17. Jahrgang | Nummer 10 | 12. Mai 2014

Wie sicher ist Europa?*

von Frank Elbe

Der Welt droht die schwerste sicherheitspolitische Fehlentwicklung seit der Kubakrise 1962, in der ein nuklearer Schlagabtausch gerade noch verhindert werden konnte. Kuba machte erstmals einer breiten internationalen Öffentlichkeit die ungeheuren Gefahren eines möglichen Atomkrieges bewusst. Die Krise wurde durch eine Vereinbarung über den Abzug der sowjetischen Raketen vom Typ SS-4 und SS-5 und amerikanischer Jupiterraketen aus Italien und der Türkei beigelegt; letzteres unterlag auf Wunsch der USA einem Geheimabkommen und war lange nicht bekannt.
Die Erkenntnisse aus der Kubakrise setzten den Anfang der Entspannungspolitik. Es begann mit der Einrichtung eines „heißen Drahtes“. Er war der allererste Schritt zur Vertrauensbildung. Wir haben in vielen kleinen und großen Schritten der Abrüstung und Rüstungskontrolle, mit unseren Verträgen mit Moskau, Warschau, Prag und Ost-Berlin, mit dem Helsinki-Prozess und einer Politik der Entspannung und wirtschaftlichen Zusammenarbeit schließlich die deutsche Vereinigung und die großen Veränderungen in Europa erreichen können.
Die große, historisch präzedenzlose Leistung bestand darin, das Ende des Kalten Krieges und die gewaltigen Veränderungen in Europa herbeigeführt zu haben, ohne auch nur einen einzigen Schuss abgefeuert zu haben. Dabei war die politische Strategie der NATO ein nicht hinwegzudenkender Eckstein des Erfolgs, weil

  1. die NATO als höchstes Ziel der Allianz festgeschrieben hatte, „eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung in Europa zu schaffen“, und
  2. die NATO mutig und beharrlich eine erfolgreiche Doppelstrategie von ausreichender militärischer Sicherheit und einer Politik von Zusammenarbeit verfolgte.

Es bleibt bemerkenswert, dass eine solche Ausrichtung in einer Phase beispielloser Hochrüstung in Ost und West erfolgen konnte und trotz herber Rückschläge – Prag 1968, Afghanistan 1979 und die Bedrohung durch nukleare Mittelstreckenwaffen beharrlich fortgesetzt wurde.
Die 90er Jahre waren durch eine optimistische, euphorische Grundstimmung bestimmt. 1992 schrieb Francis Fukuyama sein Buch „Das Ende der Geschichte“. Es war Skepsis gegenüber seiner These angebracht, dass die Welt nunmehr in eine „liberale, konfliktfreie Entwicklung“ eintreten würde, aber es schien schon so, dass wir – um mit Berthold Brecht zu sprechen – die „Mühen der Berge hinter uns hatten, nun aber die Mühen der Ebenen vor uns lagen“. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, dass im Frühjahr 2014 – 25 Jahre nach dem Fall der Mauer und im 100. Jahr des Ausbruchs des I. Weltkriegs – eine Lage vorzufinden sein würde, in der wir von allen guten Geistern verlassen worden sind und in der Bedrohung und absurdes, gefährliches Theater so nahe beieinander liegen.
Gewalttätigkeiten, Rechtsbrüche, Landnahmen, Machtverschiebungen, Rechthaberei und Heuchelei, Schuldzuweisungen, Gesprächsverweigerung und Sprachlosigkeit, Sensationslüsternheit und Entstellungen, Ausgrenzungen und Sanktionen, ein erschreckender Mangel an diskreter, vertrauensvoller Diplomatie – das sind nicht die Stoffe, die für ein friedliches Zusammenleben gedeihlich sind.
Zwei Jahrzehnte sind nach Ende des Kalten Krieges verstrichen, die für die Gestaltung einer neuen Weltordnung nicht ausreichend genutzt wurden, in denen wir noch nicht einmal die Beziehungen zwischen Russland, Europa und Amerika auf eine ordentliche, nachhaltige Grundlage stellen konnten. Schlimm genug, aber noch schlimmer wäre es, den erfolgreichen Weg der Kooperation zu verlassen und amerikanischen Ideen nachzugeben, die darauf setzen, Russlands einzuhegen. Das wäre ein Rückfall in den „Schlafwandel“ der Zeit vor dem Ausbruch des I. Weltkriegs.
Das heutige Drama besteht darin, dass der lange mühsame Weg, aus der Konfrontation über eine Politik der Zusammenarbeit, der Vertrauensbildung, der Abrüstung und Entspannung zu mehr Sicherheit zu gelangen, ja vielleicht einen Zustand des Friedens zu erreichen, verlassen werden könnte oder bereits verlassen worden ist. Einige Partner des Westens machen schon seit geraumer Zeit klar, dass in dem von Gorbatschow beschworenen „europäischen Haus“ kein Zimmer für Russland frei ist, dass Russland von der „dauerhaften und gerechten Friedensordnung in Europa“ besser ausgeschlossen wäre. Dabei verdrängen sie die Tatsache, dass für die Sowjetunion die Aussicht auf eine nachhaltige Partnerschaft mit dem Westen in den Verhandlungen über die deutsche Einheit Vorrausetzung für ihre Verhandlungsbereitschaft war.
In der Krimkrise hat nun Putin dem Westen in einem einzigartigen Kraftakt gezeigt, „wo der Hammer hängt“, wie es Horst Teltschik, der frühere Sicherheitsberater von Helmut Kohl so trefflich formuliert hat. Das war selbst für diejenigen, die ihn für den Bau einer gemeinsamen Zukunft als eine feste, berechenbare Größe ins Kalkül genommen hatten, ein schwer verdaubarer Brocken. Und diejenigen, die ihn ohnehin in ihrem „Kreuzzug gegen das Reich des Bösen“ für den „Oberteufel“ gehalten haben, werden nun nicht müde, der Welt zu vermitteln, wie sehr sie schon immer vor ihm gewarnt haben.
Konrad Adenauer hat den Abgeordneten im Deutschen Bundestag einmal auf seine unnachahmliche rheinische Art erklärt: „Meine Damen und Herren, die Lage ist so wie sie ist. Wir haben keine andere.“Das bedeutet zum einen, dass kein Anlass besteht, im Umgang mit Russland neue Parameter zu definieren. Es geht nicht um die Frage Können wir ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen, als sei nichts geschehen? Es geht vielmehr darum, im Interesse unserer Sicherheit die Stützpfeiler in den Beziehungen zu Russland weiterhin zu verstärken. Es geht auch darum, den Dialog mit Putin auf allen Ebenen wieder aufzunehmen und mit neuer Kraft und wechselseitigem Respekt die Beziehungen weiter auszubauen.
Auch Putin gehört zur Lage, wie sie ist – wir haben keinen anderen. Wahrscheinlich ist es sogar so, dass wir keinen Besseren haben, aber durchaus einen sehr viel Schlechteren bekommen könnten. Entgegen dem allgemeinen Trend halte ich Putin für einen berechenbaren, außergewöhnlich begabten Politiker. Er zählt zu den sogenannten „Sapadniki“ – den Westlern in Russland –, und wir sind gut beraten, seine europäische Ausrichtung wieder zu erkennen und zu nutzen. Wie seine Vorgänger Jelzin und Gorbatschow hat Putin immer auf eine Partnerschaft mit dem Westen gesetzt, insbesondere mit der EU und der NATO.
Aber auch Präsident Putin hat innenpolitische Zwänge zu beachten. Das ist nicht nur ein Privileg des Westens. Es gibt seit der Zeit des Zaren Peter der Große eine Spaltung Russlands in fortschrittliche, westlich orientierte Reformer und orthodoxe Slawophile. Dieser Grundkonflikt ist mit dem Fall der Berliner Mauer nicht aufgehoben worden. Putin wird trotz gefestigter Machtposition – vielleicht sogar gerade deswegen – argwöhnisch von erzkonservativen Kräften aus den Streitkräften, der früheren kommunistischen Partei und aus nationalistischen Kreisen unter die Lupe genommen – sicherlich mehr noch als von den Pussy Riots. Diese Leute möchten am liebsten das Rad der Geschichte und die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zurückdrehen. Es sind dieselben Leute, die im Georgienkrieg am liebsten bis nach Tiflis durchmarschiert wären und Saakaschwili am nächsten Baum aufgeknüpft hätten. Es darf daran erinnert werden, dass die Beendigung der Georgienkrise in Gesprächen zwischen Merkel, Sarkozy, Medwedew und Putin erreicht wurde.
Man braucht nicht lange darüber zu diskutieren: Putin hat die Trennung der Krim von der Ukraine absichtsvoll und planmäßig unterstützt und mitbetrieben. Es ist nicht ganz verständlich, warum sich Putin entschlossen hat, den Anschluss der Krim so handstreichartig durchzuführen. Warum riskierte er die zu erwartende weltweite Kritik?
Aus diplomatischen Kreisen in Moskau hört man, dass Putin wohl keinem Masterplan folgte, dem weitere Einverleibungen in der Region folgen würden, sondern dass er eher eine sehr spontane Entscheidung traf, ausgelöst

