27. Jahrgang | Nummer 26 | 16. Dezember 2024

Wunschdenken schafft keinen Frieden

von Andrèe Türpe

Deutschland begibt sich in einer national und international dramatischen Zeit auf den Weg zu Neuwahlen, ist ökonomisch in der Stagnation, streitet, zerlegt seine eigenen Aufstiegsgrundlagen, wird zunehmend in der internationalen Reflexion als kranker Mann, nicht nur Europas, charakterisiert. Die Deutschen haben Angst vor Putin, manche auch vor Selenskyj. Seine politischen Eliten taumeln einfluss- wie hilflos von Ereignis zu Ereignis.

Aber vor allem blickt es voller Unsicherheit und Ungewissheit in die eigene Zukunft. Seine Energiepreise steigen und steigen, führen nicht nur bei den Verbrauchern, sondern zunehmend auch bei seiner Industrie zu Zweifeln und Fassungslosigkeit. Erdgas kommt jetzt zum überaus großen Teil als LNG, also tiefkalt, verflüssigt über den großen Teich, nachdem die Zuleitung desselben von Freunden oder Feinden weggesprengt wurde. Vergessen sind die Zeiten als deutsche Politiker LNG noch als Teufelszeug schlimmster Form und Art ablehnten. Auch Erdöl kommt jetzt von Freunden, selbst, wenn diese es über dunkle Kanäle aus Russland erhalten bzw. ergaunert haben.

Aber das Verblüffendste und zugleich Unheilvollste ist der einfallslose Gleichklang der Politik bei der Konfliktbewältigung, wenn man von den sogenannten populistischen Gruppierungen und Parteien einmal absieht.

Seit über eintausend Tagen gibt es in der Ukraine sowie in einigen Gebieten Russlands einen sich ständig eskalierenden Krieg. Seine Ursprünge reichen weiter zurück als bis ins Jahr 2014. Aber seit dieser Zeit dynamisiert sich der Krieg besonders. Und es scheint, dass der Krieg als „Akt der Gewalt“ sich in seiner Realität keine Grenzen mehr setzt. Denn im Rahmen seiner Eskalation „gibt jeder dem anderen das Gesetz“. Damit entsteht eine äußerst gefährliche Wechselwirkung, die, wie Clausewitz einmal anmerkte „zumindest dem Begriffe nach zum Äußersten führen muß“.

Blicken wir auf die Ukraine sowie das umkämpfte Kursker Gebiet, lässt sich auf beiden Seiten ein genauso brutaler wie erbarmungsloser Kampf konstatieren. In dem Bestreben, den „jeweils anderen niederzuwerfen, ihn wehrlos zu machen““ hat sich ein grausames Schlachtenszenario entwickelt. Jeder kann das Gemetzel auf dem Schlachtfeld in den „modernen, bewegten Medien“ sehen. Hier wird gesprengt, gehauen, exekutiert, ja, man muss sagen, gemordet! Und das von beiden Seiten. Zwar werden nach Genfer Konvention auch Gefangene gemacht, aber sollte der jeweils anderen Seite ein POW/FPV-Drohnenführungstrupp in die Hände fallen, sind alle des Todes. Gnade gibt es nicht. Fassungslosigkeit über derlei enthemmte Gewalt geht in Abscheu und Ekel über.

Der Politik fällt jedoch weiter nichts ein, als Milliarden an Euro und Dollar sowie Waffen und nochmals Waffen für die Ukraine bereitzustellen. Die Hysterie um die Lieferung der jeweils freigeschalteten Waffen für das überfallene Land dokumentiert eher die HiIflosigkeit deutscher Politiker als deren Fähigkeit, einen konstruktiven Beitrag zu einer wirklichen Konfliktlösung zu leisten. Oder denken wir an die sich permanent verstärkenden Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die man kaum noch zu nummerieren vermag. Was haben sie gebracht? Nichts! Anfangs waren sie eine Reaktion des Westens auf die russische Annexion der Krim. Selbst wenn so gedacht, konnten sie die Annexion nicht rückgängig machen. Vielmehr ist der Konflikt bis hin zum offenen Krieg eskaliert. In seinem Gefolge sind die Flüchtlingsströme stetig größer geworden. Gleichzeitig registriert man ernüchtert, dass die Sanktionen nicht nur eine Waffe des Westens gegen Russland sind, sondern die EU selbst und damit natürlich auch Deutschland treffen. Hinzu kommt, die Inflation fegte über Deutschland und zieht nun erneut an. Zu allem Verdruss werden existentielle Grundbestandteile allen sozialen, kulturellen und industriellen Wohlstandes schier unbezahlbar – Energie, Mieten, Steuern, Lebenshaltungskosten, Sozialausgaben …

Anstatt zum Schweigen der Waffen zu finden, eskalierte der Konflikt. Die Ukraine greift mit eingestandener Planungsunterstützung der USA die russischen Truppen im Gebiet Kursk an. Russland bombardiert weite Bereiche ziviler Infrastruktur (Industrieanlagen, Kraftwerke, Elektrostationen) in der Hoffnung, die Ukraine damit in die Knie zwingen zu können. Übrigens, alle, die meinen, dies sei eine einmalige Grausamkeit, sollten sich an den Kosovokrieg der NATO im Jahre 1999 erinnern. In ihrem 78 Tage dauernden Bombardement war ein Grundgedanke der NATO, die Militärmaschinerie Serbiens auszuschalten. Als das nicht gelang „erweiterte man die Liste der Ziele auf sogenannte zivilmilitärische Ziele“ (Michel Rose, britischer General). Unter anderen wurden dabei 60 Brücken, 110 Krankenhäuser, 480 Schulobjekte, Strom- und Wasserversorgung und 121 Industriebetriebe zerstört. Tausende Zivilisten starben. Damit erweist sich Russland mit seinen Angriffen gegen die zivile Infrastruktur der Ukraine als gelehriger Schüler der damals als effektiv charakterisierten NATO-Strategie.

