27. Jahrgang | Nummer 13 | 17. Juni 2024

An der Kante zum atomaren Abgrund

von Sarcasticus

Zwei Kriege gegen Russland haben wir Deutsche in hundert Jahren vom Zaun gebrochen;
eigentlich müssten wir wissen, wie dieser Gegner kämpfen und leiden kann. […]
Das wird beim dritten Mal nicht anders sein.

Thomas Fasbender

Berliner Zeitung

 

Im Februar hatte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron geäußert, dass er die Entsendung westlicher Bodentruppen in den Ukraine-Krieg nicht ausschließe. Medien zufolge rannte er damit in Estland und Litauen offene Türen ein. Anfang Mai bekräftigte Macron seine Position in einem Interview mit dem britischen Economist. Zwischenzeitlich und im Gegensatz zum Weißen Haus hatte sich auch der Vorsitzende des US-Generalstabs, General Charles Q. Brown Jr., im Brüsseler NATO-Hauptquartier in diesem Sinne geäußert.

Angesichts der gravierenden Unterlegenheit Russland gegenüber der NATO im Bereich der konventionellen Streitkräfte (siehe ausführlich Blättchen 15/2022) ließ die Retourkutsche Moskaus nicht lange auf sich warten. Am 6. Mai begann im südlichen, an die Ukraine grenzenden Militärbezirk Russlands, ein Manöver für den Kampfeinsatz taktischer Atomwaffen – „eine Reaktion auf die […] Rhetorik westlicher Länder über die Möglichkeit der Entsendung von Militäreinheiten in die Ukraine“, wie das russische Staatsmedium RT DE mitteilte.

Weiter hieß es in dem Beitrag am 24. Mai 2024: „Der Algorithmus für solche Manöver war zu Sowjetzeiten gut bekannt. Es gibt mehrere Stufen. Zunächst werden die nuklearen Sprengköpfe von den Depots direkt zu den Truppen gebracht. Anschließend folgen das Andocken, die Überprüfung und die technische Konfiguration der Sprengköpfe, die sich bereits auf den Trägern befinden. Dann – Ausarbeitung des Mechanismus für die Genehmigung durch den Oberbefehlshaber, Entriegelung der Ladungen, Einführung von Flugmissionen und praktischer Einsatz.“

An konkreten nuklearen Kampfmitteln wurden aufgeführt:

– ein Gefechtskopf für bodengestützte ballistische Raketen vom Typ Iskander (Reichweite bis 500 Kilometer); Sprengkraft: zwischen fünf und 50 Kilotonnen;

– ein Gefechtskopf für luftgestützte Hyperschall-Raketen vom Typ Kinschal (Reichweite bis 2000 Kilometer); Sprengkraft ab drei bis fünf und bis zu 100 Kilotonnen;

– ein Gefechtskopf für seegestützte Marschflugkörper vom Typ Kalibr (Reichweite bis 2500 Kilometer); Sprengkraft: von 50 bis 200 Kilotonnen;

– ein Artilleriesprengkopf für sämtliche russischen Geschütztypen vom Kaliber 152 Millimeter; Sprengkraft: 2,5 Kilotonnen, sowie ähnliche Munition für 240 Millimeter-Mörser vom Typ Tjulpan.

Zum Zweck des Manövers wurde mitgeteilt: „Das Signal Moskaus an die NATO-Führung ist unmissverständlich: Mischt euch nicht ein! Die Übungen der nicht-strategischen Nuklearstreitkräfte sind eine klare Demonstration dessen, was mit den Militärs der westlichen Länder passieren wird, wenn sie sich auf eine direkte bewaffnete Konfrontation mit Russland einlassen.“

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In der Nacht vom 22. zum 23. Mai 2024 haben ukrainische Drohnen die Radarstation Armawir in der südwestlichen russischen Region Krasnodar angegriffen und die Anlage mindestens zum Teil zerstört. Das ist nicht irgendein Radarsystem, sondern Teil des russischen Frühwarnsystems zur Erkennung von Angriffen mit ballistischen Interkontinental-Raketen (ICBMs) seitens der USA.

Der russische Senator und ehemalige Chef von Roskosmos, Dmitri Rogosin, kommentierte: „Wir nähern uns […] nicht nur dem Abgrund, sondern stehen bereits direkt an der Kante, jenseits derer, wenn der Feind bei solchen Aktionen nicht gestoppt wird, ein unumkehrbarer Zusammenbruch der strategischen Sicherheit der Atommächte beginnen wird. Der Angriff auf Armawir erfolgte nur wenige Tage nach Beginn der taktischen Nuklearübungen Russlands.“

Zu den Folgen der durch den Angriff auf Armawir verursachten Schäden meint der USA-Experte Theodore Postol, emeritierter Professor für Wissenschaft, Technologie und nationale Sicherheit am Massachusetts Institute of Technology (siehe Blättchen 4/2019 und 5/2019): „Das satellitengestützte russische Frühwarnsystem ist sehr begrenzt und kann die blinden Flecken, die durch die Beschädigung des Radars entstanden sind, nicht ausgleichen. Die atlantischen, pazifischen und nördlichen Radarwarnkorridore sind wichtiger, und die Russen haben auch Radaranlagen in Moskau. Die Radaranlagen in Moskau erkennen eine Bedrohung jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt, was zu noch kürzeren Warn- und Entscheidungszeiten führt und damit die Wahrscheinlichkeit eines katastrophalen Unfalls erhöht. Die Kommandeure der strategischen Raketentruppen, die im Dienste der politischen Führung stehen, dürften äußerst besorgt sein und keine andere Wahl haben, als diese Situation als sehr ernst zu betrachten. Sie werden mit ziemlicher Sicherheit ihre Nuklearstreitkräfte auf einer höheren Alarmstufe betreiben, was die Wahrscheinlichkeit von Unfällen, die zu einem ungewollten globalen Atomkrieg führen könnten, weiter erhöhen wird.“