  • durch die Flucht von Janukowytsch,
  • der Beteiligung von Faschisten an der neuen Regierung in der Ukraine,
  • die Maßnahmen der neuen Machthaber zur Einschränkung der russischen Sprache, und
  • der Sorge von Übergriffen gegen die russische Minderheit und die Schwarzmeerflotte.

Putin handelte mit der ihm eigenen Entschlossenheit schnell, bevor sich seine Widersacher formieren konnten, und er unter einem wachsenden innenpolitischen Druck hätte weiter gehen müssen, als er selbst wollte. Die Schnelligkeit der Übernahme der Krim und die damit verbundene Machtdemonstration gegenüber dem Westen überraschten vor allem seine politischen Gegner. Das erweiterte seinen Handlungsspielraum erheblich. Dadurch konnte er unangefochten schon in seiner Rede vor der Duma in Aussicht stellen, dass er keine weiteren Maßnahmen gegen die Ukraine ergreifen würde. Er wollte dem Westen weniger zeigen, „wo der Hammer hängt“, als ein Stoppschild aufstellen und eine Warnung aussprechen, als er vor der Duma sagte: „Im Falle der Ukraine haben unsere westlichen Partner eine Grenze überschritten, handelten grob, verantwortungslos und unprofessionell.“
Es mag sein, dass eine solche Bewertung nur eine der vielen aktuellen Kaffeesatz-Lesereien ist, aber es ist eine schlüssige Überlegung, für die auch spricht, dass Putin kurz nach seiner Rede den amerikanischen Präsidenten Obama anrief, um die weitere Entwicklung zu besprechen und einen Konföderationsplan für die Ukraine vorzuschlagen. Auf jeden Fall entspräche es professionellem Handwerk der Politik, einem solchen Motiv nachzuspüren, statt blindlings vorgefassten Einschätzungen zu folgen.
Die euroatlantische Gemeinschaft braucht Russland aus vielerlei Gründen – für:

  • die wirtschaftliche und strategische Zusammenarbeit,
  • die Energiesicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle,
  • die Verhinderung von Proliferation,
  • die Lösungen der Probleme im Iran, in Afghanistan, Syrien und im Nahost-Konflikt,
  • die Einhegung des Krisen- und Konfliktpotentials in Zentralasien,
  • aber auch für die Meinungsbildung und Entschlussfassung im Uno-Sicherheitsrat sowie im Rahmen von G 8 und G 20 und nicht zuletzt
  • für die Eindämmung des nuklearen Risikos.

