Einszweidrei, im Sauseschritt läuft die Zeit; wir laufen mit“, reimte einst Wilhelm Busch. Als der NATO-Gipfel in Washington – zum 75. Jahrestag der Gründung des Paktes dortselbst – am 11. Juli 2024 beendet war, schien es so, als müsse sofort ein wichtiges Ereignis resümiert werden. US-Präsident Joe Biden hatte alles in allem würdig präsidiert, auch wenn er wieder Aussetzer hatte: Ukraines Präsident Selenski hatte er mit Russlands Putin verwechselt, an anderer Stelle den Namen seines Verteidigungsministers Lloyd Austin vergessen, er sprach ersatzweise vom „schwarzen Mann“. Gleichwohl galt Biden als Präsidentschaftskandidat der Demokraten als gesetzt, es schien alles auf einen neuerlichen Wahlkampf zwischen Biden und Donald Trump hinauszulaufen.
Seither ist in kürzester Zeit vieles geschehen, das die Bilder vom Gipfel überlagert. Am 13. Juli schoss in der Stadt Butler in Pennsylvania ein Attentäter von einem Hausdach aus auf Trump und traf ihn am Ohr, ein Zuschauer wurde erschossen, zwei schwer verletzt. Der Täter wurde von Sicherheitskräften getötet. Das FBI stellte später fest, der hatte einige Tage zuvor im Internet recherchiert, wie weit der Mörder von John F. Kennedy 1963 von seinem Opfer entfernt war. Der Parteitag der Republikaner in Milwaukee (15.-18. Juli), der Trump mit großem Pomp zum Präsidentschaftskandidaten kürte, zelebrierte dessen Überleben als „göttliches Wunder“.
Nach damaligen Umfragen würde Trump die Wiederwahl schaffen, der gebrechliche Biden eher nicht. In dieser Lage wuchs der Druck aus der Demokratischen Partei, zuletzt auch etlicher Honoratioren, wie Ehepaar Clinton oder Ex-Präsident Obama, auf Biden, seine Kandidatur zurückzuziehen. Das lehnte er zunächst entschieden ab, schien dann aber ein Einsehen zu haben und erklärte am 21. Juli seinen Rückzug aus dem Rennen um die Präsidentschaft. Drei Tage später hielt er vom Weißen Haus aus eine Rede an die Nation, in der er meinte, es ginge bei den Wahlen im November um das Schicksal der Demokratie in den USA. Die Frankfurter Rundschau stellte die Frage, ob dies eine „Grabrede“ war oder Biden über sein „Vermächtnis“ sprach. Jedenfalls scheint es nun auf eine Kandidatur der bisherigen Vizepräsidentin Kamala Harris hinauszulaufen, die bis vor kurzem meist als politisch unfähig und nicht wähler-attraktiv angesehen wurde. Allerdings ist sie mit 59 Jahren deutlich jünger und nun Trump mit 78 der ältere. Für alle, die vor einer erneuten Trump-Präsidentschaft große Ängste entwickeln, scheint neue Hoffnung aufzukeimen.
Nachdem die unmittelbaren Betrachtungen zu dem NATO-Gipfel vor allem unter dem Blickwinkel standen, welche Figur Biden macht, kann man sich nun stärker den augenscheinlichen Ergebnissen zuwenden. Zunächst reihten sich die Akteure in dem Auditorium auf, in dem vor 75 Jahren der NATO-Vertrag unterzeichnet wurde. Es wurde ein alter Dokumentarfilm des damaligen Aktes gezeigt, eine Militärkapelle sorgte für pathetische Stimmung und der scheidende NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg jubelte, die NATO sei „die erfolgreichste Allianz in der Geschichte“ und nun auch „die, die am längsten gehalten hat“. Biden las seine Rede vom Teleprompter ab, was ihm ohne Versprecher und Patzer gelang, und hängte Stoltenberg anschließend die „Freiheitsmedaille des Präsidenten“, eine der höchsten zivilen Auszeichnungen der USA, um den Hals, was ebenfalls ohne Patzer klappte. Die Frage, was es im Sinne der Symbolpolitik bedeutet, wenn der Generalsekretär einer solchen Organisation von 32 Staaten von dem US-Präsidenten solcherart belobigt wird, wurde in den Großmedien weder gestellt noch beantwortet.
