22. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2019

Nuklearer Nonsens

von Sarcasticus

Was tut man als deutscher Politologe, wenn man Anfang 2017 an der London School of Economics and Political Science zwar beruflich nicht unbedingt provinziell untergekommen, aber für die Öffentlichkeit hierzulande doch ein No-Name ist? Da gibt es zwei Möglichkeiten: Man findet sich wie Hekatomben von Kollegen, denen es ebenso geht, mehr oder weniger damit ab oder man schreibt sich eine besonders steile These aufs Panier und versucht sich damit ins mediale Orbit zu beamen.
Maximilian Terhalle, Jahrgang 1974, wählte den zweiten Weg: Als der Trouble mit Donald Trump in Sachen NATO und Bündnisverlässlichkeit Washingtons anschwoll, trat er via Tagesspiegel beherzt ins Rampenlicht. Unter der Überschrift „Nuklearwaffen gegen Russland“ plädierte er: „Sollte Trump seinen pro-russischen Kurs im Amt fortsetzen – und es sieht alles danach aus – wird die zentrale strategische Grundlage deutscher Sicherheitspolitik erschüttert: der Wegfall der konventionellen und nuklearen Abschreckung gegenüber Russland durch die NATO. Die Antwort […] für unsere nationale Sicherheit muss daher lauten: Deutschland braucht Atomwaffen.“ Da auch auf die Nuklearmächte Frankreich und Großbritannien im Zweifelsfalle kein Verlass sei, müsse Deutschland „für sich selber einstehen können. Das ist es seiner Bevölkerung schuldig.“
Die Rechnung ging auf: Im Medienhype um die Aussetzung des INF-Vertrages zuerst durch Washington, dann auch durch Moskau, war Terhalle auf Deutschlandfunk Kultur bereits als Experte gefragt, und er ließ an Klarheit nichts zu wünschen übrig: Kernwaffen müssten her, weil Deutschland gegen den worst case, die atomare Bedrohung durch Russland, „keine Garantie“ habe und „ohne eine tatsächliche Verteidigungsmöglichkeit (Hervorhebung – S.)“ dastehe. Die Bundesrepublik sei „damit also für jedermann, vor allem nach Osten hin gerichtet, erpressbar“. Quasi „Freiwild“ , so Terhalles eindrückliche Metapher.
Nun ist die Frage, wie man zu dauerhafter Sicherheit im Verhältnis zu einem potenziellen Kriegsgegner kommt, der über Kernwaffen verfügt, zweifelsohne eine essentielle, und man kann darüber streiten, ob oder inwieweit eigene Atomwaffen ein geeignetes Mittel dafür sein könnten oder gar sollten. Letzteres zu verneinen, gibt es gute Gründe, die im Blättchen wiederholt nachzulesen waren.
Hier soll es aber um ein anderes Problem gehen: Terhalle und andere Verkünder treffen bei den Medien heute immer wieder auf Redakteure und Interviewer, die kein Gespür (mehr) dafür haben oder denen schlicht die Kompetenz fehlt, jene Momente zu erkennen, in denen die Debatte in gefährlichen Nonsens umschlägt.
Ein solcher Moment tritt ein, sobald Atomwaffen und der Begriff Verteidigung in einen einander bedingenden, wenn man also will positiven Zusammenhang gebracht werden. Denn damit wird der Sachverhalt vernebelt, dass im Falle eines atomaren Angriffs Vernichtung stattfände. Und zwar – mindestens beim Kernwaffeneinsatz über städtischen Zentren – in einem Ausmaß, gegen das keinerlei Verteidigungsmöglichkeiten im einzig rationalen Sinne, nämlich schadensminimierender Abwehrmaßnahmen, vorhanden sind oder geschaffen werden können. Mit eigenen Kernwaffen kann man sich gegen einen solchen Angriff demzufolge nicht verteidigen. Man kann sich mit ihnen allenfalls ebenso barbarisch rächen.
Die dafür maßgeblichen Sachverhalte sind seit Hiroshima und Nagasaki bekannt, und die von der Atomenergiekommission der USA zusammengetragenen Untersuchungsergebnisse sind in der Bundesrepublik unter dem Titel „Die Wirkungen der Kernwaffen“ bereits 1960 veröffentlicht worden. Sie sind also zugänglich, wenn man sich dafür interessierte, statt mit Vokabeln wie „Freiwild“ um sich zu werfen.
Ein anderer Propagandist der nuklearen Bedrohung durch Russland und der Forderung, darauf „angemessen zu reagieren“, ist Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. Er warnt speziell vor der „Dislozierung von ballistischen Raketen des Typs Iskander in der russischen Exklave Kaliningrad […]. Mit ihnen wird Berlin direkt bedroht.“
