Stift und Papier hatte ich zu Hause gelassen, denn ich war ohne jegliche journalistische Absicht ins vormalige ND-Gebäude gezogen. Die Linke hatte in hochsommerlicher Hitze zur Diskussion eingeladen, ob die Partei noch zu retten sei. Das wollte ich mir anhören. Als ich dann später die Berichte in den Zeitungen las, konnte ich nicht anders: Nun musste ich doch was schreiben. Ich hatte und habe nichts gegen subjektive Wahrnehmung und Interpretation, allerdings stört mich prinzipiell der journalistische Blick durch einen Tunnel oder distanziert-unscharfe Erzählung, um bestimmte Lesergruppen nicht zu verschrecken.
Dieser Abend bekam nicht allein dadurch einen historischen Anstrich, weil spontan und unvermittelt – Publikum wie Podium waren bereits im Aufbruch begriffen – im hinteren Teil des Saales jemand die „Internationale“ anstimmte und die meisten einfielen. Wann passiert so was schon mal bei solchen Veranstaltungen? Nun, die Völker hörten nicht die Signale, wohl aber jene, die gekommen waren. Vierhundert sollen es gewesen sein, schrieb die junge Welt, „meist ältere Menschen“. Stimmt. Der anwesende Philosophieprofessor Hermann Klenner ist 97, das Ex-Politbüromitglied Siegfried Lorenz 92, der Ex-Präsident des 1. FFC Turbine Potsdam Rolf Kutzmutz und Inge Pardon, Ex-Chefin des Zentralen Parteiarchivs, sind ebenfalls schon Mitte Siebzig, und der Bart von Robert Gadegast, Geschäftsführer des Offenen Wirtschaftsverbandes von kleinen und mittleren Unternehmen, Freiberuflern und Selbstständigen (OWUS), ist auch schon ganz weiß. Helga Labs, die einstige Pioniervorsitzende und Gewerkschaftschefin ist jenseits der achtzig, und Michael Mäde, vormals Kopf der jW-Ladengalerie, hat sich auch vom Krankenlager hierher geschleppt. Und wie stets ist Rudolf Denner, obgleich jenseits der achtzig, mit der Kamera unterwegs. Der rührige Sprecher des Freundeskreises des Palastes der Republik dokumentiert Veranstaltungen der Partei, seit es diese gibt, und der Ex-Vizegeneralstaatsanwalt der DDR, Hans Bauer, fehlt natürlich auch nicht. Auch er schon 82 …
Sie alle sind Basis, sind die letzte SED-Generation, die „ihre“ Partei nicht endgültig vor die Hunde gehen lassen möchte.
Die nonverbale Botschaft des Abends saß vorn. Vier Granden aus der Gründungsphase, vier Genossinnen und Genossen aus der SED, die damals und später dafür gesorgt haben, dass es die Partei noch immer gibt. Ausschließlich Ostdeutsche natürlich, und keiner aus der aktuellen Parteiführung. Sah man mal vom moderierenden Tobias Bank ab, dem Bundesgeschäftsführer. Engagiert und aufgeschlossen, aber noch ein wenig unerfahren: Man eröffnet eine Diskussionsveranstaltung nicht mit der Drohung, dass nach neunzig Minuten Schluss sei. Bank muss seinen Platz zwischen den Stühlen noch finden.
Ellen Brombacher, im Herbst ’89 Kultursekretärin in der Berliner SED-Bezirksleitung und seit Jahren Kopf der Kommunistischen Plattform, hatte diese Runde initiiert, weshalb sie auch als erste sprach. Grundsätzlich und prinzipiell. Neben ihr Dietmar Bartsch, in der Wendezeit Aspirant an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Moskau und seit Jahren Fraktionschef der Linken im Bundestag. Er sprach ebenfalls grundsätzlich und zur Sache. Sodann Gesine Lötzsch, in den frühen Neunzigern PDS-Fraktionschefin im Berliner Abgeordnetenhaus und zwischen 2002 und 2005 nebst Petra Pau die einzige Vertreterin der Partei im Bundestag, die zudem sechs Mal ihren Wahlkreis in Lichtenberg gewann. Und schließlich Gregor Gysi. Letzter SED- und erster PDS-Chef. Ohne ihn, da beißt die Maus keinen Faden ab, würde es diese Partei, die sich nun Linke und gesamtdeutsch nennt, heute nicht mehr geben. Dass er aus verschiedenen Gründen, die ich durchaus verstehe, wenn nicht sogar teile, nicht mehr von allen innerhalb und außerhalb der Partei wie einst geschätzt wird, nehme ich zur Kenntnis. Nee, ein Marxist isser nich, aber ein integrer, kluger Mann, eine Autorität, vielleicht die letzte verbliebene. Ihn kollektiv in den Senkel zu stellen, wie es der jW-Reporter in seinem Bericht tat, halte ich denn doch für überzogen. Die Seite 3 der jungen Welt bestand im Wesentlichen aus Elogen auf die mir – nicht minder sympathische – Ellen Brombacher. „Die anderen Podiumsteilnehmer äußerten sich überwiegend weniger grundsätzlich.“
Das war nun wirklich strömungspolitischer Unsinn! Und auch sprachlicher Quark. „Überwiegend weniger.“ In gewisser Weise der Herablassung der Springer-Onlinepostille Welt+ ziemlich nah. „Alle auf dem Podium halten die Nato für böse“, hieß es dort. „Alle“ traf zu.