Im Resultat sehen wir im Russland-Ukraine-Krieg eine vehemente Entwicklung der Eskalationsspirale mit der Tendenz zum Äußersten und schließlich die dramatische Gefahr des Umschlagens in einen großen Krieg, in dem auch der Einsatz von Kernwaffen gefährlich näherrückt. Für uns in Europa steigt das reale Risiko, in den Krieg unmittelbarer, bis hin zum atomaren Inferno hineingezogen zu werden.

Gibt es keine Hoffnung auf Deeskalation, keinen Ausweg aus der Gewaltspirale? Überantworten wir uns der gefährlichen inneren Logik des Krieges oder durchbrechen wir diese endlich durch mutige Diplomatie?

Notwendig ist eine schonungslose Sicht auf die Realität des Konflikts! Die Erwartungen der Kriegsparteien, den jeweils anderen „wehrlos zu machen“ sind der Wirklichkeit entrückt. Der Sieg nur einer Seite ist reines Wunschdenken, wenn ihn auch einige westliche Politiker für die Ukraine immer noch emphatisch und lautstark einfordern. Es ist sicherlich nicht fehlende Phantasie, wenn man behauptet, die Ukraine wird die Krim in diesem Krieg nicht zurückerobern. Schon deshalb, weil wir an einem Punkt des Waffenganges angelangt sind, an dem „der Kraftaufwand so groß wird, daß der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann.“ Hinzu kommt, dass der eine den „anderen nicht ganz wehrlos machen“ kann und damit „die Motive zum Frieden in beiden Teilen“ steigen könnten (Clausewitz).

Westliche Partner der Ukraine betreiben eine Politik, die sich zwischen Bestrafungs- und Siegesideologie bewegt. Mittels Sanktionen Russland bestrafen und durch westliche Waffenlieferungen besiegen. Beides folgt den von der Ukraine verkündeten Narrativen. In dem Zusammenhang gefällt sich der Mainstream in dem Postulat: „Wenn kein Sieg über Russland, dann ist Europa das nächste Opfer.“ Jeder, der die Lage anders sieht, wird als Populist, Phantast, Rechtsradikaler oder als Putinfreund verschrien. Es wird höchste Zeit, die augenblickliche Politik realistischer zu hinterfragen und sich endlich vom Wunschdenken zu verabschieden.

Hat der Westen eine glaubhafte Strategie im Umgang mit Russland? Mir will scheinen, nein. Weder Bestrafungs- noch Siegesideologie sind eine dauerhafte strategische Ausrichtung. Und das Schreckensszenario eines russischen Angriffs auf Europa kann nur glauben, wer sowohl die ökonomischen als auch konventionell-militärischen Mittel Russlands maßlos überschätzt. Außer man provoziert Russland dermaßen, dass es in eine ausweglose strategische Lage kommt.

Welche Ziele könnte Russland im gegenwärtigen Konflikt verfolgen?

Erstens will es seine Interessen als Großmacht anerkannt und respektiert wissen. Zweitens soll die Ukraine nicht Mitglied der NATO werden. Drittens dürfen keine NATO-Truppen in der Ukraine stationiert werden. Viertens möchte es die Anerkennung der Gebiete Krim, Donezk und Lugansk als Bestandteile der Russischen Föderation durchsetzen.

Welche Ziele lassen sich für die Ukraine kenntlich machen?

Erstens will sie den Erhalt ihrer staatlichen Existenz gesichert sehen. Dazu ist sie bereit, schon jetzt die NATO immer direkter in den Krieg hineinzumanövrieren. Zweitens will sie eine Mitgliedschaft in NATO und EU. Drittens strebt sie die Rückerlangung der von Russland eroberten Gebiete an.

Europa selbst zeigt ein uneinheitliches, zerrissenes Bild in seiner Russland-Ukraine-Politik. Bestrafen und Waffen liefern ist keine strategische Europaausrichtung. Dazu jetzt noch Deutschland, das sich wirtschaftlich wie politisch zu verlieren beginnt. Es taumelt in eine Verdrossenheitswahl mit ungewissem Ausgang, zumindest, was klare politisch strukturierte Mehrheiten verspricht.

Über allem schwebt, wie ein böser oder guter Geist, Donald Trump. Es läuft ein Wettlauf mit der Zeit. Russland will bis zur Ära Trump soviel erobern wie möglich und das Kursker Gebiet zurückgewinnen. Die Ukraine will möglichst alles Bisherige behalten. Keiner weiß, wie Trump beim Russland-Ukraine-Krieg politisch-strategisch agieren wird. Aber eins weiß man – er wird handeln. Ein erstes Achtungszeichen war sein Aufruf zum sofortigen Waffenstillstand.