17. Jahrgang | Nummer 8 | 14. April 2014

Voraussetzungen

von Erhard Crome

Die anti-russische Ausrichtung in der Formierung der öffentlichen Meinung hat in Deutschland eine lange Tradition. Sie begann Ende des 19. Jahrhunderts, nachdem Bismarck gegangen worden war, „feierte“ einen Höhepunkt während des Ersten Weltkrieges und wurde nach der russischen Oktoberrevolution zusätzlich anti-kommunistisch aufgeladen. Der Gipfel wurde unter der Federführung des „Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda“ erreicht. Nachdem die deutschen Herrenmenschen 1945 ihre bedingungslose Kapitulation hinnehmen mussten, blieb ein beträchtlicher Teil des Konstrukts im Kalten Krieg Bestandteil der antikommunistischen Staatspropaganda in der BRD, auch wegen des hohen Anteils der Sowjetunion an diesem Sieg. Auch als die UdSSR verabschiedet war, verschwand diese ideologische Kampflinie nicht, sondern nahm wieder ihre alte, anti-russische Gestalt an. Und mit der haben wir es bis heute zu tun.
Das ist das Hintergrundrauschen, das zu berücksichtigen ist, wenn man die derzeitigen Aufwallungen in den Medien gegen Putin einordnen will. International orchestriert auch von den üblichen Verdächtigen des Geheimdienst-Medien-Komplexes aus den USA. Nun ist natürlich nicht jeder Zeitgenosse mental in der Lage, sich von solcher Konditionierung frei zu machen. Mancher vermutet denn gar post-sowjetische Nostalgie oder alte Ost-Seilschaften, wenn jemand versucht, gegen diese ideologische Kampfstimmung Front zu machen. Selbst Helmut Schmidt, sonst hochgelobter Staatspolitiker i. R., musste sich als Russen-Versteher beschimpfen lassen, ebenso Peter Scholl-Latour oder Klaus von Dohnanyi.
Gerade weil die ideologischen Fronten so diffus scheinen, ist es nötig, einige Voraussetzungen sachlicher Analyse der entstandenen Lage klar zu benennen. Im Jahre 1989 brach das kommunistische Herrschaftssystem in den Ländern Mittel- und Osteuropas zusammen. Die Sowjetunion ging 1991 unter. Hier zerbrach nicht nur das kommunistische Herrschaftssystem, das 1917 errichtet worden war, sondern auch die staatliche Union, und zwar entlang der Grenzen zwischen den Unionsrepubliken, die die Kommunisten einst mehr oder weniger willkürlich gezogen hatten. Die Einführung des Kapitalismus erfolgte auf dem Wege des Raubes: Funktionäre aus dem Jugendverband Komsomol, von der Kommunistischen Partei und Direktoren der sozialistischen Betriebe, die „an der Quelle“ saßen, rissen sich das Staatseigentum unter den Nagel und wurden zu den neuen Kapitaleignern. Deshalb hat ein beträchtlicher Teil der „Oligarchen“ – in Russland, wie in der Ukraine – eine kommunistische Vergangenheit. Mit der Jelzin-Verfassung von 1993 wurden diese Eigentumstitel in Russland offizialisiert, in der Ukraine und anderen Republiken verlief das analog. Der Konzentrationsgrad des Kapitals in Russland ist heute höher als in den USA, weshalb die „Neuen Russen“ und ihre unerzogenen Kinder ob ihres ostentativ gezeigten Reichtums ja auch regelmäßig in der westlichen Klatschpresse auftauchen.
Hinsichtlich der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals ist es völlig egal, ob dessen Eigner zuvor süddeutscher Handelsherr, britischer Pirat, arabischer Kamelzüchter oder sowjetischer Nomenklaturafunktionär war. Allerdings bilden die nordamerikanischen und westeuropäischen Oligarchen seit Jahrhunderten eine untereinander verwobene Kaste, die den Hautgout der eigenen historischen Herkunft ausblendet und die Eigentumstitel der „Newcomer“ in den post-sozialistischen Staaten als fragwürdig ansieht – deshalb ja auch in den hiesigen Medien die ständige Benutzung der pejorativ gemeinten Worte „Oligarch“, wenn die in Russland oder der Ukraine gemeint sind, und „Ölscheich“, wenn es um die Kapitaleigner in der arabischen Welt geht. (In Deutschland gibt es allein deshalb keine „Oligarchen“, weil „Ehemalige“ bei der Verteilung des DDR-Vermögens ausgegrenzt wurden.) Kurzum, wir leben seit 1991 wieder in einer einheitlich kapitalistischen Weltordnung.
Diese gebiert auch wieder neue imperialistische Widersprüche. Nicht nur zwischen Konzernen am Markt, sondern auch zwischen Staaten, ganz wie 1914. Einer ist der zwischen Russland und „dem Westen“. Spätere Historiker werden vermutlich festzustellen haben, die Periode nach dem Kalten Krieg endete am 18. März 2014. Das war der Tag, an dem in Moskau Präsident Wladimir Putin den Vertrag mit den Vertretern der Krim über den Beitritt der Halbinsel zur Russischen Föderation unterzeichnete.