Letzteres – die Eindämmung des nuklearen Risikos – scheint bei der Analyse der gegenwärtigen Lage keine Rolle zu spielen, was mir unbegreiflich ist. Die „gegenseitig gesicherte Vernichtung“ – oder auf Englisch die „mutually assured destruction“, sinnigerweise abgekürzt „MAD“ – ist immer noch das aktuelle Instrument der nuklearen Abschreckung in den Beziehungen zwischen Russland und den USA. Sie folgt einer einfachen Logik: „Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter!“, das heißt, der eine ballert los, aber der andere hat noch so viele Kapazitäten auf U-Booten, Flugzeugen oder auf dem Boden, dass er einen totalen Vernichtungsschlag gegen den Aggressor führen kann. Das Gleichgewicht des Schreckens bezeichnet eine Situation, in der eine Nuklearmacht vom atomaren Ersteinsatz dadurch abgehalten werden soll, dass der Angegriffene selbst nach einem gegen ihn geführten Erstschlag noch einen vernichtenden Zweitschlag gegen den Angreifer führen könnte. Trotz aller Fortschritte in der nuklearen Abrüstung dürfen die Atommächte USA und Russland nach dem bis 2020 gültigen NEW-START-Vertrag jeweils 1660 nukleare Sprengköpfe besitzen. In Mitten des neuen Friedens gibt es also immer noch eine gefährliche Nische des Kalten Krieges.
Das ist eine beängstigende Situation, die man als „mad“ bezeichnen darf. Sie beruht auf der Annahme, dass sich die Parteien im Umgang mit ihren nuklearen Kapazitäten immer rational verhalten werden. Aber kann es als gesichert angesehen werden, dass sich die Parteien immer ausschließlich vernünftig verhalten? Gesichert ist nur die totale Zerstörung, wenn sie sich irrational verhalten. Deswegen war der lange Weg von der Kubakrise 1962 bis zur Gegenwart so wichtig, weil sich das große Paket an Instrumenten der Entspannungspolitik, der Abrüstung, der Vertrauensbildung, der Zusammenarbeit in mannigfachen Bereichen wie Firniss, wie eine Schutzschicht also über den Zugriff auf Atomwaffen zog.
Eine philosophische Betrachtung über die Atombombe von Peter Sloterdyk in seinem Buch „Kritik der zynischen Vernunft“ dient weiterer Einsicht: „Die Bombe ist längst kein Mittel zu einem Zweck mehr, denn sie ist das maßlose Mittel, das jeden möglichen Zweck übersteigt […] Haben wir sie gebaut, um uns zu „verteidigen“, hat sie uns in Wahrheit eine beispiellose Wehrlosigkeit eingebracht […] Die einzige Frage bleibt, ob wir den äußeren Weg wählen oder den inneren – ob die Einsicht aus der Besinnung kommen wird oder aus den Feuerbällen über der Erde.“
Bisher gelang es, die Risiken des Einsatzes nuklearer Mittel zu reduzieren, wenn auch nicht völlig auszuschalten. Wenn wir in einer Krise die Instrumente der Politik und Diplomatie einschränken, bedeutet das, dass wir Schichten der erwähnten Firniss abtragen, und nicht nur einer militärischen Auseinandersetzung, sondern damit auch dem Zugriff auf nukleare Waffen als Ultima Ratio zur Lösung eines Konfliktes wieder näher kommen, was verhindert werden muss.
Solche apokalyptischen Ängste können – anders als in der Kubakrise – die Kohäsion des Bündnisses in Frage stellen. Wie Umfragen bereits belegen, bestehen hohe Zweifel, ob der Westen den richtigen Weg zur Lösung der Krise beschreitet und ob Deutschland nicht besser für eine Sonderrolle in den Beziehungen zu Russland optieren sollte. Das ist eine dramatische Entwicklung.
Wir sollten bald klare Verhältnisse schaffen, wie Russland seinen Platz in der euroatlantischen Gemeinschaft findet. Es geht um die strategische Gestaltung langfristiger, nachhaltiger Beziehungen zu Russland. Bei einem entsprechenden politischen Willen kann das gar nicht so schwer sein.
Dabei gilt unverändert:

  1. Es wird für Europa und die USA keine Sicherheit gegen Russland, sondern nur mit Russland geben. Das erfordert Respekt vor berechtigten russischen Sicherheitsinteressen und Empfindlichkeiten. Man muss sich nicht leichtfertig von irgendwelchen russischen Neurosen beeindrucken lassen, aber man sollte schon nachdenken, ob Sorgen des russischen Partners nicht Rücksicht verdienen. Umgekehrt können wir erwarten, dass Russland die aus der europäischen Geschichte stammenden Sorgen und Ängste seiner westlichen Partner ernst nimmt und mit dazu beiträgt, sie abzubauen.
  2. Niemand kann Russland, eine Großmacht mit enormen wirtschaftlichen Ressourcen, eben nicht nur eine Regionalmacht, ohne Nachteile für sich selbst isolieren. Eine Strategie, die darauf zielt, Russland auszugrenzen, wird keine Rendite tragen. Im Gegenteil, sie würde sehr bald den eigenen Interessen des Westens schaden.
  3. Eine von Vernunft geleitete Politik erfordert Besonnenheit und ein klaren Standpunkt, aber sie verzichtet auf unangemessene Härte und insbesondere auf die Verweigerung von Dialog. Das stellt die Festigkeit der eigenen Position überhaupt nicht in Frage, sondern dient der Wahrung eigener Sicherheitsinteressen.