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Am 27. Mai 2024 wiederholte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor der Parlamentarischen Versammlung der NATO in Sofia seine Auffassung, dass bisherige Beschränkungen der USA und anderer westlicher Länder bezüglich des Einsatzes von ihnen an die Ukraine gelieferter Waffen gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet aufgehoben werden sollten.

Am 28. Mai 2024 kommentierte Russlands Präsident Wladimir Putin während seines Staatsbesuchs in Usbekistan die Einlassungen Stoltenbergs folgendermaßen: „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was der NATO-Generalsekretär damit sagen will. […] Wenn er über die Möglichkeit von Angriffen auf russisches Territorium mit Langstrecken-Präzisionswaffen spricht – als jemand, der einer militärpolitischen Organisation vorsteht, obwohl er wie ich ein Zivilist ist, sollte er doch wissen, dass Langstrecken-Präzisionswaffen nicht ohne Weltraumaufklärung eingesetzt werden können. Das ist das Erste. Zweitens: Die endgültige Zielauswahl und der sogenannte Flugauftrag kann nur von hochqualifizierten Spezialisten auf der Grundlage dieser Aufklärung, der technischen Aufklärung, erfolgen. Bei einigen Angriffssystemen, wie beispielsweise Storm Shadow, können diese Zuweisungen, die Flugaufträge, automatisch erfolgen, ohne dass ukrainische Soldaten dabei sind. Wer macht das? Diejenigen, die diese Systeme herstellen, und diejenigen, die sie angeblich der Ukraine zur Verfügung stellen. […] Aber diese Aufgabe wird nicht von ukrainischen Soldaten vorbereitet, sondern von Vertretern der NATO-Länder. […] Das ist eine ernste Sache, und wir beobachten das natürlich sehr genau. […] Überhaupt kann diese ständige Eskalation zu ernsten Konsequenzen führen. Wenn diese schwerwiegenden Folgen in Europa eintreten, wie werden sich die USA verhalten, wenn man unsere strategische Parität bei den Waffen bedenkt? Schwer zu sagen.
Wollen sie einen globalen Konflikt? […] Wir werden sehen, wie es weitergeht.“

Weitergegangen ist es bereits drei Tage später: Am 31. Mai 2024 informierte der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, die Öffentlichkeit darüber, dass der Ukraine die Erlaubnis, von Deutschland gelieferte Waffen auch gegen militärische Ziele in Russland einzusetzen, erteilt worden sei. (Zunächst beschränkt auf an die Region Charkiw angrenzende russische Gebiete.) Diese Freigabe erfolgte kurz nach einem Plazet auch der USA.

Bundeskanzler Olaf Scholz drehte anschließend beim Katholischen Kirchentag in Erfurt eine weitere Runde mit seiner tibetanischen Gebetsmühle: „Wir müssen den großen Krieg vermeiden.“ Doch die letztliche Entscheidung darüber, welcher Schritt der westlichen Salamitaktik einer immer weiteren Eskalation den Rubikon zum Dritten Weltkrieg schließlich überschritten haben wird, liegt leider weder in Berlin noch in Paris. Nicht einmal in Washington …

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Eine Reihe von NATO-Staaten haben der Ukraine die Lieferung amerikanischer F-16-Kampfjets zugesagt. Die Niederlande wollen 42 Maschinen schicken, Dänemark 19 und Belgien 30 Kampfflugzeuge. Die dänische Premierministerin Mette Frederiksen hat im Mai angekündigt, dass die ersten F-16 in den kommenden Monaten in der Ukraine eintreffen würden.

Das Kampfflugzeug ist US-seitig als Kernwaffenträger zertifiziert. Dazu äußerte der russische Außenminister Sergej Lawrow am 30. Mai: „Die Lieferung amerikanischer F-16-Kampfjets wird die Situation an der Kontaktlinie nicht ändern. Diese Flugzeuge werden zerstört werden, genau wie andere Waffentypen, die von NATO-Ländern an die Ukraine geliefert werden. Gleichzeitig sollten wir berücksichtigen, dass F-16-Kampfflugzeuge seit langem das Haupttransportmittel im Rahmen der so genannten gemeinsamen Nuklearmissionen der NATO sind. Daher können wir die Lieferung dieser Systeme an das Kiewer Regime nur als eine bewusste Signalmaßnahme der NATO im Nuklearbereich betrachten. Sie wollen uns zu verstehen geben, dass die Vereinigten Staaten und die NATO bereit sind, in der Ukraine buchstäblich alles zu tun. Dennoch vertrauen wir darauf, dass die russisch-weißrussischen Übungen, die in diesen Tagen stattfinden, um den Einsatz nicht-strategischer Atomwaffen zu üben, unsere Gegner aufklären und sie an die katastrophalen Folgen eines weiteren Fortschreitens auf der nuklearen Eskalationsleiter erinnern werden.“