Kriterium für den historischen Einschnitt – Ende der Nach-Kalte-Kriegs-Zeit – ist natürlich nicht die „Heimholung“ der Krim nach Russland an sich. Entscheidend ist, dass in der Zeit seit 1990 die USA wähnten, sie seien die alleinigen Herren über Krieg und Frieden in der Welt und über das, was „geltendes Völkerrecht“ sei – die in der UNO-Charta verankerte staatliche Souveränität wurde als nicht mehr so wichtig erklärt, vielmehr seien „humanitäre Interventionen“ unter dem Label „responsibility to protect“ höherrangig, und wir, die USA beziehungsweise der Westen, entscheiden, wann solche zu erfolgen haben. Dazu gehörte auch der Anspruch darauf, Grenzen zu ziehen: Wenn wir, der Westen, den Kosovo von Serbien abtrennen, ist das völkerrechtskonform, wenn Südossetien oder Abchasien sich von Georgien lossagen, ist es das natürlich nicht. Bekanntlich gilt von alters her: Quod licet jovi non licet bovi. Die Verärgerung des Westens ist jetzt aber auch deshalb so groß, weil sich Russland in Sachen Krim eine eigene Machtkompetenz zugemessen hat, die den Westen nicht fragt. Insofern wiegt für diesen die Demütigung auf der symbolischen Ebene schwer, vielleicht schwerer als das geopolitische Faktum, die Krim vielleicht für immer nicht unter die eigene Kontrolle nehmen zu können. Insofern wird der Westen nichts unversucht lassen, Russland am Ende doch noch zu einem Einlenken zu bringen. Allein schon deshalb, damit andere große Akteure im neuen „Konzert der Mächte“ – was neben den USA, der EU und Russland ebenso China, Indien und mit Abstufungen auch Brasilien und Südafrika sind – nicht künftig gegebenenfalls vergleichbare Vorrechte als „Regionalmächte“ beanspruchen.
In strategischen Debatten während des Kalten Krieges nannte man so etwas, wie das Vorgehen Russlands in Sachen Krim, „Eskalationsdominanz“: Die Sowjetunion musste zuschauen, wie die USA den Vietnamkrieg eskalierten, konnte dem aber nicht direkt Einhalt gebieten, weil dies zum Atomkrieg geführt hätte. Aber sie konnte die vietnamesische Seite militärisch unterstützen und im Dialog mit den USA dazu beitragen, dass der Konflikt lokalisiert blieb. Am Ende mussten die USA geschlagen abziehen. Umgekehrt der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, der dann mit ihrer Niederlage endete. Der Sturz missliebiger Regierungen durch US-Truppen in Grenada 1983 und in Panama 1989 fand zwar unterhalb der weltpolitischen Konfliktebene statt, was nichts an der Völkerrechtswidrigkeit des Vorgehens der USA änderte, aber die Eskalationsdominanz der USA in diesen Fällen trotzdem deutlich zeigte. Nun gibt es kein „Recht auf Gleichbehandlung im Unrecht“. Gleichwohl ist die derzeitige Krim- und Ukraine-Politik Russlands auch symbolisch gemeint: Wer strategische Atomwaffen hat, kann in seinem Umfeld machtpolitisch auch Schritte gehen, die sich über das Völkerrecht hinwegsetzen, ohne dass er real daran gehindert werden kann; Grenzziehung als Rechtssetzung aus eigener Machtvollkommenheit heraus.
Eskalationsdominanz besteht nicht an und für sich, sondern stets in einem konkreten Konflikt. In Sachen Krim ist die Moskauer Regierung davon ausgegangen, dass Russland diese hat. Die scharfen Protestworte der US-Regierung bei gleichzeitiger Mitteilung, keine Truppen in die Ukraine zu schicken, bestätigten genau dies. Die nachfolgenden Aktivitäten der NATO mit Luftaufklärung und Bombenflugzeugen in den baltischen Republiken und in Polen, die allesamt NATO-Mitgliedsstaaten sind, stellen rein symbolische Gesten dar, die nicht auf eine militärische Gegen-Eskalation zielen. NATO-Oberkommandeur Philip Breedlove hat am 2. April 2014 gewarnt, dass Russland binnen drei bis fünf Tagen die Ukraine einnehmen könnte. Westliche Kommentatoren begrüßten „das verstärkte Engagement des Bündnisses in seinen östlichen Mitgliedstaaten“, betonten aber, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wäre eine gefährliche Provokation. Solange ein Konflikt lokalisiert bleibt, so auch die Erfahrung von 1914, stellt er keine Gefahr für den Weltfrieden dar.
Ein entscheidender Punkt der westlichen Aufregung ist vielleicht auch, dass Russland überhaupt „wieder da“ ist. Man hatte geglaubt, es sei seit 1990 als Großmacht erledigt, für immer. Oder zumindest für eine sehr lange Zeit. Aber schon Bismarck wusste: „Russland ist nie so stark oder so schwach, wie es scheint.“