Militärisch gesehen stand wieder der Ukrainekrieg im Zentrum. Die bereits zuvor vereinbarten 40 Milliarden Euro Militärhilfe für das nächste Jahr wurden auf dem Gipfel bestätigt; geliefert werden nun auch F-16-Kampfflugzeuge und zusätzliche Luftabwehrsysteme. Dem Ansinnen der Kiewer Regierung, dem NATO-Beitritt in der Tat näherzukommen, folgte der Gipfel nicht. Ausweichend hieß es, der Weg zur NATO-Mitgliedschaft sei „unumkehrbar“ und die derzeitigen Hilfsmaßnahmen würden „eine Brücke bilden“ zu späterer Mitgliedschaft – wann immer die erfolgen sollte. Zur Koordination der Unterstützung für die Ukraine wird es künftig eine NATO-Einrichtung im deutschen Wiesbaden geben; bisher wurde dies durch die USA geleistet.
Vordergründig will man damit die NATO-Unterstützung „Trump-fest“ machen. Tatsächlich ist es ein nächster Schritt zur „Europäisierung“ des Ukraine-Krieges – im Falle einer drohenden Niederlage der Ukraine müssten die Hilfen gesteigert werden, um die Niederlage abzuwenden. Die finnische Zeitung Ilta-Sanomat meinte: „Die entscheidende Frage wurde ausgeklammert“. Ein paar Kampfflugzeuge und ein paar Piloten mit Schnellkursen würden „den Krieg nicht entscheiden oder Putin aufhalten können“. Der Krieg werde an der Front mit Artillerie, Munition und Soldaten entschieden. „Und genau das ist die Frage, die die Nato und ihre Mitgliedsstaaten nicht beantworten wollen: Wann ist der Punkt gekommen, an dem der Westen gezwungen wäre, eigene Truppen in den Krieg zu schicken?“ Aber vielleicht ist das ja auch der Punkt, den die NATO-Staaten in ihrer Mehrheit nicht erreichen wollen. Aus rumänischer Sicht wurde moniert, dass es keine klaren Zusicherungen für Moldova gibt. Offenbar überfordert bereits die Ukraine-Front die NATO.
Die Beschreibung der Weltlage wurde mit der offiziellen Gipfel-Erklärung weiter verschärft, die Verfeindung gegenüber China weiter vorangetrieben. Russland bleibe die „größte und direkte Bedrohung“ der Sicherheit der NATO. China wird jetzt nicht nur vorgeworfen, eine „systemische Herausforderung“ des Westens zu sein, sondern vor allem, der entscheidende Unterstützer Russlands im Ukraine-Krieg zu sein. In dieser Gruppierung werden auch Belarus, Nordkorea und der Iran genannt.
Vor einiger Zeit wurde, zumal in Hinsicht auf die Geopolitik der USA unter Donald Trump, noch davon ausgegangen, dass im Dreiecksverhältnis zwischen den USA, China und Russland letzteres auf die Seite der USA gezogen werden sollte. Jetzt geht General a.D. Harald Kujat davon aus, dass die USA China als ihren einzigen Konkurrenten ansehen und beabsichtigen mit dem Ukraine-Krieg „Russland, den zweiten geopolitischen Rivalen, politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich auf die Auseinandersetzung mit China konzentrieren können“. (Nachdenkseiten, 23.07.2024)
In diesem Sinne hatten an dem NATO-Gipfel neben den Staats- bzw. Regierungschefs der Mitgliedsstaaten sowie der Ukraine auch jene Japans, Südkoreas, Australiens und Neuseelands teilgenommen. Die europäischen NATO-Staaten sollen in das von den USA angestrebte indo-pazifische Gefüge eingebunden werden, um dort, wie in Europa gegen Russland, gegen China eingesetzt zu werden. Das dürfte eine Konstante US-amerikanischer Geopolitik sein, wie immer der nächste Präsident heißt. Für eine solche Welt-Auseinandersetzung dürften die Kräfte des globalen Wertewestens jedoch nicht mehr ausreichen. Auch wenn die Gefahr wächst, dass aus dem Ukraine-Krieg ein europäischer Krieg wird.
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