Das stimmt nicht, wie aus folgenden Angaben von Otfried Nassauer, Chef des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS), gegenüber diesem Magazin hervorgeht: „Die ballistische Rakete vom Typ Iskander 9M723 hat eine Reichweite von lediglich 250 Kilometern – so die offizielle russische Angabe – und erreicht damit die US-Raketenabwehrstellung bei Slupsk in Polen. Nach US-Geheimdienstschätzung fliegt sie zwar 100 Kilometer weiter, erreicht aber damit auch keinesfalls die deutsche Grenze. Der Marschflugkörper R-500/9M728 auf Startgerät Iskander hat eine maximale Reichweite von beiderseitig behaupteten 490 Kilometern. Die Luftlinienentfernung von Kaliningrad Stadt bis Berlin Stadt beträgt knapp 540 Kilometer. Angenommen, das Startgerät stehe an der Grenze zu Litauen, käme der Flugkörper wohl etwa bis Bernau. Der Standort für Iskander in der Region Kaliningrad entsteht jedoch im ehemaligen Insterburg (heute Tschernjachowsk – S.), das deutlich östlich von Kaliningrad Stadt liegt, also noch weiter entfernt von der deutschen Grenze. Und das vermutlich in Sanierung befindliche Lager für die nuklearen Sprengköpfe liegt nordöstlich von Kaliningrad Stadt, also auch weiter weg.“
Aber man soll ja nicht päpstlicher sein als der Papst. Lassen wir Krause also gelten und fragen stattdessen: Was hätte Berlin mit 3,58 Millionen Einwohnern (2016) im Falles des Falles zu gewärtigen?
Anhaltspunkte dafür liefert eine 1984 vom Regionalbüro für Europa der Weltgesundheitsorganisation herausgegebene Studie mit dem Titel „Auswirkungen eines Atomkrieges auf die Gesundheit und das Gesundheitswesen“. Darin wird Bezug genommen auf eine Untersuchung der Arms Control and Disarmament Agency der USA von 1979, „in der Boston (mit – damals – 2.884.000 Einwohnern) im Staat Massachusetts als Beispiel gewählt wurde. Die Luftdetonation einer 1-Mt-Bombe über Boston würde auf der Stelle 700.000 Tote und ebenso viele Verletzte fordern, womit 50 Prozent der Bevölkerung sofort getötet oder verletzt wären. Wenn 50 Prozent der 5200 Ärzte in Boston überlebten, um die 700.000 Verletzten zu behandeln, so kann die absurde Berechnung angestellt werden, dass die Ärzte mehr als vier Tage bei einem 16-Stunden-Arbeitstag benötigen würden, um jedem Patienten 15 Minuten widmen zu können. Boston verfügt über rund 13.000 Krankenhausbetten, aber die liegen im städtischen Zielgebiet; von 48 vorhandenen Akutkrankenhäusern wären 38 zerstört oder schwer beschädigt, so dass für die Verletzten nur 2000 Betten übrigblieben. Die gesamte Infrastruktur, die zur Behandlung von Schwerverletzten erforderlich ist, wäre in Mitleidenschaft gezogen; Krankenschwestern, Blutkonserven, Antibiotika, Medikamente, die Wasser- und Elektrizitätsversorgung, das Fernsprechnetz, Heizungsanlagen und das Verkehrssystem. Das überlebende medizinische Personal hätte Schwierigkeiten, sich zu den Krankenhäusern durchzuschlagen – durch Straßen, die durch Fallout verstrahlt und durch Brände und Trümmer unpassierbar wären –, und die Rettungsarbeiten wären durch ähnliche Schwierigkeiten bei der Bergung und dem Transport der Verletzten behindert.“ Man könnte noch weiter ins Detail gehen und darauf verweisen, dass sehr viele Schwerletzte wegen ihrer schweren Strahlenschäden, großflächigen Verbrennungen und multiplen Brüche aufwendiger gerätemedizinischer Intensivbehandlungen bedürften, für die am Ort des Geschehens praktisch keinerlei Kapazitäten zur Verfügung ständen und selbst in einem hochentwickelten Industriestaat wie der Bundesrepublik auch nur völlig unzureichende.
Und wie kann man auf eine solche Gefahr, um mit Krause zu sprechen „angemessen […] reagieren“? Durch die Beschaffung eigener Kernwaffen oder die Verfügungsgewalt über diejenigen Dritter? Die Frage stellen, heißt sie beantworten: Die Gefahr würde, statt sich zu verringern, „bestenfalls“ verdoppelt.
Man kann sich natürlich, wie es derzeit unter Diskutanten der sicherheitspolitischen Community in der NATO praktisch flächendeckend geschieht, durch Ignoranz um die skizzierten Sachverhalte herummogeln und damit weiter die ebenso logische wie unabweisbare Feststellung ausblenden: Sicherheit vor der Atommacht Russland durch Abschreckung mittels Kernwaffen endet, wenn diese (gegenseitige) Abschreckung versagt. Dann findet thermonukleare Vernichtung statt, gegebenenfalls bis ans Ende einer möglichen Eskalationsskala.
Um diesen Fall zu vermeiden, sollte man, wie Wolfgang Schwarz in diesem Magazin formulierte, „mit Russland keinesfalls verfeindet, besser befreundet, noch besser verbündet sein, um jede Möglichkeit einer militärischen Auseinandersetzung schon vom Grundsatz her auszuschließen“.
Und das, jeden Krieg mit Russland grundsätzlich auszuschließen, ist Deutschland (respektive die Bundesregierung), um denn doch mit Terhalles Worten zu schließen, „seiner Bevölkerung schuldig“.