des Hauses – aber offenbar auch gar nicht. Vom Sturmgeschütz der Demokratie zum pietät- und geschmacklosen Revolverblatt, das einen kreativen Umgang mit Fakten und Sachverhalten zum Zwecke der Meinungsmache pflegt – ob sich Rudolf Augstein eine solche Entwicklung für sein Magazin hätte träumen lassen?
Dass die komplette Redakteurs-Riege die derzeitige scharfmacherische, russlandfeindliche Ausrichtung des Blattes mitträgt, darf allerdings bezweifelt werden. Jedenfalls publizierte Spiegel Online am 18. August ein Interview mit dem Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, Fjodor Lukjanow, der mit Blick auf Putins am 14. August auf der Krim gehaltene Rede erklärte: „Russlands Expansionsstreben ist begrenzt. Nach dem Anschluss der Krim hat es keine Absichten, sich weiter auszudehnen. Das war ein Signal an all jene, die an einen russischen Einmarsch in der Ukraine glauben. Einen russischen Einmarsch wird es nicht geben.“ Unterhalb dieser Schwelle allerdings gibt es natürlich nichtsdestotrotz Möglichkeiten, den Konflikt am Laufen zu halten oder sogar zu eskalieren, solange sich keine auch für Russland akzeptable Lösung abzeichnet. (Das erleben wir gerade.) Denn eine Preisgabe des strategischen russischen Ziels, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auf Dauer auszuschließen, wird es wohl ebenfalls kaum geben.
Wer sich ernsthaft Gedanken um eine Lösung des Ukraine-Konfliktes macht, kommt daher um diese Frage nicht herum. Bisweilen wird Vorschlägen für eine entsprechende Garantie des Nordatlantikpaktes gegenüber Russland entgegengehalten, damit würde auf unzulässige Weise das Selbstbestimmungsrecht Kiews beschnitten. Nämlich sich für eine solche Mitgliedschaft zu entscheiden.
Das kann man so sehen, aber stabile internationale Beziehungen beruhen nun einmal auf Kompromissen. Im Übrigen beinhaltet der NATO-Vertrag ja kein Anrecht auf Mitgliedschaft. Und andererseits ist ohne Russland eine Konfliktbeilegung kaum und eine nachfolgende Beseitigung der Kriegsschäden in der Ukraine gar nicht vorstellbar. 2012 nahm Russland 23,7 Prozent der ukrainischen Exporte ab. Zusätzlich deckt Kiew fast 60 Prozent seines Erdgasbedarfs aus russischen Quellen. Würde Moskau Kiew boykottieren, wäre es bis zum wirtschaftlichen Kollaps des Landes nicht mehr weit. Ausfälle in diesen Größenordnungen könnte auch die EU nicht einmal dann kompensieren, wenn sie es wollte – nicht zuletzt, weil ein Großteil der ukrainischen Ausfuhren nach Russland aus Rüstungsgütern besteht und andere Produkte häufig nicht westlichen Standards entsprechen. Hinzu kommt, dass Russland auch bei den ukrainischen Importen an der Spitze steht (2012: 19,4 Prozent).
Nicht zuletzt sollte auch die Frage nach der Form einer entsprechenden Garantie der NATO gegenüber Russland nicht unterschätzt werden. Oder um es mit Fjodor Lukjanow zu sagen: „In Russland glaubt man mündlichen Zusicherungen spätestens seit der Ausdehnung der Nato nach Osteuropa nicht mehr. Dass die Ukraine nicht Mitglied der Nato wird, muss festgeschrieben werden.“ Diese Position ist um so verständlicher, als einem auf Bündnisinterna Bezug nehmenden Bericht des Spiegel zufolge NATO-Strategen inzwischen Moldau und Armenien als weitere post-sowjetische potentielle Paktmitglieder ins Visier genommen haben.
Vor diesem Hintergrund auch eine amerikanische Stimme. John Mearsheimer, renommierter Politikwissenschaftler an der University of Chicago, führt in der aktuellen Ausgabe von Foreign Affairs seinen Essay „Why the Ukraine Crisis Ist the West’s Fault“ zu dem Fazit: „Die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten haben in der Ukraine jetzt die Wahl. Sie können ihre gegenwärtige Politik fortsetzen, die die Feindseligkeiten mit Russland verschärfen und die Ukraine in diesem Prozess verheeren wird – ein Szenario, aus dem alle Beteiligten als Verlierer hervorgehen würden. Oder sie können das Ruder herumwerfen und daran arbeiten, eine prosperierende, aber neutrale Ukraine zu schaffen – ein Szenario, das Russland nicht bedroht und dem Westen gestattet, seine Beziehungen zu Moskau wieder in Ordnung zu bringen. Ein Szenario, bei dem alle Seiten gewinnen würden.“ Dieser Quintessenz ist nur zuzustimmen – cum grano salis: Mearsheimers Votum ist im derzeitigen amerikanischen Meinungsspektrum leider das einer sehr überschaubaren Minderheit.