Die Bereitschaft der NATO-Staaten, mit Russland kooperative Ansätze zu entwickeln, ist immer mehr verloren gegangen – gemessen an jener Aufbruchsstimmung, als der Londoner NATO-Gipfel 1990 der Sowjetunion „die Hand der Freundschaft“ reichte. Das ist schon schlimm, aber noch schlimmer wäre es, den erfolgreichen Weg der Kooperation zu verlassen, und amerikanischen Ideen zu folgen, die darauf setzen, Russland einzuhegen. Verteidigungsminister Volker Rühe, General Naumann, Admiral Weisser und ich haben 2010 in einem Artikel für den Spiegel dafür plädiert, Russland die Tür zur NATO zu öffnen, was damals noch nicht einmal unfreundlich aufgenommen wurde. Heute ist es unvorstellbar, dass die NATO an irgendeiner Partnerschaft mit Russland interessiert ist.
Obwohl wir die Eiszeit der West-Ost Konfrontation bald schon ein Vierteljahrhundert hinter uns gelassen haben und das Potenzial zu einer breiten Zusammenarbeit mit Russland sich ungemein erweitert hat, bestimmen Apathie und Gleichgültigkeit die weitere Entwicklung. Ist es wirklich nur Gleichgültigkeit? Oder hängt es mit einem veränderten Verständnis der USA von ihrer Rolle als einer globalen militärischen Macht zusammen? Während des Kalten Krieges beschränkten sich die USA darauf, „second to none“ zu sein. In der Bush-junior-Administration strebten sie nach militärischer Überlegenheit. Die ist schon an sich eine gefährliche Perzeption. Wenn aber diese Vorstellung in eine Politik umschlagen würde, das Bündnis zu hindern, zusammen mit Russland über eine breite, kooperative Gestaltung unserer Sicherheit nachzudenken, wäre das ein Spiel mit dem Feuer – angesichts des immer noch fortbestehenden ungeheuren strategischen Nuklearpotentials auf beiden Seiten.
Aber auch Gleichgültigkeit des Westens gegenüber Russland oder gar die größenwahnsinnige Illusion, dass man sich erlauben könne, Russland die kalte Schulter zu zeigen, es nicht ernst zu nehmen, oder das Land und seine Führung immer wieder verächtlich vorzuführen, führt auf den gefährlichen Weg, dass sich Russland von Europa abwendet und nach Asien ausrichtet. Diese Warnungen wurden schon vor einem Jahrzehnt ausgesprochen. Umso absurder mutet es an, jetzt Putin seine euro-asiatische Ausrichtung als Großmachtstreben vorzuwerfen, wenn wir es selbst in der Hand hatten, ihn stärker an den Westen zu binden.
Unser Land kann auf erfolgreiche Rezepte der Vergangenheit zurückgreifen und wir verfügen über langjährige, von Erfolgen gekrönte Erfahrungen. Deutschland war in der Vergangenheit der Motor der Entspannungspolitik. Es war nicht immer leicht, den Sinn dieser Politik unseren alliierten Freunden, insbesondere den USA, verständlich zu machen. Es hat sogar ernsthafte Konflikte gegeben, vom Röhrenembargo bis zur Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenraketen vom Typ Lance. Aber schließlich war es diese Politik, mit der wir die Veränderungen in Mittel- und Osteuropa und die Wiedervereinigung unseres Landes erreicht haben, bekanntermaßen nicht gegen, sondern mit der Sowjetunion.
Waren die Reaktionen des Westens bisher klug und angemessen? Die New York Times mahnte in einer frühen Phase der Krimkrise, „nicht einfach irgendetwas zu unternehmen, sondern erst einmal sitzen zu bleiben.“ („Don’t just do anything! Sit there!“) Dieser Rat entsprach der staatsmännischen Klugheit des französischen Außenministers Talleyrand, der seine Diplomaten fortwährend ermahnte, „vor allem keinen Eifer“ zu zeigen, sondern erst einmal die Lage zu beobachten und zu analysieren.
Leider ist so etwas mit fixen Fernsehkommentatoren, Moderatoren von Talkshows und ständig den Entwicklungen voraus oder hinterher hechelnden Politikern nicht zu machen. Die Öffentlichkeit wurde von einem Stakkato von ernsten bis irren Vorschlägen „eingedröhnt“. Es reichte von der Verstärkung der NATO-Präsenz an den Ostgrenzen bis zur Mahnung an Schalke 04, nicht mehr im Gazprom-Trikot zu spielen, und das mit der Geschwindigkeit des „Echtzeitjournalismus, die schneller als die Reaktionszeit für einen Atomangriff“ ist, wie Frank Schirrmacher von der FAZ so unerbittlich entlarvend in seiner Kritik an Claus Kleber vom ZDF feststellte. Dieses Stakkato hat bei zynischer Betrachtung wenigstens einen Vorteil: Es macht klar, wie sehr die Sicht von Politik und Medien einerseits und die Stimmung der Menschen andererseits auseinanderfallen. Ich habe das so krass bisher noch bei keinem sicherheitspolitischen Thema erlebt. Die Menschen im Land denken anders, sie fühlen sich verunsichert und haben Angst vor der Zukunft. Hoffentlich stellt die Politik bald den Schulterschluss zu den Sorgen der Menschen her.
Die große diplomatische Fehlleistung besteht darin, dass nicht ausreichend seriös verhandelt wird. Beide Seiten suchen nicht wirklich das Gespräch, sondern sprechen miteinander, um sich anschließend die Inhalte der Gespräche öffentlich um die Ohren zu hauen. Das Instrument der direkten, vertraulichen Telefonanrufe wird denaturiert, wenn unmittelbar danach die Gesprächsinhalte an die Medien weitergereicht werden. Das war bei der Beilegung der Georgienkrise, als Sarkozy und Merkel mit Medwedew und Putin verhandelten, erfreulich anders.
Das Nordatlantische Bündnis hat bisher ein miserables Bild abgegeben. Die NATO hat eher zur Eskalation der Krise als zu ihrer Beilegung beigetragen. Sie hätte im Rahmen des NATO-Russland-Rates sofort Verhandlungen mit Russland aufnehmen müssen. Sie hat zu Beginn der Krise angekündigt, dass sie – anders als im Georgienkrieg – die Mitgliedschaft Russlands im NATO-Russland-Rat nicht suspendieren werde. Aber was ist eine solche Erklärung wert, wenn das für Verhandlungen vorgesehene Gremium nicht in Anspruch genommen wird? Das hinterlässt den schalen Eindruck, als sei die Krise für die NATO ein willkommener Anlass, Russland weiter ausgrenzen zu können. „Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Politik. Sie ist ein Alibi für die Abwesenheit von Politik“, schreibt Henry Kissinger. Zu diesem Eindruck haben die beiden letzten Generalsekretäre nicht unerheblich beigetragen. Es ist an der Zeit, dass der Ministerrat seinen Hilfsorganen klar macht, wer der Herr im Haus ist.
