26. Jahrgang | Nummer 13 | 19. Juni 2023

Zeitenwende ausbuchstabiert

von Erhard Crome

Das Kieler Institut für Sicherheitspolitik (ISPK) will „Berlin“ „Handlungsempfehlungen zur Neuausrichtung der deutschen Sicherheitspolitik“ antragen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seit 2022 bedeute „ipso facto einen historischen Wendepunkt für die deutsche Sicherheitspolitik, welcher nicht nur Deutschlands Kurs gegenüber Russland maßgeblich verändern, sondern auch Deutschlands Rolle in der zukünftigen Sicherheitsordnung in Europa neu definieren“ werde.

Der Sammelband enthält 18 Beiträge von 22 Autoren. Je sechs sind einer Abteilung zugeordnet. In der ersten sollen Hintergründe und Motive für den russischen Krieg „aus geopolitischer und regionalpolitischer Perspektive untersucht“ werden. In der zweiten soll unter der Überschrift „Kriegsgeschehen und Entwicklungen“ eine „tiefgehende Analyse des russisch-ukrainischen Krieges vorgenommen werden“. Im dritten Abschnitt geht es um die „Zeitenwende für Deutschlands Sicherheitspolitik“.

Im Vorwort wird verkündet, die Untersuchung des russischen Angriffskrieges schließe ein, „Deutschlands Russlandpolitik seit 1990 systematisch auf[zu]arbeiten“ und „zeitnahe Korrekturen“ aufzuzeigen.

Die erste Abteilung beginnt mit einem Text zum „Ukraine-Krieg als Folge geopolitischer Rivalität“. Joris Van Bladel vom Königlichen Institut für Internationale Beziehungen in Brüssel betont, der 24. Februar 2022 sei „eine historische Zäsur“. Der Zeitraum zwischen dem Fall der Mauer in Berlin am 9. November 1989 und dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine müsse als Interregnum betrachtet werden; „ein angespanntes, konfrontatives Verhältnis“ zwischen Moskau und dem Westen sei „der Normalzustand“, die Jahrzehnte „guter Nachbarschaft“ dagegen waren „eine Ausnahme“.

Van Bladel nimmt eine zutreffende Entwicklungsbeschreibung vor. Russland betrachtet seit Beginn der 1990er Jahre eine Westorientierung der Ukraine als existenzielle Bedrohung und „rote Linie, wenn nicht sogar für einen Casus Belli“. Die NATO dagegen betrachtet die Entscheidung souveräner Staaten, der NATO beizutreten, als sakrosankt – verbunden mit der Selbstdarstellung, die NATO könne schon deshalb keine Bedrohung für Russland sein, da sie ein Verteidigungsbündnis sei. Der Autor zählt dann auf, weshalb das Misstrauen Russlands gegenüber dem Westen wuchs, von den Bombenangriffen auf Jugoslawien 1999 bis zu den Farb- beziehungsweise Blumenrevolutionen in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgistan (2005) sowie den vom Westen ermunterten innenpolitischen Protesten in Russland 2012, die aus Kreml-Sicht „Kriegshandlungen mit nichtmilitärischen Mitteln“ waren. So war der russische Einmarsch in die Ukraine 2022 „nicht der Beginn eines Konflikts zwischen benachbarten Staaten; er war nur die nächste Eskalationsstufe in einem latenten Konflikt, der mit der Unabhängigkeit der Ukraine“ 1991 begann.

Der zweite Text stammt von Jakob Wöllenstein, der ein Auslandsbüro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Vilnius leitet. Der Westen habe „die Signale und Fehlentwicklungen in Russlands aggressiver Außenpolitik und dem inneren Umbau zur Diktatur mit revanchistischer Ideologie“ nicht ernst genommen. Es gelte, entsprechende Schlüsse zu ziehen. Dabei gehe es nicht nur um „die eigene Resilienz und Sicherheit“. Wenn ein stabiler Frieden in Europa folgen solle, müsste nicht nur die Ukraine wiederaufgebaut und in die westlichen Organisationen integriert werden, sondern Russland müsse sich „tiefgreifend ändern“. Letztliches Kriegsziel ist folglich der Regime Change.

Susanne Spahn beschreibt Russlands Narrative im Ukraine-Krieg. Der Ukraine-Krieg sei die letzte Gegenattacke des Westens, um seine Hegemonie in der Welt zu verteidigen. Deshalb müsse Russland den Krieg gewinnen.

Olha Husieva vom ISPK beschreibt „Russlands außenpolitische Determinanten“ seit 1991. Dieses habe die Ideen des alten Russlands – in der zaristischen wie der sowjetischen Gestalt – nie hinter sich gelassen. Selbst in der höchsten Entspannungsphase habe Russland „auf seinem ‚natürlichen Recht‘ auf ein Groß(es) Russland beharrt“ und „die Agenda der Wiederherstellung des russischen imperialen Ruhms“ verfolgt.

Eine Interpretation der Minsker Abkommen präsentieren Hugo von Essen und Andreas Umland (Stockholm). Danach seien diese von Kiew nur unter „massivem russischen Druck“ unterzeichnet worden. Dieser „Diktatfrieden“ hätte durch den Westen nie akzeptiert werden dürfen.