Das gilt für die lautstarken russophoben Stimmen in der deutschen Medienlandschaft derzeit keineswegs. „Der deutsche Journalismus hat binnen wenigen Wochen von besonnen auf erregt umgeschaltet. Das Meinungsspektrum wurde auf Schießschartengröße verengt“, fasste Herausgeber Gabor Steingart in der Ausgabe des Handelsblattes vom 8. August in einem „Der Irrweg des Westens“ betitelten Beitrag die Entwicklung der zurückliegenden Monate zusammen. In einer Phalanx mit dem Spiegel sah er dabei die FAZ, die Süddeutsche Zeitung und den Tagesspiegel.
Steingart fragte zugleich: „Begann alles mit dem russischen Einmarsch auf der Krim oder hat der Westen zuvor die Destabilisierung der Ukraine befördert? Will Russland nach Westen expandieren oder die Nato nach Osten? Oder sind sich hier womöglich zwei Weltmächte des Nachts an derselben Haustür begegnet, getrieben von sehr ähnlichen Beherrschungsabsichten gegenüber einem wehrlosen Dritten, der das nun entstandene Schlamassel mit einer Vorform des Bürgerkriegs bezahlt?“
Vor allem aber ging es dem Autor um EU-Europa, dem „mit seiner Politik der Eskalation […] ein realistisches Ziel“ fehle. Steingart fuhr fort: „Wir können Russland nicht mit den Augen der amerikanischen Tea Party betrachten. […] Auch der Gedanke, durch wirtschaftlichen Druck und politische Isolation werde man Russland in die Knie zwingen, ist keiner, der zu Ende gedacht wurde. Selbst wenn dieses Ansinnen gelänge: Was soll Russland da unten? Wie will man im europäischen Haus zusammenleben mit einem erniedrigten Volk, dessen gewählte Führung man als Paria behandelt und dessen Bürger man womöglich im kommenden Winter den Suppenküchen überstellt.“ Und an die Adresse der Bundeskanzlerin: „Vasallenhaftigkeit“ gegenüber Washington „hält keinen Schaden vom deutschen Volk ab, sondern vergrößert ihn. Diese Tatsache bleibt auch dann eine Tatsache, wenn nicht die Amerikaner, sondern die Russen den Ursprungsschaden auf der Krim und in der Ostukraine angerichtet haben.“
Von diesen Ausgangspunkten her schlug Steingart einen historischen Bogen, der auch im Blättchen schon wiederholt nachgezeichnet worden ist – zum Kalten Krieg und dem Brandt/Bahr-Konzept vom „Wandel durch Annäherung“, das den Status quo respektierte, um ihn – mit den bekannten Resultaten – zu verändern. Steingart scheute sich auch nicht, die deutschen Protagonisten direkt anzusprechen: „Es ist nicht zu spät für das Duo Merkel/Steinmeier, sich am konzeptionellen Ideenschatz jener Zeit zu bedienen.“ Denn es gäbe „im Verhältnis […] zu Russland in der Wand eine große Tür. Und der Schlüssel zu dieser Tür heißt Interessenausgleich. […] Russland ist bekanntermaßen eine Energieweltmacht und zugleich ein industrielles Entwicklungsland. Hier müsste eine Politik des Ausgleichs und der gegenseitigen Interessen ansetzen. Aufbauhilfe gegen Gebietsgarantien; Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte dafür schon das richtige Wort parat: Modernisierungspartnerschaft. Er muss es nur wieder entstauben und als Sehnsuchtsvokabel einsetzen. Russland gehört integriert und nicht isoliert. Kleine Schritte dorthin sind besser als der große Unsinn einer Politik der Aussperrung.“
Ein klares Wort fand Steingart darüber hinaus an die Adresse der militärischen Kraftmeier im Westen, denen auch die Ukraine-Krise wohlfeile Gelegenheit ist, nicht nur das Pulver trocken zu halten, sondern möglichst – um im Bilde zu bleiben – die Vorräte erneut kräftig aufzustocken: „Die amerikanische Neigung zur verbalen und dann auch militärischen Eskalation, das Ausgrenzen, Angiften und Angreifen, hat sich nicht bewährt. Die letzte erfolgreiche militärische Großaktion, die Amerika durchgeführt hat, war die Landung in der Normandie. Alles andere – Korea, Vietnam, Irak und Afghanistan – ging gründlich daneben. Jetzt wieder Nato-Einheiten an die polnische Grenze zu verlegen und über eine Bewaffnung der Ukraine nachzudenken ist eine Fortsetzung der diplomatischen Ideenlosigkeit mit militärischen Mitteln.“
* – Der Teil I und II erschienen in den Ausgaben 15/2014 und 16/2014. Weitere Beiträge des Autors zu diesem Themenkreis in den Ausgaben 7/2014, 9/2014, 11/2014 und 13/2014.
Schlagwörter: der Westen, Medien, NATO, Russland, Ukraine, Wandel durch Annäherung, Wolfgang Schwarz