Ob Deutschland diese Rolle will oder nicht, so hat es unter den westlichen Partnern eine bedeutsame, wenn nicht sogar die gewichtigste Rolle im Verhältnis zu Russland. Es sollte – wie es das in der Vergangenheit immer wieder getan hat – nun sein Gewicht stärker einbringen, um eine Lösung der Krise herbeizuführen, denn schließlich würde es unter den westlichen Staaten am stärksten unter Fehlentwicklungen leiden.
Ich bin kein Freund von Sanktionen. Wenn sie nötig sind, sollten sie wirken, nicht unrechtmäßig sein und vorzugsweise vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängt werden. Das Einfrieren von Konten, die Privatpersonen gehören, ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu rechtfertigen. Wer Sanktionen verhängt, muss mit Gegensanktionen rechnen. Ein „tit-for-tat“-Spiel hat alttestamentarische Züge und schiebt den Zeitpunkt, an dem man sich ohnehin wieder an den Verhandlungstisch setzen muss, unkontrollierbar lang hinaus.
Ich halte es auch für einen politischen Fehler, durch markige Sprüche unreflektiert klare Verletzungen des Völkerrechts zu rügen. Das gehört eher in die Abteilung Desinformation und Politikverweigerung als zu den Instrumenten politischer Krisenbewältigung. Das Völkerrecht hält alles andere als Klarheit parat. Es steckt voller Widersprüche und Konflikte. Das gilt insbesondere für den Konflikt zwischen dem Recht der territorialen Integrität aller Staaten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Letzteres wird erhärtet durch das Prinzip der „friedlichen Veränderung“ der KSZE-Schlussakte. Es gibt aber keine völkerrechtliche Norm, die ein Sezessionsrecht ausdrücklich bejahen oder verbieten würde. Die Geschichte liefert unzählige Beispiele, wie das Völkerrecht zur Begründung für den Beginn feindlicher Auseinandersetzungen herhalten musste. Zuweilen – parallel zu ihrer Leidenschaft für die Durchsetzung des Völkerrechts – scheuen Regierungen auch nicht vor einer zynischen Verachtung des Rechts zurück. So kommentierte Präsident Reagan die Verurteilung der US-Invasion in Grenada durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen mit den Worten: „Einhundert Nationen in der UN waren mit so ziemlich allem nicht einverstanden, was ihnen da, wo wir beteiligt waren, widerfuhr, und es hat mein Frühstück in keiner Weise gestört.“ Unsere eigene Geschichte lehrt uns, dass der Weg geduldiger Verhandlungen uns selbst und Europa weiter vorangebracht hat als das Beharren auf völkerrechtlichen Positionen. Natürlich war die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und deren Annexion ein himmelschreiendes Unrecht. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde den Deutschen jahrzehntelang vorenthalten; es durfte für alle, nur nicht für uns gelten. Letztlich haben aber Verhandlungen das Gesicht Europas verändert und nicht die Fixierung auf das ius cogens des Völkerrechts als Handlungsmaxime für die Politik. Diplomatie ist keine internationale Winkeladvokatur, sondern hat die Aufgabe, Spannungen zu vermeiden, Konflikte zu lösen und Frieden zu stiften.
Es gibt neue Kampfbegriffe in der aktuellen Politik: „Russenlandfreund“ und „Putinversteher“. Ich sehe das inzwischen als eine Art von KZ-Winkel, den all diejenigen tragen, die versuchen, die Empfindlichkeiten der russischen Seite nachzuzeichnen oder auch eigenes Fehlverhalten zu analysieren. Der Vergleich ist überzogen, aber eben auch notwendig, weil die neuen Kampfbegriffe zur Vorstufe von Denk- und Sprechverboten werden. Das von der grünen Europa-Abgeordneten Harms angeregte Sprechverbot für Gerhard Schröder verstärkt solche Befürchtungen. Die Russlandfreunde oder Putinversteher – zu ihnen zählen immerhin bedeutende Politiker und Wirtschaftsführer – stören. Sie stellen sich der gängigen Dämonisierung von Putin durch eigene Nachdenklichkeit in den Weg und fordern vor allem den Dialog, der nun gerade verhindert werden soll.
Das Wort „verstehen“ ist die sprachliche Wurzel für viele gute Begriffe, die auch in der Politik Anwendung finden sollten: Verstand, Verständigung, Verständnis. Verstehen heißt nicht, alles zu übernehmen, alles nachzusehen oder alles zu verzeihen. In sicherheitspolitischen Fragen hat das Verständnis da aufzuhören, wo der Verlust eigener Sicherheit droht. Aber auch derjenige gefährdet die eigene Sicherheit, der von vornherein ausschließt, sich in die Befindlichkeit eines anderen Menschen, einer anderen Gesellschaft oder einer anderen Nation zu versenken. Damit schränkt er die Möglichkeiten der politischen Analyse ein.
Was geht eigentlich in der russischen Duma vor, wenn sie bis auf einen Abgeordneten der Aufnahme der Krim in die Russische Föderation zustimmt? Der politische Meinungspluralismus ist auch in Russland inzwischen so fest verankert, dass man eine Manipulation der Entscheidung ausschließen kann. In seiner Rede vor der Duma sprach Putin davon, dass „die sprichwörtliche Eindämmungspolitik gegen Russland, die sowohl im 18., im 19. und im 20. Jahrhundert betrieben wurde, auch heute noch fortgeführt wird“.Das reflektiert nicht nur seine Sorge, dass die NATO Russland zu nahe auf den Pelz rücken könnte. Dahinter steckt auch Enttäuschung und Verärgerung, dass das Vertrauen auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen nicht gerechtfertigt war, dass ein Vierteljahrhundert von Anstrengungen keine Früchte getragen hat. So denken Russen in allen politischen Lagern, wo immer man sie trifft, als Freunde, Kollegen, Geschäftspartner und Touristen. So etwas muss man ernst nehmen.
Der amerikanische Kommentator Tom Friedmann hat die russische Befindlichkeit 2008 auf den Punkt gebracht:„Wir erwarten von Euch Russen, dass Ihr Euch wie eine westliche Demokratie verhaltet, aber wir werden Euch behandeln als wäret Ihr weiterhin die Sowjetunion. Der Kalte Krieg ist für Euch vorbei, aber nicht für uns.“
Russland fühlt sich sicherheitspolitisch vom Westen „umzingelt“:

  • Es hat die Erweiterung der NATO durch Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei und die baltischen Staaten nur widerstrebend hingenommen. Die USA betrieben dann vor dem Georgienkrieg nachdrücklich die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO und die EU.
  • Russland sah in dem Raketen-Schild in Polen und Tschechien eine Beeinträchtigung seiner Zweitschlagkapazität.
  • Und wie musste es Russland erst verstehen, als der von den USA auf den Schild gehobene und von ihnen nachhaltig unterstützte georgische Präsident Michail Saakaschwili eine militärische Offensive gegen Südossetien begann?
  • Was sollte es davon halten,
    • dass sich über 100 amerikanische Militärberater in Georgien aufhielten,
    • dass zwei Tage vor der Eröffnung des Artilleriefeuers auf Stellungen in Südossetien die amerikanische Außenministerin Rice in Tiflis war,
    • dass während des Krieges Marinestreitkräfte der NATO Manöver im Schwarzen Meer abhielten und
    • dass schließlich der NATO-Oberbefehlshaber während der Feindseligkeiten nach Tiflis eilte?
  • Russland versteht schließlich auch das Angebot eines EU-Assoziationsabkommen als Übernahme der Ukraine in das westliche Lager.

Der Georgienkonflikt hatte bereits gefährliche Züge eines Stellvertreterkrieges, hier Südossetier, dort Georgier, und dahinter Russen und Amerikaner – wie man das aus den Zeiten des Kalten Krieges kannte. Die Russen wollten ihren über 200 Jahre ausgeübten Einfluss in der Region nicht verlieren. Drohende US-Basen an der Südflanke sind für sie unvorstellbar. Den USA wiederum diente Georgien als Brückenkopf am Kaukasus. Es ist ein strategisch wichtiges Transitland für Öl- und Erdgaslieferungen aus Aserbaidschan. Um ihre Pipelines zu schützen, drängten die Amerikaner auf die NATO-Mitgliedschaft Georgiens. Es war der erste militärische Konflikt nach Ende des Kalten Krieges mit einem hohen Gefahrenpotential für die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Er kann die Interessen Europas immer noch nachhaltig berühren.
Niemand kann sich beschweren, dass Russland nicht rechtzeitig auf seine Befindlichkeiten aufmerksam gemacht habe. Putin wies auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 auf die Bedrohung der russischen Erstschlagkapazität durch das amerikanische Raketenabwehrsystem hin. Danach belebte der russische Präsident Medwedjew in Berlin den Gedanken einer Kooperationszone von Vancouver bis Wladiwostok, um in diesem Raum einen Stabilitätspakt zu begründen. Seine Rede wurde vom Publikum begeistert aufgenommen, insbesondere von der deutschen Wirtschaft. Eine Reaktion des Westens blieb lange aus. Einen wirklichen Dialog über die Vorschläge Medwedjews hat es mit Russland bis heute nicht gegeben. Was spricht dagegen, mit der russischen Führung in einen substantiellen Dialog einzutreten, um gemeinsam das Potential auszuloten, wie Sicherheit und Zusammenarbeit verbessert werden können?
Zu den bittersten Enttäuschungen der Russen gehört das Thema Osterweiterung der NATO. Es ist eine Enttäuschung, die ganz Russland erfasst hat. Berthold Kohler, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, schrieb am 24. März 2003 in seinem Kommentar: „Und dennoch wird jetzt wieder gern die Behauptung Moskaus geglaubt, es sei der Westen, der sich nicht an Vereinbarungen gehalten habe: Er habe Russland im Zuge der Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands versprochen, die NATO nicht nach Osten auszudehnen. Einen solchen Pakt gab es nicht. Es hätte ihn auch nicht geben dürfen.“
Ich kann diese Aussage so nicht mittragen. Ich war aufs Engste mit den Verhandlungen über die Wiedervereinigung befasst. Ich war Leiter des Ministerbüros im Auswärtigen Amt, gehörte zu dem dreiköpfigen deutschen Verhandlungsteam bei den 2+4 Verhandlungen und hatte intensive, freundschaftliche Beziehungen zu dem politischen Berater des amerikanischen Außenministers, Unterstaatssekretär Zoellick, dem späteren Weltbankpräsidenten, sowie zu den Beratern des sowjetischen Außenministers, Tarasenko und Stepanow.
Um die Jahreswende 1989/1990 musste die deutsche Politik eine der härtesten Nüsse der deutschen Nachkriegsgeschichte knacken. Die USA machten ihre Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung davon abhängig, dass das vereinigte Deutschland Mitglied der NATO werden müsse. Im Februar 1990 begann bereits das große Werben des US-Außenministers Baker: Er machte im Kreml den westlichen Standpunkt klar, dass das vereinigte Deutschland in der NATO bleiben müsse. Baker nannte es im Gespräch mit Gorbatschow „unrealistisch“, wenn die sowjetische Seite davon ausgehe, eine Wirtschaftsmacht wie Deutschland könne, einmal vereint, neutral bleiben. Ja, er warnte den Generalsekretär gar vor der Gefahr, dass sich ein neutrales Deutschland selbst um seine Sicherheit kümmern werde. „Würden Sie ein wiedervereintes Deutschland außerhalb der NATO und ohne US-Streitkräfte, dafür vielleicht mit eigenen Atomwaffen, lieber sehen?“, fragte er den sowjetischen Präsidenten, „oder ziehen Sie ein vereintes Deutschland vor, das in die NATO eingebunden ist, während gleichzeitig gewährleistet ist, dass die NATO ihr Territorium um keinen Zentimeter in Richtung Osten ausweitet?“