Dem folgt ein Text des ISPK-Direktors Joachim Krause über die deutsche Ostpolitik bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine. Diese sei zu sehr auf Russland fixiert gewesen und habe die Beziehungen zu den anderen Staaten Ostmittel- und Osteuropas sowie die Bündnisbeziehungen vernachlässigt. Die letzten 23 Jahre der Ostpolitik stellten „das dunkelste und katastrophalste Kapitel der ansonsten durchaus lobenswerten Außenpolitik“ Deutschlands dar.

Die zweite Abteilung beginnt mit einem Text von Johanna Möhring (Bonn) zu Russlands Strategie in diesem Krieg. Er diene der „Wiederherstellung russischer Größe mit allen Mitteln“. Zugleich sei Russland nach dem Zerfall der europäischen Großreiche nach dem Ersten und dem Ende der europäischen Kolonialreiche in Übersee nach dem Zweiten Weltkrieg „ein politischer Anachronismus“. Die Beendigung der ukrainischen Staatlichkeit sei „Schlüssel russischer Großmachtpolitik“. Allerdings sei die russische Kriegsführung gescheitert, sie erfolge aber weiter „im Schatten des Atoms“. Die Konsequenzen eines Atomwaffeneinsatzes seien jedoch auch für Russland nur schwer berechenbar. Deshalb halte sie ihn für unwahrscheinlich.

Das Vorgehen Russlands beschreibt Oberst Markus Reisner von der Militärakademie in Wien. Der russische Kräfteansatz von 200.000 Mann im Februar 2022 sei von Anfang an zu gering gewesen. Die russischen Kräfte hätten sich dann jedoch auf die Taktik der ukrainischen Kräfte eingestellt.

Ein analoger Text, maßgeblich von Oberstleutnant der Reserve Oleksiy Melnyk (Kiew), beschreibt die Verteidigungsfähigkeiten der Ukraine. „Dass der Kreml 2014 die Operationen zur blitzschnellen Annexion der Halbinsel Krim und zur Etablierung separatistischer Einheiten in der Ostukraine erfolgreich durchführen konnte, lag weniger am hohen Kampfpotential der russischen Armee als an der Unfähigkeit der Ukraine, Widerstand zu leisten.“ Die Ukraine habe 1991 einen großen Teil des sowjetischen militärisch-industriellen Komplexes (MIK) geerbt, der bis 2014 eng mit dem russischen MIK verzahnt gewesen sei. Danach sei eine zielstrebige Entwicklung eigener Waffensysteme erfolgt, was zum Beispiel zur Versenkung des russischen Kreuzers Moskwa im Schwarzen Meer im April 2022 geführt habe.

Die dritte Abteilung enthält überwiegend politische Bekenntnisse, die hinter dem Niveau der vorhergehenden zurückbleiben. Es beginnt mit einem Beitrag des Grünen Tobias Lindner, der als Staatsminister Annalena Baerbock in ihrem Treiben zur Seite steht. Diesen Text haben die Herausgeber vorsichtig als „politischen Beitrag“ deklariert. Putin habe „alle Brücken zwischen Russland und der Europäischen Union (EU) sowie zwischen Russland und Deutschland mutwillig eingerissen“. Putin führe Krieg gegen die Ukraine, weil Kiew sich „nach Europa“ gewendet und „die Werte von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit“ übernommen habe. „Damit wurden die Entwicklungen in der Ukraine mit ihrer Strahlkraft in den letzten Jahren eine zunehmende Bedrohung für den Erhalt des autoritären Systems Putins.“ Es gehe aber „nicht nur um die Freiheit der Ukraine, sondern um die Werte ganz Europas“. Dafür kämpfe die Ukraine und dafür brauche sie „unsere volle Unterstützung“.

In weiteren Beiträgen wird verkündet, eine „inklusive und kooperative Sicherheitsordnung“ gemeinsam mit Moskau sei nicht mehr möglich, es gehe nur noch um „Sicherheit vor Russland“. Die europäischen NATO-Mitglieder sollten den Ukrainekrieg Russlands zum Anlass nehmen, über die Schaffung eines europäischen Pfeilers innerhalb der NATO Einvernehmen herzustellen. Der Ukrainekrieg werde viele Verlierer kennen. Ein Gewinner stehe jedoch bereits fest: die NATO.

Der Politikwissenschaftler und Oberstleutnant der Reserve der Bundeswehr, Maximilian Terhalle, Gastprofessor an der „London School of Economics and Political Science“ und Senior Fellow am ISPK, fordert eine enge Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Polen, um für den „Zweifrontenkrieg“ des Westens gegen Russland und China – den die USA allein nicht gewinnen könnten – planen zu können. Der Mann hatte bereits 2017 dafür plädiert: „Deutschland braucht Atomwaffen“ (siehe Blättchen 6/2019).

Den Reigen beschließt die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages, Marie-Agnes Strack-Zimmermann: „Wir brauchen wieder eine wehrfähige, voll ausgestattete Bundeswehr.“

 

Stefan Hansen/ Olha Husieva/ Kira Frankenthal (Hrsg.): Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zeitenwende für die deutsche Sicherheitspolitik, Nomos Verlag, Baden-Baden 2023, 368 Seiten, 79,00 Euro.