Es ist der Abend des Beginns der Fußball-Europameisterschaft mit dem Eröffnungsspiel Deutschlands gegen Schottland. Im Schloss Schönhausen, gelegen in Pankow, der Autor wohnt nur einen Steinwurf entfernt, liest Volker Braun aus seinem jüngsten Buch, dem Essayband „Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“. Der Festsaal ist trotz des Straßenfegers Fußball bis zum letzten Platz mit erwartungsvollen Besuchern gefüllt, weitere Stühle werden nachträglich hineingetragen.
Die Berliner Buchpremiere wird moderiert von Christoph Links, der die Topographie der drei Texte einleitend umreißt: Eurasien von China über die Leipziger Tieflandebene bis zum Atlantik an Portugals Küste: Versuch, mich auf einer Landmasse zu bewegen; Berliner Tiergarten und La Palma, eine der Kanarischen Inseln: Versuch, mich mit den Füßen am Boden zu halten; der Schlosspark Schönhausen – also der Leseort gerade dieses Abends – in dem Text der dem gleichnamigen Buch den Titel gibt.
Für Braun ist die aktuelle Welt vollkommen unzivilisiert, dennoch ist die Lesung in einer zivilisierten Umgebung möglich. Das Schloss war die Sommerresidenz der preußischen Königin Elisabeth Christine, der faktisch vom preußischen Hof ausgeschlossenen und nach Schönhausen verbannten Gemahlin von Friedrich II. Viel später diente das Schloss der jungen DDR als Amtssitz des ersten (und einzigen) Präsidenten Wilhelm Pieck, anschließend als Gästehaus Niederschönhausen für hochrangige Gäste der Regierung jenes Staates, den Volker Braun nicht nur an diesem Abend – angelehnt an Peter Ruben oder Michael Brie? – als eine frühe, rohe Form des Sozialismus bezeichnet.
Auf die Frage, wann die Texte entstanden seien, antwortet Braun, „innerhalb eines Jahres vor Pandemie und Krieg“. Der erste im Buch wurde am 24. Februar 2022 beendet. Es ist der einzige, der einen Nachtrag erhält: „Jetzt scheint ein Atlantik Eurasien zu trennen, vorgerückt bis an die russischen Grenzen: worauf der großrussische Haltsmaul erwacht und in der Ukraine Geschichte diktiert. Das fährt wie ein Brandsatz in meinen Text, […]. Das Denken scheint stillzustehen. Der Weltkomputer hat sich aufgehängt und verlangt ein Reset.“
Ursprünglich verfasste Braun den das Buch eröffnenden Essay für Studenten im Rahmen seiner Liliencron-Dozentur für Lyrik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Er beginnt mit der „Rede zur Poesie“ des argentinischen Schriftstellers Sergio Raimondi, die dieser 2019 in Berlin hielt und die für Braun von außerordentlicher Bedeutung ist. „Wie muss die Kunst beschaffen sein,“ fragt sich Braun mit Adorno, „um dem Kapitalismus gewachsen zu sein?“ Über Raimundis „Ode an den Pazifischen Ozean“ nähert sich Braun China: „Vom versunknen Kommunismus ist dort ein (riesiger) Rest.“ Aber der Kommunismus versackt dort im Kapitalismus: „Es ist ein Weltexperiment, in dem Feuer und Wasser miteinander reagieren.“ Braun weiter: „Es ließe sich fragen, Adorno stellt die Frage nicht, wie eine Dichtung beschaffen wäre, die etwas anderm, Gerechterem, die einer Alternative gewachsen ist. Das scheint eine irreale Frage, nachdem das Gespenst verschwunden ist, das in Europa umging.“ Über Hegel und diverse Orte des eurasischen Raums kommt Braun zu dem Schluss: „Natürlich wird K verkehrt wiederkehren. In seinen frühen rohen Versuchen eine blutige Möglichkeit, wird er allmählich bloße Notwendigkeit. Die wissenschaftlichere Politik, die der Klimawandel, die Flüchtlingszüge, der Virenfeldzug erzwingen, ruft K auf den Plan […].“ Der Kommunismus aber hat keinen Namen mehr, so Braun.
Wir können nicht „am Strick einer Macht gehn, die eben Arabien ins Chaos bombte, um sich gegen China in Stellung zu bringen“. Am Ende sieht Braun in der Poesie ein Antidot.
Der zweite Text ist ein leichterer, wie Christoph Links meint, was ich aus meiner Sicht nicht bestätigen kann. Der Mann aus Los Quemados (gemeint ist Wolfgang Fritz Haug, ein marxistischer Philosoph; mit der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Das Argument arbeitet Volker Braun seit Jahren zusammen) führt einen fiktiven, geträumten Dialog mit dem „ICH“ des Textes im Tiergarten wie auf den Kanaren. Haug, als Enzyklop bezeichnet, wiederum hat eine „Schülerin“, die sich der Letzten Generation angeschlossen hat: Sophie mit „abgelederten Flossen“. Zwischen den drei Personen entspannt sich eine Diskussion über die „Klimakrise“. „ER“ (Haug): „Das Klima kennt keine Krise. Es wandelt sich Jahrhunderttausende. Die Erderwärmung ist die Kapitalismuskrise.“ Eine Lösung erscheint nur dann möglich, wenn der Nationalismus, „das schlimmste Übel der Völker“, überwunden geworden sein wird.