Zwar stand auf der roten Rückwand „Die Linke stark machen!“, aber die klare Botschaft der Alten, die vor der – vermutlich aus dem Bundestag kurzzeitig ausgeliehenen Dekoration – saßen, lautete: Zurück zu den Wurzeln! Zurück zur konsequenten Friedenspartei, zurück zur Kümmerer- und Sozialpartei, zurück zur ostdeutschen Herkunft. Gysi: Zurück auch zum Internationalismus. Und unisono: Keine Spaltung! Alle beschworen die Gemeinsamkeit, mit der man die schweren Angriffe auf die Partei im ersten Jahrzehnt überstanden habe. Finanz- und Steuerskandal, Hungerstreik und juristische Auseinandersetzungen, Verleumdungen, politische und mediale Denunziationen … Das habe man im Zusammenhalt überlebt und nie heimlich Informationen der Presse durchgesteckt, um einzelne Genossen öffentlich zu desavouieren. Das sei mehr als schlechter Stil, heute aber die Regel. Warum und seit wann, will man fragen, aber die Runde ist noch nicht geöffnet. Später wird Gysi auf die Frage nach einer möglichen Parteineugründung darauf indirekt antworten: Da kommen auch immer komische Typen herein. Spaltpilze, Profilneurotiker, Wichtigtuer und Handlanger der Geheimdienste. Das sagte Gysi natürlich nicht. Aber vielleicht dachte er’s und dabei an 2007.
Nicht aus nostalgischen Gründen wurde der Geist der Vergangenheit auf dem Podium beschworen, sondern um Mut zu machen, dass auch diese Existenzkrise der Partei – nicht die erste in den verflossenen 33 Jahren – überwunden werden könnte. Darin sah ich das Besondere jenes Abends, was ihm etwas historischen Glanz verlieh. Ob der gesäte Optimismus Frucht trägt, werden wir erst in Jahren wissen.
Vierzehn Tage zuvor hatte die Saarländerin Sahra Wagenknecht im Westen Berlins um Zustimmung geworben, jetzt taten es im Osten Berlins die politischen Schwergewichte aus dem Osten. Im Gegensatz zu ihrer Mitstreiterin artikulierten die vier jedoch, wohin die Reise mit der Partei gehen müsse. Eine Abspaltung (nicht Spaltung!) wäre tödlich. Man verwies auf das Schicksal der einst starken kommunistischen Parteien in Italien, Frankreich und Spanien, nicht zu reden von den einstigen Bruderparteien in Ost- und in Südosteuropa. Jede KP gibt es inzwischen in mehreren Ausführungen, die eine Tatsache eint: Sie sind ohne Ausnahme bedeutungslos.
Die Gefahr der Bedeutungslosigkeit drohe auch hier. Es wäre eine Katastrophe für das Land wie für die europäische Linke, sagen alle vier. Man werde weiter mit Sahra reden. Miteinander und nicht über die Medien. Auch über die eigenen Fehler und Irrtümer. Etwa Mitregieren im Bund – numerisch und politisch unmöglich. Das hieße die imperialistische Staatsräson stützen, was man grundsätzlich ablehne.
Nun, die Systemfrage wurde an diesem Juli-Abend nicht gestellt, vielleicht wirkte der Nachhall auf den Beitrag von Gesine Lötzsch noch immer. Die damalige Parteivorsitzende war vor der Luxemburg-Konferenz 2011 um einen Beitrag gebeten. Darin kam das Gespensterwort vor: Kommunismus. Der CDU-Generalsekretär Gröhe verurteilte Lötzschs Äußerungen als „Schlag ins Gesicht aller Opfer dieser menschenverachtenden Ideologie“, der CSU-Generalsekretär Dobrindt verlangte die Observation der Partei durch den Verfassungsschutz, SPD-Fraktionschef Frank Walter Steinmeier rief die Führung der Linkspartei zu einer Klärung auf. „Ich fass mir an den Kopf. Gesine Lötzsch will zurück zum Kommunismus. Dorthin, wo wir Unfreiheit und Misswirtschaft 70 Jahre lang regieren sahen.“ Auch linke Politiker, deren Namen heute vergessen sind, attackierten seinerzeit Lötzsch ganz übel und verlangten offensichtlich Denkverbote. Also Vorsicht mit bestimmten Worten. Aber trotzdem back to the roots: „Wir sind die soziale Kraft, wir sind die Friedenspartei, wir vertreten ostdeutsche Interessen“, erklärte Bartsch. Genau. Kommunismus steht also nicht auf der Tagesordnung. Wohl aber mehr Realismus.
Das ist endlich mal eine klare Ansage. Wenngleich noch nicht die Rettung.
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