Richtig ist, dass es keine Vereinbarung im 2+4-Vertrag und auch sonst gegeben hat. Das wäre auch nicht der richtige Rahmen gewesen. Aber es kann überhaupt keinem Zweifel unterliegen, dass Jim Baker mit der Autorität der führenden Macht des westlichen Bündnisses eine verbindliche politische Erklärung abgeben wollte und auch abgegeben hat. Baker hat in Moskau nicht nur eine beiläufige Erklärung abgegeben. Sie betraf den Kernpunkt der sowjetischen Zustimmung zur deutschen Einheit. Über nichts ist ausgiebiger verhandelt worden als über das Sicherheitsthema. Die Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands zur NATO war das alle anderen Fragen überragende Thema: Es war „die Mutter aller Fragen“, wie es Schewardnadse auf den Punkt brachte.
Allen Beteiligten war klar, dass Gorbatschow und Schewardnadse eine solide partnerschaftliche Beziehung zum Westen – zu Deutschland, zu den USA, zur Europäischen Gemeinschaft (wie die EU damals noch hieß) und zur NATO wollten, dass sie aber diese Politik auch gegen erhebliche innere Widerstände durchzusetzen hatten. Die Sicherheitsfrage hatte für die Kremlführung eine große innenpolitische Bedeutung. Nicht nur den Gegnern des Perestroika-Kurses, sondern auch dem sowjetischen Volk, das im Großen Vaterländischen Krieg einen hohen Blutzoll erbracht hatte, musste von der eigenen Führung verständlich gemacht werden, warum Deutschland nach seiner Vereinigung insgesamt der NATO, einem militärischen Bündnis angehören sollte, das von der sowjetischen Propaganda jahrzehntelang als das Feindbild aufgebaut worden war. Wie konnte der Zusammenbruch der in Jalta und Potsdam für Europa festgelegten Nachkriegsordnung gerechtfertigt werden, für die die Sowjetunion gekämpft hatte? Der innenpolitische Druck auf Gorbatschow und Schewardnadse war gewaltig.
Zunächst lief auch alles so, wie es die USA versprochen hatten. Als die Staatschefs Ungarns, Polens und der Tschechoslowakei im Februar 1991 in Visegrad entschieden, sich dem politisch-wirtschaftlichen System Europas anzuschließen, wurden eilig das sogenannte NATO-Liaison-Konzept und später der NATO-Kooperationsrat entwickelt. Man wollte damit die sicherheitspolitischen Bedürfnisse dieser Staaten befriedigen, aber andererseits Rücksicht auf die Sowjetunion nehmen. Deshalb blieb man unterhalb der Schwelle einer formellen Mitgliedschaft in der NATO.
Später fühlte sich der Westen immer noch gebunden, die Frage der NATO-Osterweiterung behutsam vorab mit der russischen Regierung zu erörtern. Als die NATO 1997 erwog, Polen, Ungarn und Tschechien als Mitglieder aufzunehmen, waren Sondierungen durch die Planungsstabschefs des Auswärtigen Amtes und des Verteidigungsministeriums vorangegangen. Primakow zeigte sich nicht erbaut, erhob jedoch keine Einwände, weil er sich eine zusätzliche sicherheitspolitische Rendite aus der Zusammenarbeit mit der NATO versprach. Er fand sie schließlich auch im NATO-Russland-Rat.
Bei der Aufnahme der baltischen Staaten und anderer wurden die Russen gar nicht mehr gefragt.Erst bei der geplanten Aufnahme von Georgien und der Ukraine schien die Schmerzgrenze für Russland erreicht zu sein, weil hier der Westen ebenfalls meinte, dass kein Anlass bestünde, die Russen überhaupt mit dem Thema zu befassen. Nach dem Georgienkrieg wurde das Thema der NATO-Mitgliedschaft von Georgien und der Ukraine dann – auch auf Betreiben von Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier – von der Tagesordnung abgesetzt.
Was wollen die Zyniker, die heute auf einen fehlenden Vertrag über die Begrenzung der Ausdehnung der NATO hinweisen, eigentlich sagen? Wäre es Ihnen wirklich lieber gewesen, wenn die Sowjets sich damals viel Zeit bei den Verhandlungen genommen hätten – auch wenn die deutsche Einheit dann verhindert worden wäre? Wollen sie den heutigen russischen Partnern vermitteln, dass eine nachdrückliche politische Erklärung der Führungsmacht des Westens, die zur Geschäftsgrundlage eines mehrmonatigen intensiven Verhandlungsprozesses wurde, nichts wert war, dass ein Handschlag in der internationalen Politik nichts bedeutet?
Auch die Berufung auf die KSZE-Schlussakte ermöglicht nicht, zu dem Schluss zu gelangen – der Morgensternschen Logik folgend, „dass nicht sein kann, was nicht sein darf!“ –, es hätte aus rechtlichen Gründen gar nicht zu einem Verbot der Ausdehnung des Nato-Gebietes nach Osten kommen können. Die Schlussakte von Helsinki statuiert Rechte für ihre Mitgliedstaaten, darunter das Recht, entscheiden zu dürfen, ob ein Mitgliedsstaat einem Bündnis angehören will, und wenn ja, welchem. Es begründet keine Pflichten für Bündnisse, Kandidaten aufnehmen zu müssen. Jede NATO-Entscheidung über die Aufnahme neuer Mitglieder wird im Rahmen eines Membership Action Plans unter Berücksichtigung einer Analyse getroffen, ob die Mitgliedschaft eines Kandidaten sicherheitspolitisch sinnvoll ist.
In der gegenwärtigen Krise bereitet nicht nur Russland sicherheitspolitisches Ungemach. Auch die amerikanische Außenpolitik schafft Belastungsproben. Es kommen Zweifel auf, ob die USA sich noch an die politischen Zielsetzungen der NATO gebunden fühlen. Im Harmel-Bericht von 1967 heißt es: „Es ist das höchste Ziel der Allianz, eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung in Europa zu schaffen.“ Offensichtlich geht es vielen Amerikanern heute in erster Linie darum, den Einfluss Russlands einzugrenzen. Von einem bedeutenden deutschen Wirtschaftsführer wurde mir vor kurzem entgegen gehalten: „Ich bin überzeugt, dass die Amerikaner kein allzu großes Interesse an einem überstarken Europa haben und auch nicht an einem allzu intensiven wirtschaftlichen Schulterschluss zwischen Europa und Russland.“ Das wäre ein ernstes machtpolitisches Spiel zum Nachteil der Europäer.