Der immens autobiographisch geprägte dritte Text des Autors, der unlängst seinen 85. Geburtstag feierte, besticht durch seine poetische und inhaltliche Dichte. Das Leben des Schriftstellers wird besichtigt: „Urszene. Er wuchs zwischen Feldern und Trümmern auf. Die Natur stand festlich da, während die Stadt eine Wildnis war.“ Braun wurde 1939 in Dresden geboren, erlebte den Feuersturm der Bombennächte und wuchs in den „dresdner Ruinen“ auf. Naturgewalt und Menschennatur bestimmen seine Entwicklung vom Enttrümmerer über den Drucker zum Arbeiter im Tagebau bis hin zum Studenten der Philosophie in Leipzig.
Auch die Gewalt der Liebe prägte sein Leben vom Jugendlichen bis zum reifen Mann.
Schließlich der Wirbel der Worte, der ihn zum Dichter werden ließ. Nicht nur im Osten Deutschlands, auch „drüben (wie man sagte, als man sich für das Diesseits hielt)“, wurde er beargwöhnt.
Die Höhere Gewalt beschreibt in einem großartigen äußersten Extrakt auf wenigen Seiten das politische und dichterische Leben. Ein Satz als Beispiel: „Als sie aber das Volk waren, und gehandelt hatten und die Runden Tische eröffnet, alle Leitungen neu gewählt und die Losungen wahrgeworden, war die Geschichte zuende und die bewaffnete Währung zog ein und sie waren enteignet und der Golfkrieg begann.“
Die folgende Beschreibung eines Kampfs führt den Dichter, „der äußerlich ruhig sein widersprüchliches Wesen treibt“, in den Schönhausener Schlosspark, „im Umgang (in der Wirklichkeit) kuchenweich, aber wirklich (auf dem Papier) hartes Brot“. Warum ist er in der DDR geblieben? „Er hat auch sich Gewalt angetan, aus Trotz gegen die Misshandlung, aus Unlust am Verrat.“ Sein heutiges Résumé: „Ja, früher hätte man die Welt verlassen, die Zelte abbrechen können. Jetzt gibt es keine Anderwelt mehr, wir sind im Überall.“
Wie schreiben? Wie als Künstler arbeiten? Das sind Fragen, denen Braun für die Gegenwart nachgeht, auch unter Zuhilfenahme fiktionaler Gespräche. Bundespräsidentenkandidat Peter Sodann und Wilhelm Pieck tauchen auf, der eine telefonisch, der andere mit der preußischen Königin im Schlosspark, „Arm an Arm und korpulent beide“, spazieren gehend.
Braun ist nicht nur ein außerordentlich erfolgreicher Dramatiker und Lyriker, sondern auch Verfasser bedeutender Prosawerke und Essays. Beispielhaft seien nur wenige Titel – subjektiv erinnernd – genannt: Provokation für mich, Die Kipper, Es genügt nicht die einfache Wahrheit, Unvollendete Geschichte, Hinze-Kunze-Roman, Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie, Die Übergangsgesellschaft, Langsamer knirschender Morgen.
Man müsste lange suchen, um herauszufinden, welchen bedeutenden deutschen Literaturpreis der Autor nicht bekommen hätte. In der DDR wurde er von mehreren Verlagen herausgebracht, um die Last der Druckgenehmigungen zu verteilen, wie Braun sagt: Mitteldeutscher Verlag, Henschel Verlag, Aufbau Verlag, Reclam Verlag. Im „Westen“ ist es seit 1966 und bis heute vornehmlich der Suhrkamp Verlag. Entdeckt wurde er für diesen durch Siegfried Unseld nach der legendären Lesung von Gedichten junger Lyriker in der Ostberliner Akademie der Künste, die Stephan Hermlin 1962 verantwortete.
Am Ende des Abends in Schönhausen liest Braun einige eigene Gedichte, darunter eines über Zinédine Zidane, den französischen Fußballprofi und einen der besten Spieler der Geschichte. Er thematisiert den berühmten Kopfstoß im Finale der Weltmeisterschaft von 2006, als Zidane den Italiener Marco Materazzi in der Verlängerung nach einer Beleidigung mit einer Kopfnuss zu Boden streckte und dafür die Rote Karte erhielt.
Das Publikum wird von Volker Braun in den Abend entlassen mit der Bemerkung, Deutschland werde schon die erste Viertelstunde des bereits angestoßenen Spiels überstehen. Hier irrte der Autor. Es war, wie sich später herausstellte, nicht nur ein Überstehen, sondern ein überragendes Auftaktspiel mit sechs deutschen Toren, fünf ins schottische Netz und eins ins eigene.
Die Lektüre der Essays verlangt einen für knapp einhundert Seiten voll konzentrierten Leser. Der aber sicher sein kann, viele Denkanstöße zu gewinnen. Das Gute ist, dass beim zweiten Lesen die Gewinne zunehmen werden und Brauns feine Ironie größere Entfaltung findet.
Volker Braun: Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben, Suhrkamp, Berlin 2024, 100 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: Essays, Gewalt, Jürgen Hauschke, Kommunismus, Literatur, Schloss Schönhausen, Volker Braun