Als der amerikanische Vizepräsident Biden 2008 auf der Münchener Sicherheitskonferenz ankündigte, dass der neue Präsident Obama entschieden habe, in den Beziehungen mit Russland „den Wiederaufnahmeknopf zu drücken“, ging ein Raunen der Erleichterung durch den Saal. Ich habe mich allerdings damals gefragt, ob die europäischen Partner zu irgendeinem Zeitpunkt zu einer vorherigen Entscheidung, den „Stoppknopf in den Beziehungen mit Russland zu drücken“, jemals gehört geschweige denn konsultiert worden waren. Der mit großen Elan angetretene Obama hat sich inzwischen aus seiner Politik der Wiederbelebung der Beziehungen zu Russland, – eine Politik, die bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn eine Rolle spielte –, lautlos verabschiedet. Ich kann mich auch hier nicht erinnern, dass die Europäer um ihre Meinung gebeten worden waren, ob sie mit diesem Wechsel in der amerikanischen Position einverstanden sein könnten. Wir konnten so etwas nur erahnen, insbesondere als die Gegner Obamas 2012 die Verabschiedung des „Magnitzky-Gesetzes“ begeistert als das Ende der reset policy bejubelten.
Obamas Kehrtwende geht zu europäischen Lasten. Es wird immer deutlicher, dass die amerikanische Außenpolitik innenpolitischen Zwängen unterworfen ist. Obama scheitert zunehmend an den Falken Amerikas. Sie diktieren die Bedingungen für seinen Umgang mit Russland. Der einflussreiche Republikaner John McCain kritisierte Außenminister Kerry, einen „sehr kleinen Stock“ zu tragen. Damit spielte er auf die Doktrin des ehemaligen Präsidenten Theodore Roosevelt an, die lautete: „Sprich sanft und trage einen großen Knüppel, und Du wirst weit kommen.“ Inzwischen macht auch wieder die vor dem zweiten Irakkrieg aufgestellte Behauptung, dass „die Amerikaner vom Mars und die Europäer von der Venus abstammen“ die Runde. Das bezweckt nichts anderes, als die Europäer als „Weicheier“ im Umgang mit Russland zu beleidigen. Abgesehen davon, dass die Amerikaner in ihren Kriegen begeistert als „Mars“ gestartet, aber überwiegend als „Venus“ gelandet sind – so auch Henry Kissinger –, übersieht dieser Vergleich, dass die erfolgreiche Doppelstrategie der NATO von „ausreichender militärischer Sicherheit“ und einer „Politik von Abrüstung, Entspannung und Zusammenarbeit“ äußerst sinnvoll die unterschiedlichen Elemente von Mars und Venus inkorporiert. Ich erinnere unsere neokonservativen Freunde in den USA gern daran, welche Mars-Eigenschaften europäische Staaten bei der Stationierung von Cruise Missiles und Perhing II zur Abwehr der sowjetischen Bedrohung durch Mittelstreckenraketen vom Typ SS 20 unter Beweis gestellt haben, und bitte sie zu überlegen, ob ihr eigenes Land die damit verbundenen innenpolitischen Zumutungen hätte verkraften können.
Was nun den „großen Knüppel“ im Umgang mit Russland angeht, ist es keine Angelegenheit der USA, allein zu entscheiden, ob und wie ein solcher Knüppel zur Beilegung einer Krise in Europa eingesetzt wird. Europa ist kein Vorhof der USA und sollte erst recht kein „Kriegsschauplatz“ für einen neuen kalten Krieg oder „kalten Frieden“ (so die Publizistin Angela Stent) sein. Als Europäer, als Deutsche, haben wir ein Interesse daran, Europa nicht dem Einfluss amerikanischer Innenpolitik auszusetzen. Europa ist unser Kontinent. Es mögen manche Amerikaner Putin für einen „son of a bitch“ halten, aber selbst, wenn er das wäre, gilt „he is our son of a bitch“.
Ich habe viele gute Freunde in der Ukraine. Ich habe verstanden und erlebt, wie komplex die Lage in einem Land ist, das wie gegenwärtig kein anderes Land Europas durch verschiedene Sprachen, Konfessionen, kulturelle Einflüsse und politische Orientierungen zerrissen ist und das durch Politiker und Oligarchen schamlos ausgeplündert wurde. Es hat mich berührt, dass trotz aller Schwierigkeiten und Leiden immer noch ein Gefühl der nationalen Einheit vorhanden ist und die Mehrheit der Bevölkerung eine Teilung des Landes nicht wünscht. Die Ukraine ist vergewaltigt worden durch eine Entweder-oder-Politik aller früheren Regierungen. Alle – Juschtschenko, Timoschenko und Janukowytsch – wollten die Ukraine in die eine oder Richtung drängen, ihr eine westliche oder östliche Ausrichtung aufzwingen – und das jeweils zu Lasten des anderen Lagers. Die Situation verschärfte sich durch die Parteinahme des Westens und Russlands für das jeweils von ihnen favorisierte Lager. Die Ukraine braucht Ruhe, Entwicklung und Stabilität. Das ist nicht zu erreichen, wenn der Westen und Russland dort Stellvertreterkriege zur Sicherung ihres Einflusses führen wollen. Es geht jetzt nicht um absolute Zufriedenheit, sondern um ausbalancierte Unzufriedenheit, wie es Henry Kissinger beschrieben hat. Dies ist nach Lage der Dinge nur zu erreichen, wenn eine künftige Verfassung stärker als bisher einen föderalen Charakter erhält. Es ist nicht Sache der Russen, auf Konföderationen zu bestehen, und nicht Sache der Amerikaner, diese zu verweigern. Wir alle – Europäer, Amerikaner und Russen – sollten vielmehr bemüht sein, der Ukraine zu helfen, für die Staatsform zu optieren, die trotz aller Zerrissenheit des Landes den Menschen eine Zukunft in Frieden, Sicherheit und Wohlstand ermöglicht.

Der Autor ist Rechtsanwalt und Diplomat a. D.; er war unter anderem Leiter des Leitungsstabes und des Planungsstabes im Auswärtigen Amt sowie Botschafter in Indien, Japan, Polen und der Schweiz.

* – Kanzelrede, gehalten am 4. April 2014 in der Bauernkirche in Iserlohn.